Irmgard Düren schlägt die Beine übereinander und ich probiere das auch!

Wenn ich mir reihenweise Netflix-Serien reinziehe, plagt mich mein Gewissen. Du darfst nicht immer sitzen, sagt auf YouTube der ewige Roland Liebscher-Bracht. Du darfst nicht sitzen! Die Muskeln rosten und dann musst Du schmerzhaft Faszien dehnen und dehnen und dehnen. Also sitze ich auf dem Cocktail-Stuhl von Rolf Benz und mach Kniebeugen irgendwie. Rechtes Knie über den Oberschenkel des linken Beines, was nicht geht oder nur kurz. Macht nix, dann linkes Bein über rechten Oberschenkel und rechts und links und rechts und links. Nur einmal kurz tippen, so im Sitzen. Das sah ich auf einer App für Omas, die machen Stuhlyoga als niedlicher Zeichentrick. Legen ein Bein aufs andere und schauen mich triumphierend an. Das soll in drei Monaten zehn Kilo schlanker machen!

Dann mal ich mir aus, ob es mich glücklich machen würde und denke an glückliche Kindertage, in denen ich die legendäre Irmgard Düren im DDR-Fernsehen sah. Irmgard Düren moderierte die wunderbare Samstagnachmittag-Sendung „Rendezvous am Wochenend“ im Wechsel mit Professor Wolfgang Ulrich, dem Zoodirektor aus Dresden, der damals fast berühmter als der Berliner Tierparkdirektor Professor Heinrich Dathe war. Beide – Irmgard und Wolfgang – hätten ein ungemein passendes Paar sein können. Waren sie aber nicht. Dabei waren sie sich so ähnlich: Beide dünn, beide lange schlanke Beine, die sie – in der Manier des beginnenden Fernsehzeitalters – vornehm übereinander schlugen. Bei Irmgard Düren sah das umwerfend aus, weil das eine Bein gerade von vorn zu sehen war und das darüber geschlagene kerzengerade daneben stand. Schuhspitzen nach vorn. Zwei Beine, die sich zurückhaltend selbständig gemacht hatten und über Stunden ihre Frau standen. Nebeneinander. In der nächsten Woche war Professor Wolfgang Ulrich aus Dresden dran und er tat es genauso. Nur eben mit Hosen.

Ich als so ca. Elfjährige dachte mir, dass man im Fernsehen so sitzt und dazu Vergnügliches aus Natur und Gesellschaft – und im Falle von Professor Ulrich auch dem Zoo berichtet. Und nun – wenn ich wilde Serien bei Netflix schaue, im Moment ist es „Better than Us“, englischer Titel, aber russische Serie, in der Menschen mit Bots zusammenleben, die in der hochentwickeltsten Form einen eigenen Willen haben, und von rebellischen Jugendlichen, die sich „Liquidatoren“ nennen, bekämpft werden – mach ich Oma-Yoga und träume von zwei langen Beinen, die ich vor mir aufstellen kann, als wären es Zwillinge, Zwillinge, die mitschauen, wie Bots und die Menschen um ihre Daseinsberechtigung kämpfen. Vom Bot träumen, von langen Beinen träumen. Und die Träume wahr machen.

Weiter im Text, der heute nostalgisch ist. Denn ich denke oft an die Zeiten des bescheidenen Fernsehprogramms der kleinen DDR. Denke an die wunderschönen Fernseh-Ansagerinnen, denen ich keine Ausscheidungsfunktionen zuordnen mochte und meinen Vater fragte, ob die auch mal… ja, die müssen das auch. Das kann nicht sein! So schön, so engelsgleich wie die sind! Zum Beispiel Doris Weikow, die kam erst später, aber sie war lange Zeit die Allerschönste, weil sie gleichzeitig eine Schauspielerin war und das DDR-Schneewittchen gespielt hatte. In diesem Farbfilm betete ich Doris Weikow an! Sie war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und hatte ebenholzschwarze Haare. Die sie in Wirklichkeit nicht hatte, aber das erfuhr ich erst später, als sie dann eben das abendliche Fernsehprogramm ansagte. Wenn ich den Film „Schneewittchen“ heute ansehe, und fürwahr, das tue ich tatsächlich ab und an, und wenn es mit Anna, meiner 25jährigen Enkelin ist, verbandele ich mich innerlich eher mit der bösen Königin, die ich damals in meinen zarten Kinderzeiten alt und hässlich fand. Heute wunderschön. Viel schöner als das biedere Schneewittchen.

