Traumfamilien Teil 1 – Explosionen, Hustensaft, Eier und ein ausgepumpter Magen

Frühe Erinnerungen. Meine Oma und ich spielen die Hauptrollen. Meine Oma und ich sitzen vor dem großen Kachelofen. Sie zeigt mir, wie man den heizt. Erklärt und erklärt und hält ein Streichholz in der Hand, schaut nicht mehr auf die Hand, sondern mir ins Gesicht, erklärt und plötzlich schießt ein Feuerpfeil mit lautem Knall nach oben. Die Streichholzschachtel explodiert, weil Oma sie angezündet hat. Sie ist ganz schwarz im Gesicht. Ich renne flugs in die Küche, stelle einen Stuhl an den Küchenschrank, hangele mich hoch und hole eine Flasche heraus, die ich kenne. Laufe zurück: „Hier Oma, nimm schnell ein bisschen Hustensaft!“ – Hustensaft, denke ich, hilft gegen alles.

Szene 2: Oma fragt, was ich essen will. Ich sage: „Ein Ei“. Sie: „Ein gekochtes oder ein gebratenes?“ Ich: „Ein gekochtes.“ Als es fertig ist, merke ich, dass ich genau das nicht wollte. Ich schleiche mich in die Toilette und versuche, das Ei hinunterzuspülen. Es gelingt mir nicht, das Ei schwimmt hartnäckig oben. Plötzlich steht Oma hinter mir. Ich fühle mich ertappt. (Später hat sie erzählt, dass sie das Ei gern selbst gegessen hätte, aber für mich aufgehoben hat. Es gab damals noch Lebensmittelmarken)

Szene 3. Ich bin krank. Und sitze mit Oma in einem Krankenhaus. Ich habe seit Tagen nichts gegessen. Es heißt, ich hätte Gelbsucht. Die Oma spricht mit einem Arzt, während ich mich in den Flur schleiche. Da sitzt eine dicke Bäuerin. Um sie herum eine große Kinderschar. Also muss ich auch dorthin und schauen, was es gibt. Die Bauersfrau hat einen Riesensack, aus dem sie mit Schmalz bestrichene Brötchen herausholt und an die Kinder verteilt. Ich nehme mir auch eins und esse es auf. Der Rest ist eine Nebelerinnerung: Oma sieht, dass ich das Brötchen gegessen habe. Ruft die Ärzte. Mehrere Weißkittel zerren mich in einen Raum, auf einen OP-Tisch, stecken mir Schläuche in den Mund, ganz tief hinein. Pumpen mir den Magen aus. – Seltsam, dass mein bisher vierjähriges Leben sich nur zwischen meiner Oma und mir abspielt. Der Opa ist gestorben, als ich ein Jahr alt war.

Die Eltern, meine Mutter, mein Vater, sind nicht vorhanden. Sie studieren – irgendwo. Ich wohne mit Oma in Leipzig in der Straße der Befreiung. In einer großen Stadtvilla, die nur wenige Wohnungen hat. Die Wohnungen sind sehr groß und für mich als kleines Kind undurchschaubar. Nebenan wohnt eine Frau mit ihrer Tochter. Die Tochter ist schon etwas älter als ich. Es heißt, dass diese Frau eine Kriegerwitwe sei. Ich weiß nicht, was das ist, aber die Kriegerwitwe sieht wunderschön aus. Schöner als meine Oma. Vermutlich ist sie jünger. Sie hat ein Eisbärfell. Oder besser: Bei ihr liegt ein Eisbär mit richtigem Kopf vor einem Kamin, in dem ein Feuer brennt. Ich liebe diesen Kamin, sitze stundenlang auf dem Fell und träume. Ich liebe den Eisbär, obwohl ich weiß, dass er tot ist. Die Liebe zum Eisbärfell soll mich ein Leben lang begleiten. Wenn ich mir später Situationen imaginiere, in denen ich mich wohl fühle, liege ich immer auf diesem Eisbärfell. Wahlweise allein, später mit Liebhaber und Rotweinglas. Der Traum ist immer noch in mir. Dafür hat mich ein anderer Traum gottseidank verlassen. Jahrelang träumte ich, dass ich an den Spitzen eines schmiedeeisernen Zaunes hängenbleibe und in die Tiefe stürze. Ein Albtraum, den ich mir nicht erklären konnte. Als ich vor ein paar Jahren das Haus in der Straße der Befreiung in Leipzig, die jetzt anders heißt, besuchte, sah ich meinen Zaun. Und wusste nun, dass es ihn wirklich gibt. Ab sofort träumte ich den Zauntraum nicht mehr.

Der Eisbär ist geblieben, auch die Kriegerwitwe, die ich mir zur Mutter gewünscht hätte. Und ihr wundervolles Rhabarberkompott, das sie aus den Tiefen eines silbernen Gefäßes schöpfte. Sie hatte auch andere Geheimverstecke, in denen ich nach Schokolade aus dem Westen suchen durfte. Zum ersten Mal wünschte ich mir, zu einer anderen Familie zu gehören. Ich wollte Kriegerwitwenkind sein. Mit Kamin und Eisbärfell und anderen Geheimnissen. – Dann sind wir aus Leipzig weggezogen. Meine Eltern waren plötzlich jeden Tag da. Sie hatten fertig studiert und arbeiteten in ihrem ersten Job. Ich ging in den Kindergarten. Meine Oma und mein Vater hassten sich und stritten jeden Tag. „Wie konnte sie nur diesen dahergelaufenen Kommunisten heiraten!“- klagte Oma gern und meinte ihre Tochter. Später hat meine Großmutter uns – und ganz besonders mich – verlassen und zog zurück in ihre alte Heimat. Für mich ging eine Kinderzeit voller Großmutterglück zu Ende. Das wusste ich damals noch nicht. Die neue Zeit mit Mama und Papa war selbstverständlich auch aufregend.

Foto: Mein Großmutter 1929 in Brasilien