Ich bin ein Buddha.

Ich sitze. Und wo ich sitze, sitze ich. Ich steh nicht so schnell wieder auf. Der sitzende Zustand ist der meine. Sitzen und nachdenken. Sitzen und schreiben. Sitzen und sich unterhalten. Sitzen und lesen. Sitzen und essen.

Im Sitzen kann man fast alles machen. Hab ich zu viel getrunken, schlafe ich auch im Sitzen, mit dem Kopf auf der Tastatur. (Ist schon lange nicht mehr vorgekommen, denn ich trinke ja (fast) keinen Alkohol (mehr)). Als ich in die 1. Klasse kam, hatte ich sofort zwei Lieblingsfächer, die das noch lange bleiben sollten. Sport und Zeichnen, wie Kunsterziehung damals hieß.

Sport also: Ich habe unter dem Beifall der Mitschüler 50 Liegestütze gemacht, wenn es sein musste, auch noch mit jemandem auf dem Rücken. Ich kletterte wie ein kleiner Affe kratzige Seile nach oben und ich rannte – meinen Mitschülern davon – bis ich in eine Spezial-Sportklasse delegiert wurde. Damals empfand ich große Befriedigung bei anstrengendem „Kreistraining“ an jedem Nachmittag und die Wochenenden gehörten diversen Wettkämpfen. Ich schaffte es unter die ersten Zehn (Mädchen) im Ranking, das damals noch nicht so hieß, der 12jährigen 60-Meter-Sprinterinnen und stand damit sogar im damaligen „Sport-Echo“ der DDR.

Unglücklich verliebt war ich auch. In Peter. Der das nicht einmal registrierte, in jedem Diktat eine Fünf schrieb, aber der Allerschnellste war, schneller als ich. Wir haben nie ein Wort miteinander gesprochen, obwohl wir in die gleiche Klasse gingen. Leider wuchs ich nicht mehr weiter, bei 1.60 war Schluss, so dass irgendwann langbeinige Gazellen mühelos an mir vorüberzogen.

Ich sattelte auf 800 Meter um, später auf 3000. Jeden Abend nach dem Training schlich ich müde nach Hause und ging gleich ins Bett. Gottseidank machte ich die Schule irgendwie mit links. Trotzdem fragte meine Mutter eines Tages, ob das jetzt immer so weiter gehen wird. Ich dachte schon lange: Da gibt es doch noch was Anderes? Zum Beispiel – diese interessanten Jungen. Sie waren nicht unter den Sportlern, die richtig interessanten und irgendwie bösen Buben waren woanders. Im Park oder auf Kinderspielplätzen an der Tischtennisplatte oder auf den zentralen Plätzen der Stadt. – Kurzum, ich wollte nicht mehr so hart trainieren, gab noch ein kurzes Gastspiel in einem Ruderclub, um meine Sportlaufbahn dann mit 14 Jahren zu beenden.

Seitdem meide ich Sport in allen Varianten. Ich weiß nicht, wie man Sport mögen kann. Es ist so anstrengend! Ist der Mensch nicht sein Leben lang damit beschäftigt, sich das Leben leichter zu machen? All diese Erfindungen – Heizung, Waschmaschine, Auto, auch Fahrrad – machen das Leben leichter. Warum soll ich in ein Fitnesscenter gehen und mich quälen? Diese Gedanken quälen mich gerade. Denn noch – bin ich ein Buddha.  Denken ist niemals anstrengend.

Mauervorsprünge oder was ich einmal werden wollte.

Schauspielerin werden. Das wollte ich. Als ich acht Jahre alt war. Und Mitglied einer Laienspielgruppe. Mit der ich „Kreismeister“ wurde. Genau genommen wurde unsere Laienspielgruppe Kreismeister im Kreis Senftenberg beim Wettbewerb der Laienspielgruppen. Senftenberg war die nahe Kreisstadt und Cottbus die etwas entferntere Bezirksstadt.

Beide liegen heute im Land Brandenburg – in der Niederlausitz. Wir spielten ein Vögel-Stück. Ich war die Frau Spatz und schimpfte sehr viel mit meinem Spatzen-Mann. Mehr weiß ich nicht mehr, nur, dass wir Spatzenkostüme hatten und Kulissen, die wir selbst aus Pappe bauten.

