Als mir Helmut Schmidt seinen Mantel hinwarf…

…war ich Garderobiere – im  Hotel „Merkur“ in Leipzig. Es hatte schon seinen Grund, dass dieses Devisenhotel in den Achtzigern „Merkur“ hieß. Die Japaner hatten es gebaut. Trutzig, mit für meinen Geschmack viel zu kleinen Fenstern, erhob es sich in der Nähe des Hauptbahnhofes und weckte die Sehnsüchte der Leipziger.

Als Peter und ich beschlossen, die DDR zu verlassen, löste er die Band auf. Ich überlegte, wie ich am besten Geld verdienen könnte. Und zwar viel, um eine fünfköpfige Familie allein über einen längeren Zeitraum zu ernähren. Die „Bearbeitung“ eines Ausreiseantrags konnte Jahre dauern. Ich bewarb mich im Hotel „Merkur“ für den Dienst an der Garderobe. Von einem Insider hatte ich gehört, dass es dort viel Trinkgeld geben sollte. Außerdem dachte ich, wenn wir den Ausreiseantrag stellen, würde ich DIESEN Job nicht verlieren. Es gab nur noch einen „darunter“. Das war der Klofrauen-Job. Und da – hieß es – sollte es noch mehr Kohle geben.

Also nur zu. Ich arbeitete im Vier-Schicht-System und stand an allen Garderoben des Hotels. Es war eine andere Welt. Die Welt des Geldes. Schnell war ich Bestandteil dieser Welt. Geldscheffeln, was das Zeug hält! Am besten Westgeld. Das wir offiziell abgeben mussten. Es wurde uns nicht weggenommen, sondern in sogenannte Forum-Schecks für die staatlichen Intershop-Läden zwangsumgetauscht. All unser Bestreben hieß: Trinkgeld. Trinkgeld. Trinkgeld. Noch heute gebe ich reichlich Trinkgeld, weil ich weiß, wie es ist, auf der „anderen Seite“ zu stehen. Wir Garderobenfrauen waren in der Hotel-Hierarchie ganz hinten. Doch lachten wir darüber. Wir wussten: Wir verdienen mehr, als all die Büroangestellten, mehr, als die an der Rezeption, mehr, als die Kellner, vielleicht sogar mehr, als der Hoteldirektor.

An uns kam kaum einer vorbei, neben dem Mäntel-Aufhängen verkauften wir die begehrten Karten für die Nachtbar, Zigaretten, Zigarren, Schokolade und allerlei anderen Kram. Wir konnten das Gekaufte sogar in Plastiktüten (DDR-Sprache: Plastetüten) stecken, die mit einem Hotellogo bedruckt waren. Was zumindest die Ostler super fanden. Wir kassierten West- oder Ostgeld – und Trinkgeld. Wir hatten unsere Systeme, wie wir Westgeld nicht abgaben, sondern – trotz Taschenkontrollen – unbemerkt aus dem Hotel schafften.

Es war eine Herausforderung. Das ständige Ans-Geld-Denken veränderte mein Bewusstsein erheblich. Ich wurde Bestandteil einer verschworenen Gemeinschaft von West-Geld-Abzockern, bis ich die Notbremse zog. 1987 kündigte ich den Job. Peter gründete eine neue Band und übernahm wieder das Geldverdienen. Heute denke ich, das war der Job in meinem Leben, bei dem ich am meisten lernte. Zum Beispiel über Geld, Macht und Betrug an den eigenen Idealen. Ideale, die bisweilen fragwürdig waren. Zum Beispiel, dass Geld per se schlecht ist. Natürlich war und ist Geld in allen Systemen eine Energie mit enorm prägenden Effekten. Es macht sogar glücklich. Je nachdem, wie viel man hat, muss man sich zu dieser Energie verhalten.

Was ich noch lernte? Dass es in der DDR Hotelprostitution gab, an der der DDR-Staat ganz unverhohlen mit verdiente. Wie überhaupt die DDR als Staat sich mit dieser Art Hotellerie in vielerlei Hinsicht prostituierte. Ich lernte, wie man das System austricksen konnte. Und erlebte die Angst, aber auch den Kick dabei. Ich lernte auch, dass frau für richtig viel Trinkgeld besser blond sein musste. Und ich lernte täglich, wie es ist, in einer (Hotel)Uniform nicht als Individuum wahrgenommen zu werden. Zum Beispiel, als mir Helmut Schmidt – wie fast alle anderen auch – achtlos seinen Mantel hinwarf… ich wiederum staunte, dass Herr Schmidt gar nicht so groß war, wie ich bis zu diesem Tag dachte. Ich meine natürlich – in Zentimetern.

