09. Sep 2015

Wie ich zum ersten Mal prokrastinierte, aber noch nicht wusste, was das ist und damit die Einheitspartei entzückte und fiel – in bodenlose Peinlichkeit

Ich war 17. Hatte noch Träume und einen Freund. Ich ging noch zur Schule und die Partei – die einzige wahre sozialistische Einheitspartei der DaDaEr – hatte irgendeinen Geburtstag. In meiner Erweiterten Oberschule (Gymnasium) wurde ein großer Wettbewerb ausgerufen. Alle Schüler sollten nicht nur, alle mussten teilnehmen. Das Thema: „Der Geburtstag unserer Partei“. Ein runder. Schreibt einen Aufsatz, eine Reportage oder ein Gedicht. Ihr habt ein halbes Jahr Zeit. Dann ist Abgabe. Nicht mitmachen geht nicht.

Ach, ein halbes Jahr Zeit. Ich vergaß den Wettbewerb. Es gab ja so viel interessantere Dinge. Ich war verliebt. Ich belegte einen Schreibmaschinenkurs in der Volkshochschule. Ich schlenderte fast täglich mit meiner Freundin –  hin zur Marietta-Bar, dem Szenetreff der Stadt. Und weil ich mir – als Schülerin – so jung und dumm vorkam, stellte ich mich überall als Studentin vor. Der Sommer verging mit Motorradfahren und Strandherumliegen, mit Freund oder bester Freundin. Schule und Partei waren vergessen.

Herbst. Es kam der Tag, an dem unser Deutschlehrer sagte: „Morgen ist Abgabetermin“. – Wofür? – fragte ich. – „Na, Euer Wettbewerbsbeitrag zum Jahrestag der Partei. Ich nehme doch an, Ihr habt das über den Sommer erledigt.“ – Ich sagte nichts, ging nach Hause und überlegte, einen Aufsatz zu schreiben. Aber was und worüber?

Ich hätte erzählen können, wie meine Mutter eines Tages ihr „Dokument“ (den Parteiausweis) in der Küche suchte und darüber schier wahnsinnig wurde. Mit hochrotem Gesicht und wirren Haaren alle Schubladen aufriss und immerzu schrie: „Wo ist mein Dokument? Wo ist mein Dokument?“- Ich fragte sie, ob man ihr nicht einfach ein neues ausstellen könne. Was sie verneinte. „Das gibt ein Parteiverfahren! Da kann ich ausgeschlossen werden! Man darf sein Parteidokument nicht verlieren!“ – „Findest Du diese Partei nicht etwas grausam, liebe Mutter, wenn sie eine normal menschliche Verfehlung, nämlich etwas zu vergessen oder nicht wieder zu finden, so hart bestraft?“

Ich wusste, dass ein Ausschluss aus der geliebten Partei für sie einem Todesurteil und republiklebenslänglicher Acht gleichkam. „Wie kannst Du so etwas sagen! Diese Partei ist alles für mich! Sie ist mein Leben! – Mmh, ich hätte mir ja gewünscht, dass vielleicht meine Schwester und ich oder mein Vater ihr Leben gewesen wären. Doch es war die Partei. Später noch mehr, als zu dieser Zeit. Oder hatte ich das nur erstmalig bemerkt?

Nun ja. Die Partei war etwas sehr Wichtiges in diesem Land. So viel hatte ich schon kapiert. Nun sollte ich ein Loblied singen. Dieses Mutter-Erlebnis konnte ich natürlich nicht in Aufsatzform gießen. Dann wäre ich vielleicht von der Schule geflogen. Es gab läppischere Anlässe dafür. Also saß ich an diesem Abend und schaute erst einmal in die Glotze, selbstverständlich Ost-Fernsehen, etwas anderes erlaubte meine Mutter nicht, dann telefonierte ich mit meiner Freundin und erfuhr, dass sie schon längst ihren Aufsatz fertig hatte.

Der Abend verging und ich fragte meine Mutter: „Könntest Du mir einen Aufsatz über die Partei schreiben?“ „Elisabeth, Du wirst das doch wohl allein können und wenn es ein Gedicht ist!“ – Ein Gedicht! Das war es. Ich schrieb ein Gedicht. Es dauerte fünf Minuten. Einen Schmachtfetzen, der mir zwar ein bisschen peinlich war, aber was soll’s. Abgeben. Und durch.

Leider erfuhr ich zwei Wochen später, dass ich den Wettbewerb mit meinem Schnellschuss gewonnen hatte. Sieg und Fall – in bodenlose Verwirrtheit. Ich gewann also mit dem Verzweiflungsprodukt meiner Faulheit einen Wettbewerb, an dem ungefähr 700 bis 800 Schüler teilgenommen hatten. Man, das war so abgrundtief peinlich. Partei war doch uncool! (Würde ich heute sagen)

Das Schlimmste stand mir noch bevor. Eine Art Feierstunde, in der die ersten drei Plätze ausgezeichnet wurden und mein „Gedicht“ von einem total unsexy-braven Schüler mit einer braunen Strickjacke vorgetragen wurde. Und es kam schlimmer: Mein Gedicht mit meinem Foto wurde in der größten Zeitung – der Bezirkszeitung – abgedruckt. Also, da es nun jeder wusste, konnte ich nicht mehr zu meinem Schreibmaschinenkurs, für eine Weile nicht mehr in die geliebte Marietta-Bar, den Szenetreff, denn die wussten ja jetzt, dass ich erst in der 11. Klasse war und Schmachtgedichte auf die Partei schrieb. Bis heute kann ich die obere Zahlenreihe nicht blind schreiben. Mein „Preis“ für meine erste Leistung nach überlanger Prokrastination war ein Kugelschreiberset.


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