05. Mai 2015

Blaue Ersatzflüssigkeit in Großmutterköpfen.

Manchmal fällt mir nichts ein. Gott sei Dank bin ich nicht allein damit. Immer schon bewundere ich diejenigen, die nicht wissen, wie sie ihren Schreibfluss stoppen können. Ihr Kopf muss so voller wertvoller Gedanken sein, dass sie unentwegt schreiben müssen. Mit Leib und Seele drücken sie ihre Tastaturen und entleeren ihre Köpfe. Ich bin leider oft leer – im Kopf. Nichts drin, außer Gedankenkino in Dauerschleife. Der Mitteilung nicht wert.

Klar, das ist ein alter Hut. Wir Schreiber denken unentwegt über dieses Problem nach. Was ist es, das wir den Lesenden in spe sagen könnten, dürfen, gar müssen. Ich muss leider nichts. Manchmal denke ich sehnsüchtig an Max Goldt. Der kann sogar die blaue Ersatzflüssigkeit aus der Tampon-Werbung zu Gold machen. Oft will ich mich unbändig zwingen, es ihm gleichzutun. Was bedeuten würde: Ich denke an irgendetwas und schreibe irgendetwas. Zum Beispiel könnt ich – so werbemäßig – an Ferrero Küsschen denken. An diese jungen Leute, die sie sich schenken, wenn sie ansonsten nichts mit einander anfangen können – bei ihren spontanen Partys. Ok, ist nur Werbung. Ist das, was junge Werber sich vorstellen, wenn sie ans süße Leben denken. Blaue Ersatzflüssigkeit kann man nicht kaufen, aber Ferrero Küsschen. Die ja.

Oder ich denke an Boris Becker, der einstmals, als er noch nicht so aussah, wie er jetzt aussieht, staunend rief: Bin ich schon drin? Was etwas anzüglich klang. Damals warb er fürs Internet, in dem „Drinzusein“ was Tolles war. Ersatzflüssigkeit, Boris und der nämliche Internetanbieter sind längst entschwunden. Ach, denk ich an meine gestrige Zugfahrt! Ich wollte einen Krimi lesen. Leider geht das nicht mehr, wenn man keine Ohrenschützer dabei hat – in modernen Zügen. Alle reden durcheinander. Oft nicht miteinander. Zum Beispiel diese Frau gestern: Zunächst führte sie ein Gespräch mit ihrem Handy. Es ging darum, dass sie ihre kranke Mutter besucht hatte. Sie erzählte ausführlich einer imaginären Person und uns  – nicht Imaginären – von der Krankheit der Mutter, Schläuchen, Blut, Mut und „süßen“ Pflegern. Es klang sehr lieb, nur musste ich die Erzählung leider fünfmal hören. Nach dem ersten Gesprächspartner rief sie weitere an. Die Mutter-Besuch-Story variierte. Nach Anruf Nr. 3 hätte ich den Erzählpart übernehmen können, derweil der Krimi in meinem Schoß ungelesen herumlungerte. Umsonst.

Meine Augen wären zugefallen, hätte es nicht diese Gruppe Studenten gegeben, die, um mich gruppiert, Platz nahm. Alle schrieben Bewerbungen, über die sie sich lautstark austauschten. In ihre Laptops und Tablets. Immerhin sprachen sie kaum mit Handys. Ich finde, das ist ein Fortschritt, nachdem ich des Öfteren staunend in der U-Bahn nach Berlin-Friedrichshain als alte Dame ohne Smartphone in der Hand saß. Unter all den jungen Menschen, die in ihre Handys starrten, als gilt es das Leben. Wäre ein U-Bahn-Mord passiert, keiner dieser Smartphone-Bewohner hätte eine Zeugenaussage über die Mitfahrer machen können. Keiner sah nach rechts oder links. Nur nach vorn. Vorn ist das Handy-Licht.

Meine Zug-Studenten aber unterhielten sich über die Formeln ihres Baustudiums und über Dozenten, die sie nicht mochten. Untereinander. Sie saßen sich gegenüber und sie sangen laut ihre Lieblingshits und lobten gegenseitig ihre geistigen, körperlichen und anderen charmanten Vorzüge. Es ging ja um Bewerbungen.

Fast hätte ich glauben mögen, die alte Zeit bräche wieder an, hätten sie nicht von sich als „Studierende“ gesprochen, was bei mir immer wieder ein leichtes Sprach-Kotz-Gefühl erzeugt. Schwamm drüber. Sie nannten sich ja nur in ihren Bewerbungen „Studierende“, nicht in der Zugwirklichkeit. Ich dachte an „Damals“, als wir – noch als genderverschonte Studenten – Zug fuhren und uns – vermutlich ebenso lautstark – unterhielten. Ohne Handys, ohne Laptops. Nicht ahnend, was Generation 2.0 oder eine Energiesparlampe sein werden.

Nicht ahnend, dass wir alt werden. Ich stellte mir diese jungen schönen „Studierenden“ alt vor. Und überlegte, was sie dereinst an den ihnen nachfolgenden Generationen bedenklich finden könnten. Ich hatte auch Hoffnung. Als ich meine Reisetasche versuchte, aus dem Gepäckträger zu hieven, sprangen gleich drei junge Männer herbei und wollten unbedingt helfen. Später dachte ich ernüchtert: Oh, Du bist in deren Augen eine Großmutter! Das haben wir doch auch gemacht! Für Großmütter aufstehen, Großmüttern die Tasche tragen. Großmütter belächeln. Nur wussten wir nicht, dass die Großmütter uns auch belächelten. Manche Dinge ändern sich nicht. Das ist doch wunderbar. Und so beruhigend.

Foto: Ich – ca. 23 Jahre alt. Passbild. Rekonstruiert.


Lesen Sie auch