Du hast die Haare schön – Haariges zum Sonntag.

 „Herren-Bärte sind nicht nur sexy sondern auch modern. Der Trend geht wieder zu mehr Haar am Männerkörper und damit sind auch Herren- Bärte wieder gefragt. Und eines steht außer Frage, Herren-Bärte wirken erotisch auf die meisten Frauen.“ – lese ich in der Zeitschrift „Men’s Health“. – Aha. Der „gepflegte Drei-Tage-Bart“ ist Nummer 1 der Damen-Hitliste. Bart ist allerdings beim Küssen nicht so beliebt. Muss ich nicht erklären, warum.

Es gibt auch die Masochistinnen, die es so richtig haarig-hart mögen. Neun Prozent. Was Frauen gar nicht mögen, sind „ausgefallene“ Bärte. Vor allem das, was sich auf der männlichen Oberlippe tummelt. Und Ziegenbärtchen. Klingt ja auch blöd. So blöd wie Rotzbremse. Immerhin zwei Prozent glauben oder wissen, dass diese Kreationen ihr Herz höher schlagen lassen. Total Glattrasierte mögen zwanzig Prozent. Soweit so Bart.

Damenbart kann sich nur Conchita Wurst leisten. Die anderen zupfen. Mit zunehmendem Alter kann das zur Manie werden. Frau hat mindestens eine Pinzette, denn ein kleidsamer Conchita-Wurst-Bart wird das niemals werden. Nur spärliche harte Haare. Früher hießen die Hexenhaare. Und damit waren keine verführerischen Conchita-Wurst-Hexen gemeint. Sondern böse alte Zeig-Mir-Deinen-Finger-Hänsel-Hexen.

Fakt ist,  der Bart ist ein sekundäres Geschlechtsmerkmal – für Männer. Rasieren sie ihn glatt weg, ist es eine Modererscheinung oder – Hygiene. Hygiene, wenn sie Nudeln und andere Lebensreste darin nicht beherrschen. In meiner Jugendzeit war ein langer Jesus- oder Hippiebart total „in“, anti und revolutionär nach einer sehr langen glatten Zeit. War Affront gegen die Spießer-Eltern. Dann verschwand er, wurde in den Achtzigern zum Teilrelikt, in den Neunzigern zur Strichcode-Botschaft und in den Nullern irgendwie egal. Jetzt also wieder Bart. Jetzt auch Damenbart im Abendkleid. Begeisterte Anhänger und selbstverständlich auch Anhängerinnen im Bart-Vollrausch. Weitere politisch korrekte Möglichkeiten spare ich mir mit einem beherzten Anhängx.

Ich schwinge derweil wie besessen die Pinzette. Für jedes erwischte Haar ein triumphierendes „Ja“! Spaß? Ja! – macht es. Haare überhaupt. Hauptsache Haar. Ich stelle fest:  Haar als Hauptsache oder Haupthaar ist ungerecht verteilt.  Während die Geschlechter angeblich in Auflösung sind, löse ich das Haarproblem. Lass es einfach fallen. Bart ab. Pferdeschwanz hoch. Hoch lebe die Vielfalt der Einfalt. Ich lege mir „Hair“ ein und singe lauthals „Aquarius“ mit. Junges schönes langes Haar. Zu allen Zeiten der Ausdruck von Sexualität und – Macht. Warum rasierte man früher Rekruten, Strafgefangene oder Frauen, die zum Schafott gefahren wurden? Verordnete verheirateten Frauen – die Haube? Trugen orthodoxe jüdische Frauen auf ihren kahlgeschorenen Köpfen Perücken? Tragen Muslimas Kopftücher auf ihrer wundervollen lockigen Haarpracht?

Der Ausdrucks-Kampf mit Haaren und  Macht geht ungebrochen weiter. Die Machtlosen in der westlichen Konsumwelt merken es nicht und machen begeistert mit. Rasieren sich selbst. Am besten – überall. Außer auf dem Kopf. – Dabei sind die im Moment nicht so beliebten Kopftücher eine praktische Sache: Für Bad-Hair-Days – wie das heute heißt. Grace Kelly oder Audrey Hepburn trugen sie auch – und dazu die Sonnenbrille – für die Bad-Hair-and-Bad-Eyes-Days.

