Als wir staatenlos waren und von Ost nach West wechselten – im Gepäck drei Kinder und drei Koffer und sonst nichts.

Nein, ich freu mich nicht! Ich möchte nicht schon wieder Geburtstag haben. Zumal mal wieder einen mit der Null. Es zählt sich so über die Jahre dahin. Früher, ja früher, da war das noch was. Wie ersehnte ich den 10. herbei. Endlich zwei Zahlen! Wie fieberte ich dem 14. entgegen. Endlich ein Personalausweis, mit dem ich in Erwachsenenfilme gehen konnte, mit meinem Freund! Wir küssten uns zwar nur und es wäre egal gewesen, was da vorn auf der Leinwand läuft. Aber so ein Personalausweis in der DDR, das war etwas vollkommen anderes als heute! Es war der AUSWEIS.

Wir vergötterten dieses blaue Ding und verglichen die Fotos und die Geburtsstädte. Ich hatte Leipzig. Nicht so toll. Meine Mutter hatte ja Rio de Janeiro. Mein Vater Lichtenstein. Dem ich gern ein „ie“ verpasst hätte, denn ohne das „ie“ war es leider nur ein Kaff in Sachsen.

Der Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik. Man musste ihn ständig bei sich tragen. So stand es drin. Und wehe, wenn man kontrolliert wurde, und das geschah in jungen Jahren oft, und man hatte ihn nicht dabei! Der Blaue war ein kleines Büchlein mit vielen Seiten, falls man mal ins Ausland wollte. Für die Stempel. Manche hatten sogar welche drin. Möglich waren nur Ungarn, Sowjetunion (auf Einladung und mit Visum), Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien. Unsere sozialistischen Bruderländer. In den Achtzigern hatten manche einen Stempel aus der Bundesrepublik Deutschland. Besuche bei großen Familienfeiern oder aber privilegierte Künstlerreisen waren vermehrt möglich.

Natürlich nicht für mich. Außer Polen und Tschechei nichts gewesen. Ich wollte ihn los sein, den Blauen. Und ich wurde ihn los. Und tauschte ihn gegen Staatenlosigkeit. Entlassen aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Für 48 Stunden. Mein Mann Peter und ich kämpften uns mit drei Kindern und drei Koffern durch die engen Kontrollgänge des „Tränenpalastes“ in der Friedrichsstraße in Berlin. Meine Freundin Anne brachte uns nach Berlin – mit dem Lada. Sie rief noch: „In 25 Jahren werde ich 60 – dann komm ich Euch besuchen!“ Dann bogen wir um eine Ecke. Die Grenzer schauten finster und kontrollierten unsere Koffer. Wir hatten nichts. Nicht einmal eine Mark. Weder Ost- noch West-Mark. Eine Westberlinerin stand hinter uns und fragte: „Ausgereist? Wo wollt Ihr hin?“ – „Bahnhof Zoo“ – sagte ich mutig.

Und war dann sehr entmutigt, als ich nach Passieren der Grenzkontrollen auf der Westseite des Bahnhofs Friedrichstraße stand. Wir alle, wir fünf, schauten dumm aus der Wäsche: Das sieht doch aus, wie im Osten! – Dreckig, Soldaten mit Hunden und – allerdings besser gekleidete S-Bahnfahrende. Ein Intershop. Intershop? Ich verstand das nicht. Die freundliche junge Frau – sehr dünn, so wollte ich auch werden – mit lässig ollen Jeans und einer ebensolchen Lederjacke – erklärte uns: „Das ist auch Osten. Aber hier dürfen nur Westberliner oder solche wie Ihr hin.“ Sie duzte uns gleich, das fand ich auch unendlich cool. Wie ich später feststellen musste und irgendwann auch hasste, duzten sich zu dieser Zeit alle in Westberlin. Ob jung, ob alt, egal, wir sind alle eine Familie in der „Stadt der Seligen.“

Jetzt aber verstand ich erst einmal nichts mehr. Wusste aber, dass am Bahnhof Zoo Klaus Jentzsch wartet. (DDR-Menschen auch als Klaus Renft bekannt.) Er wollte uns abholen. Aber wir mussten erst einmal in die S-Bahn steigen und gen Zoologischer Garten fahren. Klaus stand am Bahnsteig. Begeistert über unser Kommen. Und hatte auch gleich einen Journalisten im Schlepptau. Der sollte mich und die kleinen Kinder und die Koffer in die Wohnung von Klaus bringen, der damals beim KaDeWe um die Ecke wohnte. Peter, Robert und Klaus wollten über den Breitscheidplatz laufen. Zwischenstation Europacenter. Das mit dem Mercedesstern. Der Bahnhof Zoo war damals noch so, wie zu Zeiten von Christiane F. und ihren „Kindern vom Bahnhof Zoo“. In den Ecken saßen betrunkene Schnorrer mit Bierbüchsen, vor dem Bahnhof lagen tatsächlich Heroinspritzen. Ich war ein bisschen entsetzt. Den Westen hatte ich mir schöner vorgestellt. Robert brachte später die Nachricht des Tages. „Mutter stell‘ Dir vor, wir sind durch ein Kaufhaus (Europacenter) gelaufen, da fließt ein Fluss!!“ – Für den Fluss konnte man dann schon mal ein paar Tage staatenlos dem Ungewissen entgegenlaufen.

Es war ein 23. März – kurz vor Ostern.

