Das perfekte Mängelwesen. Ich.

Irgendwann sagte eine weise Freundin: Und Deine Eltern sitzen immer mit am Tisch. – Bedrohliches Szenario. Leider stimmt es. Sie sitzen nicht nur mit am Tisch. Sie schleichen sich in meine Träume. Sie sprechen durch mich. Liegen wie ein zäher Mehltau auf meinem Denken. Ab und an kann ich sie verscheuchen. Ab und an verhandle ich. Ab und an triumphieren sie noch. Vom Vater hab ich die Statur, vom Mütterchen keine Frohnatur. Vom Vater hab ich den Hang zum Perfektionismus. Von der Mutter auch. Ist es da ein Wunder, dass ich als permanentes Mängelwesen durch die Welt tappe? Dass ich Fingernägel kaue, dass ich bewegungsunfähig stundenlang herum grübele. Dass ich mich nicht aufraffen kann, wenigstens eine gute Köchin zu sein. Oder Bilder male – für die Nachwelt. Dass ich, wenn ich einen Auftrag bekomme, stets bis zum letzten Moment warte, um dann in harter Nachtarbeit die Frist nicht zu versäumen. Dass ich Fristen versäume. Dass ich Angst vor dem Briefkasten habe. Dass ich mich immer noch frage: Was kannst Du eigentlich wirklich? Warum bist Du nicht Ärztin oder Architektin geworden? Wie es der Vater wollte. Warum kennst Du die Muskeln nicht auf Latein? Und hast alle mathematischen Formeln vergessen. Warum bist Du nicht groß und blond? Und so dünn, wie Mama es wollte. Vom Vater hab ich die Statur. Und das schnelle Denken. Vom Mütterchen das hoffnungslose Basteln an weiblicher Raffinesse und den Optimismus, dass alles machbar ist. Den zähen Glauben an Romantik. Und den Hang, zu tief ins Glas zu schauen. Von beiden die Hoffnung auf eine wunderbare Welt, in der alle Menschen sich in den Armen liegen und glücklich sind. „Du kämpfst nicht!“ – warf mir meine Mutter noch in ihren späten Jahren vor. Das stimmt nicht, liebe Mutter. Ich kämpfe auf meine Art. Ich kämpfe um jeden Tag. Ich verdiene mein Geld selbst. Ich habe drei Kinder großgezogen. Nein, ich hab es nicht perfekt gemacht. Du leider auch nicht. Vielleicht habt Ihr Euch wiedergefunden. Da oben. Ihr naiven Glückssucher der Nachkriegszeit. Im Himmel soll alles leicht sein. Manchmal im Traum höre ich Eure Stimmen, die ich am Tag immer weniger erinnern kann. Manchmal verzeihe ich Euch. Manchmal auch mir. Ich bin schon lang erwachsen.

Foto: Spiegeleien – Ich.

Rocky rockt mein Unbewusstes.

Fahre ich Auto, kann es passieren, dass ich anhalten muss. Panikattacke. Relikt aus den Nuller-Jahren des neuen Jahrtausends. Ich hatte sie nicht nur im Auto, sondern überall. Jetzt nur noch im Auto. Jetzt selten. Jetzt fast gar nicht mehr. Aber heute. Heute fuhr ich meinen üblichen Weg zur Arbeit und hörte im Radio Frank Farians „Rocky“ von 1976. Von dem Farian, der so bekannte und skandalträchtige Gruppen wie Boney M. und Milli Vanilli gegründet hat. Und ab und an auch selbst sang. Zum Beispiel dieses „Rocky“.

Als ich es zum ersten Mal hörte, dachte ich, dass so etwas doch niemand ernst meinen könne. Was für ein Kitsch! Heute weiß ich: Es ist ernst gemeint. Heute bin ich milder. Ich kannte schon einige Leute, die bei „Rocky“ Tränen in den Augen hatten. Es ist so ähnlich wie bei Jonny Hills „Ruf Teddybär Eins-Vier“. Man könnte diese, auf ein paar Lebensweisheiten reduzierten Schlager Augen-Feuchtmacher wider Willen nennen. Vernunft oder Intelligenz haben keine Chance. Da werden irgendwelche archaischen Gefühle heraufgelockt. Umso älter ich werde, umso mehr. – Heute also „Rocky“. „Rocky“ im Autoradio. Ich musste ans Sterben denken. Kommt ja vor – in „Rocky“. Ich dachte wehmütig an all die Dinge, die schon vorbei sind und an das, was noch kommen mag. Wird es, wenn schon Überraschungen, auch ein paar gute geben? Werde ich es schaffen, aus dem Hamsterrad auszusteigen? Was mach ich, wenn ich alt bin? Werde ich überhaupt alt?

Mich erfasste eine Welle von Schmerz, ein taubes Gefühl im Kopf, die Hände zitterten und ich dachte, wie so oft, ich könne das Lenkrad nicht mehr halten. Panik. Durch „Rocky“?? Das kann nicht sein! Was ist aus Dir geworden, dass Du Dir von Frank Farian Gefühle diktieren lässt? Eine sentimentale Kuh? Ich hielt mein Lenkrad und dachte an die dunklen Mächte in mir. Die gnadenlos Erinnerungen hochholen und nicht fragen, ob ich sie will. Gibt es einen Ausweg? Klar. War doch nur eine Stimme und eine Stimmung. Radio aus. Weiterfahren.

Mein neues Leben.

Hier muss ein erster Satz stehen. Dann geht alles, wie von allein. Mein erster Satz ist heute nicht der da, sondern dieser: Klarheit ist der neue Rausch. Las ich heute bei einer Facebook-Freundin. Ich kann es nicht bestätigen. Klar ist es wunderbar, klar zu sein.

Nüchtern und dazu – mit relativ leerem Magen – Kräutertee und Trampolin. Dem harten Leben ohne mit der Wimper zu zucken ins Auge blicken. Klarsehen. Klardenken. Klarhandeln. Was für eine Aussicht! All die guten Dinge aus dem Bilderbuch des wohlfeilen Lebens fliegen mir zu. Ab und an eine Zigarette. Die gönne ich mir. Ok, ich denke darüber nach, auch die ins abgelegte Lotterleben abzuschieben. Ja. Da steh ich. Bereit zu neuen Taten.

Was könnte ich tun? Mir fällt nichts ein. Zu Partys kann ich nicht, weil es mich zum Weintrinken animiert. Schön essen gehen kann ich nicht, weil ich nicht auch noch vegan werden will und alle anderen gastronomischen Verlockungen nicht meinen rigiden Essensregeln entsprechen. Kein Fett. Kein Zucker. Kein Sonstwas.

Ins Kino gehen? Bedeutet Popcorn und Sekt. Da gibts auch Cola? Zum Klarbleiben? Zu viel Zucker. Ins Theater! Ich sehe zu klar, um Theater im nicht-beschwipsten Zustand zu ertragen. Bücher lesen. Das geht und das tu ich. Ich lese meine Regale leer. Und kann doch keinen klaren Gedanken fassen. Ich frage mich: Ist das das Leben, das Du Dir vorgestellt hast?

MEIN NEUES LEBEN. Irgendwie nicht. Verreisen, das wäre es! Was dort für Gefahren lauern? Die gleichen, wie hier. Du musst Dein Leben ändern! – Hab ich doch grad. Klarheit ist der neue Rausch. Ein Rausch der Sinne ist es nicht. Ein verkopfter Rausch. Ein verrauschter Kopf. Rauschschmiss! Ich taumele klaren Blickes ins Ungewisse.

Foto: Ich – 2014.