Meine Mutter war Diplom-Kommunist und ich liebte den Schifferklaviermann – Traumfamilien 2

In der DDR stand im Klassenbuch, was die Eltern für Berufe haben. Bei mir lange Zeit Diplom-Ingenieur – mein Vater. Diplom-Journalist – meine Mutter. Wir wurden ständig nach den Berufen unserer Eltern gefragt. Warum das so wichtig war? Gut war es, zur herrschenden Arbeiterklasse zu gehören. Wir waren ein Arbeiter- und Bauernstaat. Wir hatten eine Diktatur des Proletariats. Aber das lernte ich erst später. Meine Eltern nannten sich Kommunisten. Ein gewaltiges Wort. Der Kommunist war der neue Mensch, den wir bewunderten. Er begegnete uns auf Plakaten und im Lesebuch. Meist war es ein Arbeiter mit kräftigen Armen und einem Hammer in der Hand. Oder er drehte an großen Rädern herum. Dazu eine Frau, die auch irgendetwas in der Hand hatte. War es eine Sense? Ich glaub, das sollte die Bäuerin sein. Der Kommunist war in erster Linie männlich, wie unsere Regierung. Die bestand auch nur aus Männern. Wilhelm Pieck, der Präsident. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende und gleichzeitig der 1. Sekretär der Partei. Die Partei. Es gab für uns nur die eine. Dass noch ein paar andere da waren, dass die später dann Blockflöten genannt wurden, wusste ich als Erstklässlerin nicht. Kommunisten waren alle, die gut waren. Alle, die arbeiteten und für unser Wohl sorgten. Alle, die für den Frieden kämpften und uns gegen die „Bonner Ultras“ verteidigten. Ich stellte mir die Kommunisten als überirdische Wesen vor. Gut und freundlich. Alles teilend. Und immer einen exzellenten Rat auf den Lippen. Natürlich wollten wir alle Friedenskämpfer sein und Kommunisten werden. Und so sagte ich – auf Nachfrage meiner ersten Lehrerin, Frau Leipold – dass meine Mutter Diplom-Kommunist wäre. Die Lehrerin konnte sich das Lachen kaum verbeißen, aber nickte mild. Ich verstand nicht, was es da zu lachen gibt. Schließlich war meine Mutti doch die Beste. Die Allerbeste, wie sie täglich nach der Arbeit berichtete. Sie war Betriebszeitungsredakteur im VEB Schwermaschinenbau Lauchhammer. Ein riesiges Werk, das heute – ich hab es nachgeprüft – dem Erdboden gleichgemacht ist. Der zweite große Betrieb – in dem die meisten Eltern arbeiteten – war die Großkokerei. Wir Lauchhammer-Kinder lernten früh, dass die Arbeiter und Forscher und Friedenskämpfer der Großkokerei eine Großtat vollbracht hatten. Sie ertüftelten, wie man aus Braunkohle Koks herstellen kann. Was vordem nur aus Steinkohle ging, die wir in der DDR nicht hatten. Koks brauchte die Republik, um besser zu werden und irgendwann die „Bonner Ultras“ wirtschaftlich einzuholen. Die Herstellung von Braunkohle zu Koks führte dazu, dass Lauchhammer das gefühlt dreckigste Nest der Republik war. Wehte der Wind aus Richtung Großkokerei, lag er einen halben Zentimeter dick auf den Fensterbrettern. Was die Hausfrauen oder die werktätigen Frauen zu besonderen Saubermachorgien anspornte. Wir Kinder trugen immer helle Kleidung und sehr gern