Seichtes Wagnis Waage.

„Ich möchte seicht sein“. Hab ich bei Elfriede Jelinek geklaut. Ist also ein geadeltes Bonmot. Natürlich ist sie niemals seicht. Es verträgt sich nicht mit ihrem Nobel-Ruf. Ich aber kann so seicht sein, wie mir meist ist. Und mich sogar mit einer Waage unterhalten. Oder mit mir selbst reden – über all das Frauengedöns. Mit mir selbst SEIN – natürlich im Unreinen.

Ich frag mich zum Beispiel: Warum bin ich nicht längst vegan? Wie alle. Sollte ich Yoga zelebrieren? Wie alle? Warum jogge ich nicht? Schwitze nicht in eisernen Fitness-Greifarmen? Warum bin ich keine „Nichtesserin“? Sich als eine solche auszugeben, empfahl einst die Zeitschrift „Brigitte“ ihren Leserinnen für abendliche Einladungen. Keine Nicht-Trinkerin. Keine Nicht-Raucherin. Reden ist noch nicht ganz verboten. Schreiben auch nicht. Also schreibrede ich. JETZT.

Jetzt ist die Stunde der Wahrheit. Ein seichter Anflug – auf die Waage: „Schau mal, hier stehe ich. Vor deinem Angesicht. Und will tapferen Blickes deinen Ausschlag ertragen. Ihn geradezu studieren! Mir Gedanken machen. Ja, ich muss. Muss ich? Soll ich es wagen? Wag ich es? Oder wag ich es nicht? Schau ich dir in die Augen? Betrete ich dein Refugium? Da stehst Du. Höhnisch. Unbestechlich wie Elfriede Jelinek. Und ich? Schlug wieder all die guten Ratschläge in den Wind. Ich hab mich einfach nicht im Griff. Oft weiß ich nicht, was ich tu‘. Dir aber ist nichts so fremd wie – Vergebung. ABTRETEN! – Büßen!  – Ich heb‘ ein Bein. Könnte dieser Tisch mir eine Stütze sein, damit du nicht merkst, wie sehr ich meinen Todfeinden zugetan war? Fett. Zucker. Alkohol. ICH. RUF. DICH. AN. WIEGE. MICH! Verzeih, dass ich all die Erzeuger ungeliebten Fett-Gewebes in mich hineinstopfte. Im Übermaß natürlich. Vielleicht mach’ ich es wie die drei Affen. Die aus Indien. Schließe die Augen. Mund zu und nur ganz leicht die Oberlippe spitzen. Ohren?

Egal. Du sprichst nicht. Gottseidank. Es gibt ja andere, die mit perfider Stimme mahnen: Sie haben seit Ihrem letzten Auftritt 678 Gramm zugenommen! Du nicht. Du sprichst nicht. Ich blinzele. Vielleicht bist du ja doch …milde… Bist du nicht. Das Urteil ist gefällt: Ich war zügellos. Nun hab ich‘s. Nicht erleichtert, geprüft und für schlecht befunden. ICH HASSE DICH. WIE DU MICH. Vielleicht schaff’ ich dich ab. Du gehörst auf den Fischmarkt, widerliches Miststück, Du! Seelenlose Zahlenfetischistin! Ich mach mich nicht von Zahlenmystik abhängig! Ich doch nicht! (Haben herrschsüchtige Männer konstruiert, flüstert Elfriede) – Ich pack dich und schmeiß dich aus dem Fenster.“ So. – Eine Woche später kaufe ich mir eine neue. Mit Körperfettanzeige. Und der sexy Stimme von Elfriede Jelinek.

Schwarze Kniestrümpfe, Silastik-Rollkragenpullover, hellblaue Jeans – und dazu verliebt

Es war nicht alles schlecht. Die „Prinzen“ haben es gesungen. Und sie meinten – damals in der DDR. Ja stimmt, wir hatten uns irgendwie alle lieb. Was kein Wunder ist, wenn man gemeinsam nach allen Richtungen an seine Grenzen stößt. Aber darüber dachten wir nicht Tag und Nacht nach. Wir hatten andere Probleme. Zum Beispiel Klamotten. Es war ein Graus, was da so hing, in den Läden der staatlichen Handelsorganisation (HO) oder des genossenschaftlichen KONSUMs, den wir auf der ersten Silbe betonten.

