Mode, Diäten und so – Teil 2

Zieh doch mal den Bauch ein. Sagte mein Vater. Da war ich 13. Mach doch mal eine Diät. Sagte meine Mutter. Da war ich vierzehn. Damals tauschte sie sich per Brief immer mit ihrer Schwester aus – über die neuesten Abnehmstrategien. Die wohnte in Berlin und wusste Bescheid – über Wodka- und Bockwurstdiät, über Punkte-Diät und Kohlsuppenwochen. Ja, das gab es alles schon in der DDR. Man glaubt es kaum. Denken doch heute manche, dass wir eventuell nicht genug zu essen hatten. Stimmt nicht, wir hatten genug. Nur keine so große Auswahl.

Spätestens seit den sechziger Jahren begannen auch die DDR-Frauen, zunehmend dick zu werden. Die Lebensmittelmarken der Nachkriegszeit waren abgeschafft und man und frau aßen nach Herzenslust. Auch meine Mutter hatte in dieser Zeit wahrscheinlich ihr höchstes Gewicht. Dann aber ging es abwärts. Ich habe selten eine Frau kennengelernt, die so besessen vom Dünn-Sein war, wie meine Mutter. Tja, das färbt ab. Oder erzeugt das Gegenteil. Zwischen diesen Polen bewege ich mich. Immer noch.

Fett macht dick. Kuchen und Schokolade machen dick. Brot macht dick. Wasser macht dick. Butter macht dick. Kartoffelsalat macht dick. Dieses Leben macht einfach dick. So in etwa lauteten die Glaubenssätze neben moralischen Fingerzeigen, die mir die Mama einimpfte. Manche behaupten ihre Stellung noch heute in meinem Kopf. Oder wo sie auch hausen. Unvergessen ist die Zeremonie, mit der meine Mutter jedes Stück des von ihr heißgeliebten Kuchens aß. „Ach nein, Kuchen macht dick! Ich esse heute keinen.“ Zehn Minuten später: „Na gut, die Hälfte!“ Sie schnitt das Kuchenstück in der Mitte durch. Nach einer weiteren Viertelstunde: „Ach, ich nehme noch eine Hälfte!“ Sie schnitt die Hälfte in zwei Hälften. Und nahm eine davon. Dazwischen immer Laberlaberlaber. „Ach was soll’s, ich schneid‘ das nochmal durch!“ – Sie schnitt das verbliebene Bisschen noch einmal durch. Tja, am Ende dann schob sie auch den letzten Rest in ihren Mund. Und weg war er, der Kuchen. Unter Schmerzen gegessen. Die Strafe dafür war hart. 200 Gramm.

Sie stand unentwegt auf der Waage. Täglich mehrmals. „Warum müsst Ihr so dick sein!“ sagte sie vor ein paar Jahren zu mir. Und meinte mich und meine Schwester. „Vielleicht hättest Du Dir einen anderen Vater für Deine Kinder aussuchen sollen.“ Ich weiß nicht mehr, was sie antwortete, auf jeden Fall war sie beleidigt. Als sie nach dem Tod meines Vaters einen neuen Mann kennenlernte, ging die Abnehmorgie richtig los. Unvorsichtigerweise hatte der Neue ihr gestanden, dass er schmalhüftige Frauen liebe. Diese kommen aber in unserer Familie nicht vor. Doch meine Mutter, die alles, was sie einmal begann, obsessiv zu Ende führte, nahm den Kampf auf. Schmalhüftigkeit – das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen!

Und sie schaffte es und errang kurz vor Ende ihres Lebens die heißersehnte Größe 36. „Ich hab die 36“. – Das sagte sie passend oder unpassend wie ein Mantra in jegliches Gespräch hinein, egal, worum es ging. Bauch weg. Hüften weg. Busen weg. Und dann mit knapp 80 bei H&M einkaufen gehen. Ich kann mich erinnern, als ich sie zu dieser Zeit besuchte, dass sie ein braunes elastisches Schlauchkleid trug, in dem sie tatsächlich wie ein umwickelter Besenstiehl aussah. „Na! Bin ich nicht schlank!“ – rief sie jedes Mal und drehte sich glücklich im Kreis. “ Ja, Mama, Du bist wirklich superschlank.“ Das größte Kompliment, das man ihr machen konnte. Das zweitgrößte: „Du siehst zwanzig Jahre jünger aus!“ Am besten beide auf einmal. Das machte sie seliger, als alles andere auf der Welt.

Als sie dann vergaß, wer ich bin, und am Ende gar, wer sie selber war, als sie vergaß, was 36 ist und dass jemand in ihrem Leben mal Schmalhüftige bevorzugte, als sie all das vergaß, hat sie für den Rest ihres Lebens nochmal so richtig „reingehauen“. Und schaffte es tatsächlich wieder hoch – zur Kleidergröße 44. Erst in dieser Zeit begriff ich, wie sehr sie Schokolade geliebt hat. Ja, sie war eine ganz Süße. Ich überschüttete sie bei allen Besuchen mit Pralinenschachteln. Und sie riss sie auf, als gilt es das Leben. Essen ist der Sex des Alters. Ist was dran!