weiße Kniestrümpfe. Und natürlich – der Wettbewerb. Wer hat die saubersten Fenster, ein Thema in der Neustadt, die extra für die Kokerei-Arbeiter gebaut wurde, in der wir unsere erste Wohnung bezogen. Vier Zimmer, Küche, Bad. Bad mit Wanne und Toilette. Ofenheizung und kein warmes Wasser. Dahinter ein Spielplatz für die vielen Kinder, von dem ich heute noch träume (auch der ist mittlerweile plattgewalzt). Wir zogen etwas später ein, als die anderen. Ich war vier Jahre alt und fühlte mich schrecklich. Lauter neue Kinder. Meine ersten Bekanntschaften hießen Ines und Lutz. Über uns wohnte Marlit. Gegenüber eine Familie, deren Vater immer Akkordeon spielte und dazu einer Schiffermütze trug. Und ein gestreiftes Nicki, wie ein T-Shirt damals hieß. Wir feierten viele Hausgemeinschaftsfeste. Und zogen an Sylvester durchs Haus. Voran der Schifferklaviermann- und -vater. Abends riefen die Eltern oder Großeltern uns aus den Fenstern nach oben. Abendbrot! Am liebsten aß ich bei Gündels mit. Die hatten eine Küche, die der unseren in nichts ähnelte. Fett und irgendwie sehr deutsch. Anders als die meiner Oma, die böhmisch kochte oder die meines Vaters, der sich an den ersten „ausländischen“ Gerichten mit viel Paprika und Knoblauch versuchte. Bei Gündels gabs Bouletten, Mischgemüse und Kartoffeln. Oder Schmalzstullen. Während es bei uns die Scheußlichkeit von Nudeln mit einer Art Kümmel-Bolognese ohne Tomaten gab. Ich wollte bei Gündels sein. Weil dort nicht so viel über den Frieden, den Kommunismus und die Arbeit gesprochen wurde. Dort tuschelte man über die Nachbarn und dazu sang der Schifferklaviermann Seemannslieder. Zum zweiten Mal wünschte ich mir, zu jemand anderem zu gehören. Zu denen. Nicht zu meinen jungen aufstrebenden Eltern, die keine Zeit für mich hatten. Mussten sie auch nicht. Ich war in der Schule ein Selbstläufer und brav wie ein Musterkind. Dafür durfte ich zum Geburtstag zwanzig Kinder einladen. Das durfte sonst niemand. Alle wollten meine Mutter zur Mutter haben, weil sie so schön war. Tja, irgendwie will jedes Kind immer das Andere. Ich wollte die Tochter des Schifferklaviermannes sein und bei Gündels fettes Zeug essen und interessanten Klatsch und Tratsch hören. Ich fand meine Familie nicht normal. Und wollte einfach nur normal sein. Ein Wunsch, den ich noch oft haben sollte. Ok, ich hatte auch eine Freundin, deren Vater Steuerberater war. Das fand ich exotisch. Ich stellte mir vor, dass der neben dem Fahrer eines Autos sitzt und ihn beim Fahren berät. Was für ein Beruf! Was war dagegen schon Dipl.-Ingenieur oder Dipl.-Journalist. Ja, meine Mutter war Dipl.- Journalist und –Kommunist. Eine weibliche Form hatten wir nur bei Berufen, die von Männern nicht ausgeübt wurden, wie Kindergärtnerin oder Krankenschwester. – Irgendwann zogen wir weiter. Ich hatte zwischenzeitlich noch eine kleine Schwester bekommen. Und als ich die dritte Klasse in Lauchhammer beendete, war unser Ziel mal wieder – Leipzig. Mein Vater hatte ein neues Jobangebot.