Wir waren jung und mit unserer Selbstdarstellung beschäftigt. Es gab die mit der Westverwandtschaft. Die brauchten nur bestellen. Dann kamen die Pakete. Sie waren die Glücklichen und die Totschicken. Sie gaben den Ton an und wir – nicht mit Westverwandten Gesegneten – hechelten hinterher. Gut hatten es auch die mit Omas, die schneidern konnten. Oder die, die selbst nähten, falls sie eine Nähmaschine hatten. Auch Nähmaschinen gab’s nicht einfach so. Ich erinnere mich, dass ich in der Beatles-Hochphase – ja, wir haben das mitbekommen – unbedingt schwarze Kniestrümpfe wollte. Es gab aber nur bunte – ganz scheußlich – oder für sonntags die Weißen. Die habe ich schwarz gefärbt. Dann wurden lange weiße Strümpfe Mode. Die Nachbarstocher, immer in Westklamotten, trug sie. Woher weiße Strümpfe nehmen? Ich kaufte mir OP-Strümpfe in einem Reform-Sanitäts-Laden. Später färbte ich Strümpfe rot. Und lief wie ein Storch herum. Dazu ein weißer minikurzer Trenchcoat, ich weiß nicht mehr, wo der her war, und eine weiße Baskenmütze, aus der vorn nur eine einzige Locke lugte. Ich trug Lederschlipse von meinem Vater. Schlaghosen, die wir aus engen Hosen schneiderten, indem wir sie an der Seite aufschnitten und ein anderes Stück Stoff einsetzten. Und einen dunkelblauen Silastik-Rollkragenpullover, den meine Oma aus dem Westen mitgebracht hatte.

Von diesem Silastik-Rollkragenpullover, ja so hieß das damals, war ich so fasziniert, dass ich ihn nicht mehr ausziehen wollte. Auch nicht, als ich mit meinem ersten Freund bei 35 Grad im Schatten spazieren ging. Ich schwitzte mich halbtot. War aber unfassbar begeistert von dieser Kunstfaser: Ein Pullover – so dünn, wie ein Paar Strümpfe! Mit Rollkragen. Herrlich! Das war Westen! – Irgendwann machten die Exquisit-Läden auf, in denen alles fünfmal teurer war. Ein Kleid für ein mittleres Monatsgehalt. Und ein Paar Stiefel für 365.- Ost-Mark. Soviel verdiente eine Buchhändlerin im Monat. Ich weiß das, weil ich später als Buchhändlerin gearbeitet habe. Als ich diese Stiefel sah, ich war 16, hab ich drei Wochen in den Ferien dafür geschuftet, um sie mir kaufen zu können.

Dazu ein karminroter Mantel, den eine Schneiderin nach meinen Wünschen genäht hatte. Tailliert und mit Pelerine. Ich kam mir vor, als sei ich der Modezeitschrift „Sibylle“ entstiegen, die in der DDR die Nummer Eins neben der „Pramo“ (Pra-ktische Mo-de und langweilig) war. Sechsmal im Jahr erschien sie und ihre wunderschönen Models, die  noch Mannequins hießen, erweckten unseren Neid. Sie trugen Klamotten, die es nirgendwo zu kaufen gab. Ich erinnere mich an meinen ersten Hosenanzug, auch von einer Schneiderin genäht, aus Pepitastoff. Das Foto dazu hatte ich aus der „Sibylle“ ausgeschnitten und in die Schneiderei getragen. So einen will ich! Meine entnervte Mutter bezahlte das. Weil sie mich wenigstens in dieser Beziehung verstehen konnte.

Stundenlang phantasierte ich gemeinsam mit meiner besten Freundin Christina auf einer Parkbank, was wir zur bevorstehenden Jugendweihe anziehen würden. Wir waren vierzehn und gertenschlank. Wir hätten alles tragen können. Am Ende trugen wir, was da war. Ich ein rosa Kostüm mit dunkelblauer Bluse. Aus dem „Exquisit“. Sah fast aus wie von Jacky Kennedy. Immerhin.