Überhaupt DDR-Märchenfilme. Ich habe mich immer vor diesen Scherenschnittfilmen gefürchtet, die heute als Kunst gelten. Es gibt sie nicht mehr. Wahrscheinlich wirklich nur als Kunst. Aber wer will schon Kunst-Märchen-Filme ansehen. Vor dem Scherenschnitt-Rumpelstilzchen bin ich unters Bett gekrochen – vor Angst. Es war so böse. Das im DDR-Farbfilm dagegen so lieb. So lieb, dass es sogar eingesehen hat, dass die Königin ihm ihr Kind nicht geben will und kann. Es hat ganz lieb geguckt. Wir hatten uns alle lieb. Und waren lieb, wie die kleinen russischen Zeichentrick-Puppen, die immer von den bösen Holzpuppen bedroht wurden. Die Holzpuppen waren stärker und schneller und irgendwie auch weiter. Aber die kleinen lieben Püppchen haben letztlich doch immer gewonnen. Oder „Der Moorhund“, ein Kinderspionagefilm, der im Testprogramm am Nachmittag oder bei Professor Flimmrich lief. Der Moorhund! Heute kennen den nur noch ganz wenige. Ich habe damals nicht verstanden, worum es ging. Irgendwie um die Grenze zum Westen. Einer, der sich als „ein Guter“ ausgab, war am Ende der Böse. Es war Horst Kube, falls noch jemand weiß, wen ich meine.

Ich merke, ich bin alt, weil das alles Dinge sind, die junge Leute nicht mehr verstehen. Wer war Horst Kube und wer Irmgard Düren? Es wird mein kleines Geheimnis. Auch die Knie von Irmgard Düren, die sie so akribisch-akrobatisch verschränkte und die Schönheit von Doris Weikow. Das abgrundtief Böse eines Horst Kube. Sie ruhen in mir und werden mit mir in die Ewigkeit der Erinnerungen eingehen. Ich mache jetzt noch ein paar Oma-Liebscher-Faszien-Yoga-Knieübungen und dann wieder russische Bots! Das Leben ist schön.

Foto: Ich bei meiner Oma auf dem Sofa. Da gab es nur Radio oder – Kino.

Die Nora vom anderen Stern – zum heutigen Geburtstag meiner Mutter

Ich habe überlegt, wie sollte zum 93. Geburtstag meiner Mutter – schriebe ich etwas über sie – die Überschrift lauten? Die Nora vom anderen Stern. Das fiel mir sofort ein. Warum? Die Nora, eigentlich Eleonora, wurde in Rio de Janeiro geboren. 1930 an einem 5. September. In einem damals hochmodernen Gebärstuhl. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie so eine Geburt vor sich ging, aber ich weiß es von meiner Großmutter, die dieses Kind zur Welt brachte. Es war vermutlich sehr heiß, der Zuckerhut war nicht weit, diese Eleonora, das A am Ende des Namens war gängiger in Brasilien für ein Mädchen, also diese Nora, wie sie später hieß, bekam als Geburtsort Rio. Geboren in der Stadt des Januarflusses. Rio de Janeiro. Ich habe noch schöne Schwarz-Weiß-Fotos. Auch vom großen Jesus, der über all dem wachte.

Die Nora wuchs dann doch im deutschen Erzgebirge auf. Gemeinsam mit der fast gleichaltrigen Schwester Elisabeth, nach der ich benannt wurde. Die Elisabeth. Wir müssen sie erwähnen, weil sie für die Nora Zeit ihres Lebens eine Konkurrenz war. Elisabeth galt als die Schönere, die Klügere, die Durchsetzungsfähigere, die, die keine Brille brauchte. Meine Mutter erzählte ab und an, dass sie ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und Tante Manni belauschte, in dem Tante Manni zu meiner Großmutter sagte: „Die Eleonora kann der Elisabeth doch nicht das Wasser reichen!“ – Aus diesem, möglicherweise nur so dahingeworfenen, für meine Mutter aber folgenschweren Satz hat sich die Nora ihre Lebensformel gebastelt. Ihre Gewinnformel, wie das bisweilen Coaches nennen. Sie lautete: Du musst besser, in allem viel besser sein, als die Elisabeth! Schöner, klüger, und später ganz besonders auch schlanker, als diese vermaledeite Elisabeth! Dennoch, die Schwestern waren wie Zwillinge und liebten sich selbstverständlich, wie Schwestern sich eben lieben. Verlässlich und immer – auf der Lauer. Wie unter Brüdern – ich kenne das von meinen Söhnen – gibt es auch unter Schwestern – ich kenne das von mir selbst – leider – Konkurrenz. Erst will man den Eltern etwas beweisen und später der ganzen Welt. Die bedingungslose, selbstlose, innige Geschwisterliebe ist stets unterbrochen von kurzen Hassanfällen, weil kein Geschwisterkind sich der Liebe der Eltern so richtig sicher sein kann, so sicher, wie ein Einzelkind. Geschwister müssen teilen. Alles teilen. Das übt fürs Leben. Aber es ist hart.