Foto: Meine Mutter in der Blüte ihres Lebens. Ca. 38 Jahre alt.

Mode, Diäten und so

„Ich lese das immer, was Du da schreibst, auch wenn ich nichts kommentiere.“ Sagte kürzlich eine Freundin, die ich ein paar Jahre nicht gesehen hatte. „Was meinst Du denn? Was schreibe ich?“ – „Na, da im Internet schreibst Du doch immer so Zeug über Mode, Diäten und so.“

Aha. So kommt das also an? Klingt erst einmal niederschmetternd. Wollte ich über „Mode, Diäten und so“ schreiben? Eigentlich nicht! Eigentlich sagt es, vielleicht doch! Ich, die Mode- und Diätenkolumnistin? Eine Frauenzeitschrift kaufe mich ein! Ich lieferte jede Woche einen knackigen Beitrag, obwohl ich doch – eigentlich – über das Leben an sich, die Liebe, Politik und das große Ganze schreiben wollte. Wollte ich das? Mal scharf nachdenken. Doch, ich will schon, aber ich kann nicht. Der Rechercheaufwand ist mir zu groß. Die Angriffsfläche ebenfalls. Schuster bleib bei deinen Leisten, sagte meine Oma immer. Und ich überlegte jahrelang, was Leisten sind. An Schuhen.

Ich bleib bei meinen Leisten. Mode ist es nicht, liebste Freundin. Davon hatte ich noch nie viel Ahnung. Für Mode fehlt mir der entsprechende Body, wie das heute heißt. Mode für Mollige mag ich schon gar nicht. Eine meiner Schwiegermütter riet mir eines Tages, ich solle in einem Geschäft, das „Dick, aber schick“ heißt, meine nächste Hose kaufen. Da blieb mir der Mund offen und ich dachte an die nächste Diät. Und dass diese Schwiegermutter doch eine niederträchtige Schlange ist.

Niemals beträte ich freiwillig einen Laden, der „Dick, aber schick“ heißt. „Du musst zu Dir stehen! Nimm Dich an! Sei die, die Du bist!“ – säuseln meine esoterischen Freundinnen. Leider verriet mir keine, wie das geht. Sei mutig und entscheide: Nimmst Du die „Ku’damm-Boutique“ oder „Dick, aber schick“! – Natürlich die Ku’damm-Boutique, die ich schüchtern betrete und betreten die fünf Kleidungsstücke auf der ersten Stange ein wenig verschiebe.

Dann tritt mir eine große Blonde entgegen, schützt ihre Stange vor mir und sagt: „In Ihrer Größe haben wir nichts!“ – „Ich suche etwas für meine Nichte…, stammele ich. „Das sagen sie alle!“ – hat sie natürlich nicht gesagt, aber gedacht. Schnell fliehe ich in einen heißen Ku’damm-Nachmittag. Hinaus, hinaus! Ich überlege fieberhaft, ob ich doch mal einen Blick in „Dick, aber schick“ werfe. Vielleicht sind dort Verkäuferinnen, die meine Problemzonen mit Verständnis dezent verhüllen.

„Dick, aber schick“ beginnt mit 42. Eine Größe, die früher nicht im Dicken-Bereich angesiedelt war. Heute zieht ihr Besitz bereits die Exerzitien der Fitnesscenter nach sich, sollte frau nach dem Überschreiten von 36 bis 40 in der Zahl 42 nicht die Weltformel erkennen, sondern eben ein Problem. Dick, aber schick. Ab Größe 42. Aha.

Die blonde Verkäuferin, die vermutlich ihre Gewänder nicht im eigenen Laden kauft, taxiert mich. „Was suchen Sie denn?“ – „Ach, nichts Bestimmtes…“ – Ich stütze meine zitternden Arme an einer Hosenstange und denke: Schwarz! Schwarz macht schlank. – „Das Vollweib trägt Farbe!“- lese ich an der Wand. Die Hosen sind eine Regenbogenkaskade. Lila, gelbe, grüne, blaue, rote, rosa Hosen. Dazu Größe… ach, ich denk sie mir nur. Und wanke mit einer Grünblauen in die Umkleidekabine.

Sollte ich dereinst eine Boutique mein eigen nennen, werde ich all mein Kapital in eine Umkleidekabine investieren. Sie sei groß, nicht zu hell, mit bräunlichen Spiegeln, die schmeicheln, sie sei kühl und mit leiser Musik ausgestattet. Kein Schwitzen, kein lila Wasser-Leichen-Licht. Keine Enge. Kein Mord am letzten Rest des Frauen-Selbstbewusstseins! – Doch hier – bei „Dick, aber schick“ ist dieser Ort des Opfergangs in eine mittlere Depression noch vom alten Schlag. Ich ziehe die Hose über das rechte Bein und lass es sein. Vielleicht doch wieder eine Diät? Noch nicht einmal dafür hab ich Rezepte. „Du schreibst doch da über „Mode, Diäten und so“? – Ich muss nochmal nachdenken. Fortsetzung folgt.

Foto: „Ich halte Dich. Gott.“ Aufgenommen auf der Autobahn.