Es kam die Bezirksmeisterschaft, bei der wir mit unserem Spatzenvögel-Stück weit hinten landeten. Ich war außer mir. Und erzählte – wieder zu Hause in Lauchhammer – meiner Mutter empört von den Machenschaften der Jury, die uns nicht zum Meister gekürt hatte. Meine Mutter meinte, dass vielleicht doch die Anderen…. irgendwie besser…gewesen sein könnten. „Aber die haben nicht so einen Mauervorsprung wie wir!“ entgegnete ich. Vorüber meine Eltern noch jahrelang lachten. Dieser Papp-Mauervorsprung, den wir tagelang bemalt und zusammengebaut hatten, war unser ganzer Stolz.

Nach der Cottbuser Niederlage probten wir kein neues Stück, ich vermute, die Laienspielgruppe ging wegen Mangels an Erfolg ein. Ich auch – in meinen schauspielerischen Bestrebungen. Ich bekam ein Gefühl dafür, wie sehr man sich blamieren kann. Dies frisch erblühte Schamgefühl verengte mir den Mund – so dass ich kaum noch ein Gedicht vor der Klasse deklamieren konnte. Schauspielkarriere ad acta gelegt. Ich wollte Kriminalist werden.

Die Lehrer fragten im Jahresabstand nach unseren Berufswünschen. Sie wurden notiert. Warum auch immer. Und mussten laut geäußert werden. Ich sagte ab sofort: Ich will Kriminalist werden. Wir wurden als Mädchen damals noch Lehrer, Koch oder – Verkäuferin. Diese durfte weiblich sein, weil es kaum Männer gab, die den Verkäufer-Berufswunsch hegten. Einige Jahre sagte ich also stets: Ich möchte Kriminalist werden. Worauf ein Großteil der Klasse – von Jahr zu Jahr mehr – laut lachte. So dass ich mich – nachdem ich meinen Chemielehrer verehrte – auf „Ich möchte Chemiker“ werden verlegte.

Der Chemielehrer war streng. Besonders, wenn ich lackierte Fingernägel hatte, die ich der Klasse zeigen musste, um deren gemeinschaftliche Missbilligung zu empfangen. „Was sagt denn Deine Mutter dazu?“ – fragte der Chemielehrer. „Meine Mutter meint, davon bekommt man keinen schlechteren Charakter!“ – antwortete ich frei phantasierend. Ich dachte, das könnte sie gesagt haben, trug sie doch stets lackierte Fingernägel. Worauf er den Kopf wiegte und meinte: „Ja, da könnte Deine Mutter recht haben.“ Er ließ mich ab sofort in Ruhe. Und ich behielt auch meine Eins in Chemie. In der neunten Klasse wechselte ich an die Erweiterte Oberschule (Gymnasium). Der neue Klassenlehrer war der neue Chemielehrer. Ein netter Kerl, aber Chemie hat er mir gründlich verleidet.

Was also werden? Ich wusste es nicht mehr. Irgendwas mit – Schreiben? Ich unterließ es standhaft, Berufswünsche laut zu äußern. Und weil das so blieb, studierte ich nach dem Abitur – aus Verzweiflung und Ratlosigkeit – Philosophie. Hinter diesen Abschnitt meines Lebens setze ich einen winzig kleinen – Mauervorsprung.

Mein Aufstieg auf den Kalvarienberg Graz oder warum ich den Katholizismus liebe

Ganz oben hängt er. Ganz in Gold. Hängt am Kreuz. Vorher trug er das Kreuz. Es war seine Passion. Sein Leiden. Keine Leidenschaft. Oder doch? Ich steige mit meiner Freundin Frieda auf den Kalvarienberg in Graz. Gehe mit ihr den steinigen Passionsweg. Ich leide mehr an geschwollenen Füßen, denn an den Leiden des Herrn. Fotografiere all die Skulpturen, all die Kunstwerke, die der Glauben über die Jahrhunderte hervorgebracht hat. All diese katholische Herrlichkeit, die Österreich mir jedes Jahr zu Füßen legt. Diese Pracht und diese bunte Sinnlichkeit faszinieren mich immer aufs Neue.

Ich denke an Dali, der Stunden vor seinem Tod noch zum Katholizismus übertrat und ich weiß, warum. Man weiß ja nie… Selbst Darwin schrieb: „… dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist.“ Und dann weiter: „Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Ja, an allem ist zu zweifeln. Auch das. Auf beiden Seiten. Nicht mehr zweifeln muss ich an meiner Leidenschaft für Jesus. Als Kind wurde ich mit Jesusbildern und -erzählungen gefüttert. Es gab da eine Konkurrenz zwischen meiner katholischen Oma und meinem evangelischen Onkel Karl. Immer, wenn ich mit meiner Oma Onkel Karl besuchen musste, zog er mich sofort in sein Arbeitszimmer, um mir von IHM zu erzählen. Und nicht nur das! Er zeigte ihn mir. In schrecklichen schwarz-weißen Bildern. Ich hab mich nie wohl gefühlt – in protestantischen Kirchen. Sie erregten ein Grauen in mir. Denn sie waren düster, karg und vor allem streng. Besonders gern zeigte mir Onkel Karl Johannes den Täufer, wie er in seinem Blute – nur noch als Kopf – in einer Schüssel schwamm. Und er schaute mich irgendwie triumphierend an und ich dachte: Warum? Warum, Onkel Karl, zeigst Du mir das?