Die erste Jeans borgte ich mir von meinem Freund, sie war hellblau und ich fühlte mich, als sei ich von der anderen Seite der Grenze mal kurz rüber gehüpft. Jeans überhaupt. Die waren keine Hosen. Die waren eine Lebenseinstellung. Die mit einer Hose demonstrierte Vorstellung eines Traums. Und sind es bis zum Ende der DDR geblieben. Heute sehe ich mir meine Enkelin Anna an. Sie ist genauso verrückt nach Klamotten, wie ich es damals war. Mit großen Glubschaugen überredet sie mich zu stetem Kauf – genauso, wie ich damals meine Mutter überredete. Natürlich ist die Auswahl heute unendlich groß. Ich beneide Anna und bin ein wenig wehmütig. Wäre ich noch einmal so jung und so schön… Und doch – seltsamerweise denke ich gern an diese, unsere Zeit, damals in der DDR. Es war nicht alles schlecht. Ich war jung. Ich war verliebt. Alles andere war dann doch nur Nebensache.

Übrigens: Das Café „Sibylle“ – benannt nach der Modezeitschrift „Sibylle“ – gibt’s seit 1962 und auch heute noch in Berlin, in der Karl-Marx-Allee.

Foto: Ich mit Zöpfen.

Das Leben der Uhrenkoffer-Anderen

Soeben tauchte bei einem großen Internethändler ungefragt ein Uhrenkoffer auf,  aus den Tiefen der Angebote sprang er mir ins Auge. Hübsch sah er aus. Bis dato wusste ich nichts von der Existenz dieses Aufbewahrungskleinods. Ich sollte über Uhrenkoffer nachdenken. Wer hat einen Uhrenkoffer?

Ich würde fast um mein Leben wetten: In meinem Familien- und Freundeskreis keiner. Bei denen, die mir in Arbeitszusammenhängen über den Weg laufen, bin ich mir nicht ganz sicher. Warum hat dieses Utensil menschlicher Sammelleidenschaft und vornehmen Luxus bisher an keiner Stelle mein Leben gekreuzt? Nun gut, jetzt hab ich den Uhrenkoffer in meinen Gedanken. Edel und gediegen. Solide und zeitlos.  Vielleicht wie sein Besitzer. Der hat auch ansonsten „alles“, würde meine Oma sagen.

Morgens nach einer Dusche in seinem Designerbad schreitet er zu seinem Designerkleiderschrank, zieht sich seinen Designeranzug an und setzt sich an seinen Designerküchentresen, um seinen – ja welchen – Kaffee zu trinken. Er wird weitere wichtige Dinge tun, vielleicht seine Mails checken und eine Scheibe Toast mit englischer Marmelade, die auch einen speziellen Namen hat, verzehren. Ja, verzehren. Das passt.

Noch ein Blick ins Handy und zwei in den Uhrenkoffer. Fünfzig Uhren. Für welche wird er sich heute entscheiden? Ich zähle die Marken nicht auf,  natürlich sind es Marken, die sich drinnen aneinander reihen. Fünfzig Uhren. Da braucht es den Uhrenkoffer. Wenn der Uhrenkofferbesitzer jeden Tag eine andere „anlegt“, vergehen beinahe zwei Monate, um das Reservoir auszuschöpfen.

Ich stelle mir vor, wie er sich einen zweiten Uhrenkoffer kauft und vielleicht noch einen dritten. Uhrenkoffer – ich hab gegoogelt – gibt es in so großer Zahl und in X-Varianten, dass mir schwindelt. Ich möchte einen Uhrenkofferbesitzer kennenlernen. Ein bisschen mit ihm über das Leben fachsimpeln. Vielleicht kann ich von so einem Uhrenkofferliebhaber etwas lernen. Leider wird das nicht passieren. Es scheint da eine Grenze zu sein, die ich niemals überschritt, überschreite und überschreiten werde.

Dort, jenseits des Uhrenkoffer-Äquators, wohnen sie. In ihren Uhrenkofferbesitzerschlössern. Ihr Leben ist ausgefüllt bis aufs letzte Uhrenkästchen. Wahrscheinlich haben sie schon als Kind gewusst, dass sie dereinst einen Uhrenkoffer besitzen werden. Das ist es. Ich könnte jetzt säuseln, dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Und bin dennoch untröstlich.