Foto: Feierbild in Lauchhammer – Sylvester, deshalb die seltsamen Hüte – „Hausgemeinschaft“ Werner-Seelenbinder-Str. 5 – meine Mutter ist die Zweite von links.

Aus meinem sporadischen Tagebuch – Eintrag vom 23. Juli 2018 – eine Woche vor meinem Umzug nach Magdeburg

Sitzen und schlängeln zwischen Kisten und Kasten. Überall Überflüssiges, von dem ich mich irgendwie nicht trennen kann. Ich hasse es, dass ich so aufheberisch bin. Ich entzerre große in einander gekettete Schnurkonvolute und weiß am Ende, da brauch ich nichts davon. Oder doch? Großer Topf – wegschmeißen? Hab ich den jemals benutzt? Oder vielleicht am Ende neu kaufen? Unmengen von Tellern, die keiner will. „Die waren mal teuer!“ Man, Umziehen ist echt kein Zuckerschlecken. Umziehen ist die Hölle. Ist ja nicht das erste Mal. Aber dieses Mal erscheint es mir wie die Strafe für meinen jahrelangen Kaufrausch. Da sind Klamotten dabei, die kenne ich gar nicht, die haben noch ein Preisschild. Da sind Akten von vor hundert Jahren. Die Rentenbescheide von Peter Gläser. Und die Arbeitsamtsunterlagen von kurz nach unserer Ausreise. Wie war ich dünn damals. Seh ich am Passbild von der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Und dazu hunderttausend Duschbäder, Mascara, Lippenstifte und so Zeug. Parfüme – gefühlt 80. Kann man das alles wegschmeißen? Werfe ich gerade fünfzehn Jahre Leben weg? Ja. Das tue ich.

Absprung macht jung!

Ich hasse Sport. Ich sagte es bereits in anderen Beiträgen. Aber es soll ja so gesund sein. Und wenn man alt wird, dann schaut man schon nach Gesundheitsthemen oder liest gar die Rentner-Bravo (Apotheken Umschau), nein die lese ich konsequent nicht. Aber ich hab ein Trampolin. Auf dem vollführe ich – wenn ich keine Ausrede habe – seltsame Übungen. Nur aushaltbar mit Netflix – zur Zeit sehe ich „Dark“, die erste deutsche Serie bei Netflix. Dazu vollführe ich Kniehebelauf und andere Verrenkungen, die mir noch aus meiner sportaktiven Zeit vor ca. 100 Jahren bekannt sind und ungefähr auch so aussehen. Außerdem tanze ich Twist und Cancan. Beim Cancan achte ich auf Exklusivität. Das heißt, keiner, außer mir, darf diesem Spektakel zuschauen. Nein, ich hab da keine Röcke, ich werfe nur Beine. Außerdem bewaffne ich mich mit Hanteln bzw. meinen neuen Brazils, die ich links und rechts schwenke. Es ist ein Bild für die Götter und das soll es auch sein. Denn es ist sinnfrei, wirkungslos und ätherisch. Zeus, wir wären liebliche Spielgefährten. Ich als Schwan und Du als Leda. Wir haben jetzt doch diese gendersanktionierte Geschlechterfreiheit. Ich als Sterbender, selbstverständlich, Schwan natürlich. Du als Unsterblicher. Trampolin ist prima. Wer wissen will, wie meines heißt, schicke mir umgehend eine Nachricht. Guten Abend, liebste Freunde ? Absprung macht jung!

Homeoffice – Taumellolch – Coole Kaftane – Zustandsbericht nach vier Monaten Corona