Wir hatten kein Geld, keine Wohnung, keine Ahnung, was werden sollte. Aber wir hatten uns. Und wir hatten Freunde. Nach drei Tagen meldeten wir uns in der Aufnahmestelle Marienfelde in Berlin-Tempelhof. Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein neuer Ausweis – „vorläufiger, behelfsmäßiger“, wir waren jetzt Westberliner im Alliiertenstatus – war auch dabei. Ich war jung und wusste nicht, was noch alles kommt. Manchmal denke ich – Gottseidank! (Fortsetzung folgt)

Foto: Der von den DDR-Behörden ausgestellte Ausweis für die Ausreise für unseren ältesten Sohn Robert Gläser.

„So einen finden wir nie wieder!“ – zum Tod des Leipziger Ausnahme-Schlagzeugers und Perkussionisten Wolfram Dix

Wieder ist einer der ganz besonderen Menschen und Musiker von uns gegangen.

Wolfram lernte ich kennen, als Peter Cäsar Gläser die Band „Karussell“ 1983 verließ, um eine eigene Band aufzubauen. Er konzipierte mit dem umtriebigen – leider früh verstorbenen – Bassisten Bernd Herchenbach ein Projekt, das sich innerhalb kürzester Zeit zur Idee einer Superband mauserte. Peter Cäsar Gläser und Paul Dinter als Sänger und Gitarristen. Bernd Herchenbach, der so „funky ami-mäßig“ Bass spielte. Dazu der Avantgarde-Pianist Erwin Stache und – ER. Der beste Schlagzeuger, den ich bis dato erlebt hatte. Wolfram Dix.

Er trommelte so perfekt, wie er unnahbar war. Meist verstand ich nicht, was er wollte. Er warf mir höhnische Blicke zu. Und trug dazu bei, dass ich Jazz bis zum heutigen Tag einfach nicht lieben kann. Stache und Dix. Jazz-Avantgarde-Musiker. Ich wusste schnell, sie passten nicht zum bodenständigen Rock. Ich hatte Albträume von Wolfram und dem Elite-Spirit, den er in die Band brachte. Wie überhaupt die Band ein Albtraum wurde. Und selbstverständlich zusammenbrach.

Wenn Stars – gewissermaßen von oben – ein Projekt von Dauer zelebrieren sollen, bedarf es der zwei großen D: Demut und Disziplin. Beides war im Konstrukt, das sich aus der heutigen Perspektive Cäsars Rockband I nannte, nicht vorhanden. Da war keiner demütig. Am ehesten die Rocker: Peter und Paul. „Die sind alle so gut!“. Diszipliniert war auch keiner. Sie tranken alle zu viel und machten sich lustig über den Namensgeber der Band, auch auf der Bühne – sie bekämpften ihn an allen Fronten.

Es gibt zwei Aufnahmen, die beim damaligen Rundfunk der DDR in Berlin entstanden, an die ich mich erinnern kann: „Steig ein“ und „Im Bauch des Riesen“. Das Schlagzeug von Wolfram Dix: Einfach göttlich! Ich war bei den Aufnahmen dabei. So viel Streit und Profilneurosen hatte ich vordem nicht erlebt. Der Bandleader und die Produzentin waren entnervt und ziemlich bald wusste Peter, dass das nicht so weitergehen konnte. Seine Supermusiker wussten es noch ein bisschen schneller. Das Star-Projekt ging in die Knie.

Und wir gingen auf die Suche nach neuen Solisten, insbesondere nach einem Schlagzeuger, der wenigstens annähernd der Klasse eines Wolfram Dix entsprechen könnte. Und haben keinen gefunden. Uns gefiel keiner mehr. „So einen finden wir nie wieder!“, meinte Peter. Einen zweiten Wolfram Dix mussten wir uns aus dem Kopf schlagen. Er konnte nicht unser Maßstab sein.

Eines Tages schneite Peter eine Band ins Haus, vollständig und mit Anlage, was damals nicht unwichtig war. Wir haben die Band und deren Schulden übernommen. Und das Projekt Cäsars Rockband II war geboren. Die weitere Geschichte ist bekannt.

Wolfram Dix ging seinen Weg. Peter Cäsar Gläser ging einen anderen. Beide wurden älter und milder. Ich las in den autobiografischen Aufzeichnungen von Wolfram, dass er einiges bereute, was die beschriebene Bandgeschichte, insbesondere das „Betragen“ auf der Bühne, betrifft.

Wolframs und Peters Wege trafen sich musikalisch nicht mehr. Aber die Geburtsstadt Leipzig hatten sie gemeinsam. Und leider auch den Krebs. Mit dem sie 2008 zur gleichen Zeit kämpften. Peter las mir damals – sichtlich gerührt – eine E-Mail vor, in der Wolfram ihm Mut machte und von seiner eigenen Krankheit berichtete. Wolfram überstand den Krebs mit einer neuartigen Operation, die sogar in einem Film dokumentiert wurde.

In den letzten Jahren traf ich Wolfram einmal auf einer großen Geburtstagsparty und wir haben uns ganz entspannt und sogar lachend unterhalten. Wir waren auf Facebook befreundet und schrieben uns ab und an. Die wilden Jahre waren vergangen und vergeben.

Heute Nacht ist Wolfram Dix im Alter von 65 Jahren gestorben. Er hatte noch so viel vor.