Elisabeth und Eleonora. Sie trugen große Namen und hatten Großes vor. Sie machten Abitur und kurz bevor sie die Prüfungen ablegen sollten, ließen sie sich vom neuen Sozialismus in der frisch gegründeten DDR überzeugen und traten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, bei. Dies trug ihnen ein, dass sie vom Vater, dem Friedrich, meinem Großvater, von der Oberschule/Gymnasium abgemeldet wurden. Sie blieben standhaft und er meldete sie wieder an. Enterbte sie aber. Für immer. Die Geldgeschichte. Sie verliert sich im Dunkel von Westdeutschland und beim Onkel Otto, der das Geld forthin verwaltete, so dass Elisabeth und Eleonora eben nichts erbten. Was den frischgebackenen Sozialistinnen selbstverständlich egal war. Wir lassen uns nicht mit Geld locken! Wir bauen hier in unserer DDR einen neuen Staat auf, in dem es später – wenn es dann einen Kommunismus bei uns gibt – ohnehin kein Geld mehr geben wird. Also hinfort damit! Wir studieren, meine Mutter Journalistik, meine Tante Elisabeth Ökonomie! Wir verdienen unser Geld – sofern wir noch welches brauchen – selbst! Es lebe der Sozialismus und der Aufbau unseres Landes! Jawohl! Beide heirateten. Beide hatten sehr nette Männer, die diesen sehr dominanten Frauen ein weiches Bett boten. Beide hatten zwei Kinder. Und sie bauten den Sozialismus auf. Meine Mutter als Journalistin. Meine Tante Elisabeth in leitenden Stellen in Berliner Großbetrieben und später Ministerien. Elisabeth war immer noch ein bisschen mehr vorn. Sie wohnte in Berlin. Meine Mutter nicht. Elisabeth verdiente mehr Geld. Und sie fuhr Auto. Außerdem rauchte sie. Meine Mutter niemals. Dafür trank sie. Aber das ist ein extra Kapitel. Immerhin war die Nora – als dann die fetten Jahre kamen – schlanker, sie befolgte die regelmäßig per Brief eintreffenden Diät-Rezepte von Elisabeth. Elisabeth gelang das nicht so gut und dauerhaft.

So bin ich dann groß geworden. Vollgetankt mit kommunistischen Idealen und später auch mit Schlankrezepten. Bis ich marxistisch-leninistische Philosophie in Leipzig studierte und immerhin dadurch so viel Denken lernte, dass ich der reinen Lehre, wie sie meine Mutter vertrat, abschwor, aus dem heiligen Zirkel der Sozialisten austrat und fürderhin mit meiner Mutter nie mehr einig werden konnte. Wir stritten uns regelmäßig, solange sie noch bei Sinnen war.

Die Nora war vom anderen Stern. Sie hielt am Ideal fest, egal, was passierte. Sie schwärmte gegen Ende der DDR von Gorbatschow, das war die einzige Untreue – gegenüber dem Honecker in diesem Fall. Später war der „Gregor“ ihr Liebling. Und die Linke ihr Lebensinhalt.

Als sie im vorgerückten Alter leider ihre Erinnerungen verlor, dachte ich, die Linke würde das Letzte sein, was ihre gelöschte Festplatte im Hirn doch ab und an aufscheinen ließe. Und lange Zeit war das auch so. Sie las das „Neue Deutschland“ bis zum Schluss, wenn sie es auch nicht mehr wirklich verstand. Sie schaute ab und an sogar die Tagesschau. Politik war ja früher mal ihr Leben. Aber es gab ja noch dieses Schwester-Konkurrenz-Leben. Schöner und schlanker. Und so siegte letztlich – nach vielen Jahren der Magersucht – ich bin viel schlanker, als meine Schwester! – der Lippenstift. Das letzte, was sie von mir wollte, dass ich es ihr mitbringe, war ein schöner Lippenstift. Und ich tat es gern. Denn:  Was ist der Sozialismus gegen einen schimmernden Perlmuttstick. Nicht viel. Stimmts?

Foto: Mein Großvater Friedrich, genannt Fritz, mit meiner Mutter Eleonora und ihrer Schwester Elisabeth