Home-Office – die verschärfte Form. Seit dem 11. März. Es gefällt mir. Ich muss nicht mehr Zugfahren. Müsste ich nicht ab und an Dinge im Draußen erledigen, ich bliebe hier – in meinem Home mit angeschlossenem Office. For ever. Vielleicht bestellte ich im Supermarkt online. Als Ausgleich spränge ich auf dem Trampolin herum, turnte nach den Videos von Gabi Fastner oder rollte auf Geheiß von Liebscher-Bracht die Faszien. Früher in der DDR, als ich noch im Hotel arbeitete, war ein Office das, was außerhalb des Gastraumes lag. Kellner trafen sich im Office mit Köchen, aßen oder tranken schnell was, unterhielten sich über die Gäste oder setzten sich kurz hin. Der Duden bestätigt mir das Office im Gastgewerbe. Home-Office hätte früher Heimbüro geheißen. Aber jetzt: My home office is my castle. Der listige Online-Duden spielt mir das vermutlich nicht-englische Wort „Lolch“ ein. Als „selten verlangtes Wort“. Kann ich mir vorstellen. Ich kenne auch keinen Lolch. – Ich kenne nur LOL, was mich nervt, wenn jemand zu einem von mir geschriebenen Posting – in sozialen Netzwerken – mit LOL kommentiert. „Lach“ ist genauso doof. – Der Lolch also. Mal schauen. „Zu den Süßgräsern gehörendes Gras mit vielen Blüten und kleinen Ähren in zwei Zeilen“. Und dann bietet sich noch der Taumellolch an, auch ein Gras. Ok, ich schwanke zwischen den Stühlen meines Home-Office wie ein Taumellolch! Sieben Stühle. Hier in meinem Home-Office. Außer der Dame vom Finanzamt war in letzter Zeit niemand hier. Sie kam, um mich zu prüfen, natürlich. Wie wäre eigentlich eine Finanzamtsprüfung in Corona-Zeiten? Oder gibt’s keine mehr? Wegen Abstand und Masken. Masken überhaupt. Auch wenn ich reichlich Zunder von meinen Lesern bekam, ich bleibe dabei: Ich trage keine Maske. Ich gehe auch ohne Maske einkaufen. Wenn ich schonmal einkaufen gehe. Ich schau die anderen mit den Masken interessiert an. Sie sagen nichts. Ich auch nicht. Ich frage mich indessen, wieso ich mindestens fünf Kilo auf der Skala des Grauens nach oben gerutscht bin, obwohl ich nur noch die Hälfte einkaufe. Gut, ich habe auch gehamstert. Legte mir Keks- und Schokoladen-, aber auch Dauerwurst- und Whiskey-Vorräte zu. Mittlerweile alles vertilgt. Wird ja vielleicht doch schlecht. So wie ich hier so langsam vor mich hingammele. Ich ertappe mich dabei, dass ich mir zwei Tage lang die Haare nicht kämme. Wozu? Ist doch egal. Nicht egal: Mein neuer online bestellter „Cooler Kaftan“. Mein Hauskleid. Sehr verführerisch, um Kilos zu verstecken. Der freundliche Nachbar fragt, ob es für dieses Kleid keinen Gürtel gäbe. Ich: Warum? Er: Naja… ach, ein Kaftan, ja, das sieht man. Cool! – Mein cooler Kaftan in Schwarz natürlich – hat große rot-blaue Blumen – vorn und hinten. Ich vermute, er macht dick. Aber, wen interessierts? Ja, ich habe zugenommen. Meine Keto-Diät ist gescheitert. Das Ergebnis: Ich esse enthusiastisch alles, was da verboten war. Kohlehydrate. Dicke, fette Kohlehydrate. Ob ich den Tag, an dem ich einen Gürtel auf den Coolen Kaftan schlingen kann, noch erleben werde? Egal, Corona hat nicht nur mich dicker werden lassen, ich höre es allenthalben auch von anderen. Nun warten wir auf die zweite Welle. Herr Lauterbach von der SPD kann es gar nicht erwarten, während er seinen Stammplatz in den Talkshows behauptet. Ich singe „Das ist die perfekte Welle“, wasche und kämme mir die Haare, bestelle mir noch einen grünen Kaftan und bin froh, dass ich für morgen alles erledigt habe. Und ich trinke ein Colbitzer Bockbier – hier aus der Region – Taumellolch schwankend zwischen den sieben Stühlen meines Home-Office.

