26. Mrz 2015

Das perfekte Mängelwesen. Ich.

Irgendwann sagte eine weise Freundin: Und Deine Eltern sitzen immer mit am Tisch. – Bedrohliches Szenario. Leider stimmt es. Sie sitzen nicht nur mit am Tisch. Sie schleichen sich in meine Träume. Sie sprechen durch mich. Liegen wie ein zäher Mehltau auf meinem Denken. Ab und an kann ich sie verscheuchen. Ab und an verhandle ich. Ab und an triumphieren sie noch. Vom Vater hab ich die Statur, vom Mütterchen keine Frohnatur. Vom Vater hab ich den Hang zum Perfektionismus. Von der Mutter auch. Ist es da ein Wunder, dass ich als permanentes Mängelwesen durch die Welt tappe? Dass ich Fingernägel kaue, dass ich bewegungsunfähig stundenlang herum grübele. Dass ich mich nicht aufraffen kann, wenigstens eine gute Köchin zu sein. Oder Bilder male – für die Nachwelt. Dass ich, wenn ich einen Auftrag bekomme, stets bis zum letzten Moment warte, um dann in harter Nachtarbeit die Frist nicht zu versäumen. Dass ich Fristen versäume. Dass ich Angst vor dem Briefkasten habe. Dass ich mich immer noch frage: Was kannst Du eigentlich wirklich? Warum bist Du nicht Ärztin oder Architektin geworden? Wie es der Vater wollte. Warum kennst Du die Muskeln nicht auf Latein? Und hast alle mathematischen Formeln vergessen. Warum bist Du nicht groß und blond? Und so dünn, wie Mama es wollte. Vom Vater hab ich die Statur. Und das schnelle Denken. Vom Mütterchen das hoffnungslose Basteln an weiblicher Raffinesse und den Optimismus, dass alles machbar ist. Den zähen Glauben an Romantik. Und den Hang, zu tief ins Glas zu schauen. Von beiden die Hoffnung auf eine wunderbare Welt, in der alle Menschen sich in den Armen liegen und glücklich sind. „Du kämpfst nicht!“ – warf mir meine Mutter noch in ihren späten Jahren vor. Das stimmt nicht, liebe Mutter. Ich kämpfe auf meine Art. Ich kämpfe um jeden Tag. Ich verdiene mein Geld selbst. Ich habe drei Kinder großgezogen. Nein, ich hab es nicht perfekt gemacht. Du leider auch nicht. Vielleicht habt Ihr Euch wiedergefunden. Da oben. Ihr naiven Glückssucher der Nachkriegszeit. Im Himmel soll alles leicht sein. Manchmal im Traum höre ich Eure Stimmen, die ich am Tag immer weniger erinnern kann. Manchmal verzeihe ich Euch. Manchmal auch mir. Ich bin schon lang erwachsen.

Foto: Spiegeleien – Ich.


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