Er hatte dann meist ein Einsehen und tröstete mich mit bunten Bildchen aus der evangelischen Christenlehre. Ja, diesen Kinderjesus war ich bereit zu lieben. Er lief übers Wasser, hatte goldene Haare und einen großartigen Heiligenschein. Er strich den Menschen über ihre gebeugten Häupter, machte sie gesund und fütterte sie mit seinen unendlichen Vorräten. Und versprach ihnen eine Welt in Frieden und Glück. Dann, wenn er wiederkomme. Dass er zwischenzeitlich ans Kreuz geschlagen ward, auferstanden und gen Himmel zum Vater gefahren, wusste ich natürlich.

Und so endeten meine Besuche im Erzgebirge immer damit, dass ich mit vollem Kopf und Herzen und mit dem Zug nach Hause fuhr zu meinen Eltern, die eine andere Zukunft für mich vorgesehen hatten. Ich hatte Onkel Karl ja gefragt, bevor ich nach Hause fuhr: Kommt Jesus auch zu mir, dann, wenn er wiederkommt? Ja, er kommt auch zu Dir! – wusste Onkel Karl und schaute mir tief in die Augen. Auch meine Oma bestätigte das. Ich sah meinen hübschen Jesus vor mir, mit langen blonden Haaren und einem weißen Wallegewand. Ich sah ihn, wie er plötzlich in Lauchhammer – in der sozialistischen Braunkohle- und Schwermaschinenbaustadt der Niederlausitz, in der wir damals wohnten – auf unserem Spielplatz im Sandkasten steht und zu mir sagt: Hier bin ich! Dazu Musik! Eine sphärische Musik. Glück pur! Ich vergaß Mutter und Vater, die am Bahnhof standen, um mich aus diesem Traum abzuholen.

Abends erzählte ich meinem Vater, dem atheistischen Professor in spe, von meinem Jesus. Dass er dereinst kommen werde. Zu uns allen. Und dass das doch wunderbar sei. Quatsch, sagte mein Vater, alles Quatsch! Er zog ein Buch aus dem Arbeitszimmerschrank, in dem Menschenaffen waren. Und begann, meine Welt zu zerstören. Lange Zeit konnte ich ihm das nicht verzeihen.

Gott sei Dank – wir werden irgendwann erwachsen und können selbst entscheiden. Vielleicht hätte mein Vater alt genug werden müssen, um vielleicht wie Dali… wer weiß! – Ich laufe den Grazer Kalvarienberg hinauf. Oben steht das Kreuz. ER hängt am Kreuz. Das machen nur die Katholiken. Ihren Jesus derartig üppig zu vergolden. Onkel Karl hätte die Augen niedergeschlagen und irgendwas in seinen Bart gemurmelt – von Verschwendung oder so. Vor dem Goldjesus stehen drei Gestalten: Eine schaut heuchlerisch. Es ist seltsamerweise der Johannes. Eine schaut desinteressiert. Das ist Maria, die Gottesmutter. Eine – die in der Mitte – weint aufrichtig und bitterlich: Maria Magdalena. Die Tochter aus gutem Hause. Keine Brave. Keine, die tat, was man von ihr verlangte. Andere Gedanken haben, kann verrückt sein. Verrückt machen. Sündig. Sündig und besessen. So hieß es, sie sei eine Sünderin. Eine Verrückte. Bis Jesus kam und die Verrückte wieder in die Mitte verrückte. Und so folgte sie ihm bis in den Tod. Und wird die erste sein, die ihn sieht an diesem Sonntagmorgen der Auferstehung. Noch weint sie. Sie weint die einzig wahren Tränen in dieser Goldjesus-Szenerie. Und weiß noch nicht, dass alles gut wird. Das hilft sogar mir, den Glauben nicht zu verlieren. Danke Graz, danke Frieda, danke Kalvarienberg. Das ist der Zauber des Katholizismus. Er ist sinnlich und deshalb liebe ich ihn. (Ja, Frieda, ich kenne auch die Schattenseiten)

Foto: Grazer Kalvarienberg – Quelle Wikipedia wolf32at – eigenes Werk.