Die Dauerwelle meines Lebens

 Achtziger. Wer sich an die Achtziger erinnert, hat sie nicht erlebt. Ich las das in den Neunzigern auf großen weißen Fahnen, die für das Falco-Musical im Theater des Westens in Berlin warben. Ich dachte: Häh! Was muss ich jetzt dabei denken? Versteh ich nicht! Ich fuhr Tag für Tag dort vorbei und irgendwann machte es „Klick“: Ach, das war ein Jahrzehnt, in dem andere sich so zugedröhnt haben und das volle Leben lebten, während ich mit drei Kindern in einer Riesenwohnung in Leipzig saß und auf meinen Mann wartete, der mal kam und mal nicht. Er war kein treuer Mann. Damals hab ich mich verzehrt nach seiner Liebe und dachte, ich könne ohne ihn nicht sein. Wie dumm von mir. Aber nicht mehr zu ändern – all die durchwachten Nächte, all die sinnlos geleerten Rotweinflaschen. Und nicht nur die. Auch rumänischer Weinbrand und irgendein saurer osteuropäischer Sekt verbitterten mir die Tage des Verrats an unserer überirdisch großen Liebe. Du musst etwas tun! Du musst etwas tun. Ich schrieb Tagebücher, die heute verschollen sind. Legte mir Liebhaber zu und begann zu fotografieren. Töpfern wollte ich lernen. Ich studierte Psychologie und ging zu allen Performances, die die Leipziger Subkultur zu bieten hatte. Ins Kino und auch mal ins ungeliebte Theater, wenn Freunde von mir mitspielten. Freunde überhaupt. Ich hatte einen übergroßen Freundeskreis und er wurde immer unüberschaubarer. Wir hatten ein „offenes“ Haus. Heute würde ich sagen: Ich war eine Salondame. Nur dass der Salon eine düstere Wohnküche war und die Dame eine wild gewordene Hausfrau mit Halbbildung, aber ausbaufähig. Ich konnte über alles reden. Das fiel mir noch nie schwer. Und so redete ich über alles und mit allen, die da kamen. Und sie kamen reichlich. Zuerst wollten sie immer meinen Mann, den berühmten Rockstar, besuchen. Beim zweiten Mal schon – kamen sie zu mir. Und so scharte ich einen Kreis aus Künstlern und Intellektuellen um mich, den mein Mann in seinen späteren Memoiren die abendlichen Besucher „unserer Kulturküche“ nannte. Es verging kein Abend, an dem wir nicht mit Freunden ausgingen oder zusammensaßen. Dazwischen wuselten unsere drei Kinder und aus heutiger Sicht haben wir uns ganz sicher zu wenig um sie gekümmert. Auch das kann ich nicht mehr ändern, so traurig es mich manchmal macht. Dennoch: Es war eine wilde Zeit, wenn ich es mit meinem heutigen Leben vergleiche. Eine wilde Zeit, die ich als brav empfand, weil ich glaubte, dass die – dort drüben – noch viel wildere Zeiten erleben. Deshalb wollte ich dorthin. Und das setzte ich auch durch. Wir verließen dieses bunte Leben in der grauen DDR, um in das gelobte Land zu gelangen, in dem dann alles ganz anders wurde, als gedacht, erträumt, befürchtet. Das Ende der Achtziger war das Ende einer Ära. Für mich. Für uns. Für die ganze Welt. Ach so, die Dauerwelle? Die einzige Dauerwelle meines Lebens hatte ich natürlich in den Achtzigern.

Foto von Edith Tar: Ich – Leipzig 1984

Schöner Frieden in der DDR

Ich war ein Kind der Fünfziger und Sechziger Jahre. In der DDR. Also ein Nachkriegskind. Und so war der Frieden bei uns – neben dem Kommunismus, später „nur noch“ Sozialismus – das höchste Gut. Alles war mit Frieden verbunden. Wir sangen im Kindergarten und in der Schule  „Kleine Weiße Friedenstaube“, wir vergötterten all die Friedenskämpfer, zu denen – angefangen bei Karl Marx und Friedrich Engels und selbstverständlich Wladimir Iljitsch Lenin – Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, anfangs auch noch Mao Tse-tung, Nikita Chruschtschow sowie alle Parteivorsitzenden und Präsidenten aller anderen sozialistischen Länder, die kommunistischen Widerstandskämpfer der Nazizeit und natürlich alle Parteimitglieder unserer Sozialistischen Einheitspartei gehörten. Auch wir Kinder waren Friedenskämpfer, wie unsere Eltern und Lehrer. Wir waren der Friedensstaat schlechthin. Wir Kinder malten Friedenstauben, schnitten sie aus und klebten sie massenhaft auf Wandzeitungen. Wie auf diesem Bild aus dem Fotoband „Olle DDR – Eine Welt von gestern“. Der beste Foto-Essay-Band über die DDR bis heute, der zu Beginn der Neunziger im Henschel Verlag erschien. Auf dem Foto von Volker Döring sehen wir einen Jungen, der vor einem Waschbecken steht. Als Handtuchmöglichkeit hängt daneben eine Rolle Klopapier. Ich denke, dass das kein Klo, sondern eher ein Klassen- oder anderer Aufenthaltsraum war. Denn die Toiletten in Schulen waren unbeschreiblich verkommen und noch weniger fotogen, als alles andere, mit dem wir so lebten. Sehr erheitert hat mich das kleine Plakat über dem Waschbecken: „Frieden ist schön“. Heute komisch und irgendwie unbeholfen. Damals normal. Wir lebten mit der Dauerbeschwörung des Friedens zu jeder Zeit und an jedem Ort. Und wenn es über einem Waschbecken war. Man kann sich vorstellen, wie es an Häuserwänden und -mauern aussah. So viel Frieden – als Aufforderung – war nie wieder. Und wir Kinder lernten täglich: Die DDR ist der Hort des Friedens. Natürlich immer bedroht von den „Bonner Ultras“, den Kriegstreibern, vorzugsweise aus dem abgeteilten Feindesstaat BRD. Unsere Nationale Volksarmee beschützte uns vor ihnen. Darauf war Verlass. Und als wir 1961 eine Mauer bauten, um vor „denen“ beschützt zu sein und unseren – selbstverständlich friedlichen – Sozialismus aufbauen zu können, fanden wir Kinder das vollkommen in Ordnung. Wir waren die „Junge Garde“ des Staates und nannten uns „Pioniere“. Und wenn die Jungs später zur Armee eingezogen wurden, standen sie selbstverständlich auf Friedenswacht. Die Fünfziger- und die Sechziger-Jahre waren für uns eine Zeit der Hoffnung. Nicht nur auf den Frieden. Denn den hatten wir ja schon. Er musste nur täglich „beschützt“ werden. Unsere Hoffnung, an die wir glaubten, war der Kommunismus. Wir hatten vage Vorstellungen. Es sollte ein Paradies werden. Ich stellte mir vor, dass man in einen Laden geht und sich nimmt, was man so haben möchte. Später hieß es dann, etwas beschwichtigend, was man braucht. Denn Geld sollte es nicht mehr geben. Alle Menschen wären glücklich. Und in unseren Darstellungen beschäftigten sie sich entweder mit unseren Fahnensymbolen „Hammer, Zirkel, Ährenkranz“ oder sie tanzten glücklich im Sonnenschein. Ich stellte sie mir als lichtvolle Gestalten vor, Fähnchen schwenkend, wie am 1. Mai. Alle würden eine schöne Wohnung mit Heizung und warmem Wasser haben und vielleicht – irgendwann – ein Auto. Und im Sommer fährt die ganze Familie ans Meer. Viel mehr Phantasie hatte ich nicht. Eine Vorstellung vom vollkommenen Glück zu haben, fällt mir noch heute schwer. Auf jeden Fall hätte ich richtige Handtücher neben unseren Schul-Waschbecken gewollt. Das Glück ohne Ende gab’s am Ende dann nicht. Wie bei allen sozialistischen Experimenten.

Nachtrag: Das Foto von Volker Döring ist von 1986 (!!) – Bildunterschrift: 10. Oberschule „Hermann Matern“ Berlin-Prenzlauer Berg. Tja, da hat sich wohl bis zum Ende der DDR nicht sehr viel geändert.

Quelle: „Olle DDR – Eine Welt von gestern“ – Christoph Dieckmann (Autor), Friedrich Schorlemmer (Nachwort), Volker Döring (Fotograf), Joachim Donath (Fotograf), Rolf Zöllner (Fotograf) – mit freundlicher Genehmigung des Fotografen Volker Döring. Danke!