Mein Sohn Moritz Peter Gläser

Moritz ist mein jüngster Sohn. Wie jeder meiner Söhne, ist er ganz anders, als „gedacht“ – geworden. Ich verstehe vieles nicht, was er denkt. Und denke, dass er tatsächlich schon zu einer anderen Generation gehört. Er fragt mich oft, was bestimmte Wörter bedeuten, die für mich selbstverständlich sind. Zum Beispiel „verschmitzt“. Sein Vater Peter Cäsar Gläser schrieb in seiner Autobiografie „Cäsar. Wer die Rose ehrt“ (2007), Moritz wäre schon mit einem „verschmitzten Gesichtsausdruck“ geboren. Als Moritz das las, fragte er mich: „Liebe Mutter, was ist denn „verschmitzt“?“ Das fragte mich Moritz, der ein begnadeter Wortkünstler ist. Seine Texte, die er schon sehr früh begann zu schreiben, haben mich immer wieder fasziniert. Als eine, die selbst schreibt, besonders. Ich könnte nie schreiben, was er da macht. Es ist eine andere Welt. Angefangen hat es schon am Gymnasium, als die Deutsch-Aufgabe lautete: Schreiben Sie „Romeo und Julia“ von William Shakespeare in eigenen Worten um. Er tat das. Aber er „dichtete“ es um. Ich war vollkommen von den Socken, so großartig fand ich, was er da geschrieben hatte. Leider war die Lehrerin nicht meiner Meinung und gab ihm eine Vier. Es war aber die Zeit, als ich schon aufgegeben hatte, bei dummen Lehrerinnen für meinen Sohn zu werben. Er verließ dann diese Schule in der 12. Klasse und ging nach Leipzig. Er hatte einen Studienplatz – einer von dreien – in der Bass-Klasse der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ ergattert. Weil er – ohne Noten zu können – so großartig spielte, dass man sich für ihn entschied. Er war siebzehn und das neue „freie Leben“ in Leipzig und in einer WG führte dazu, dass er nach einem Jahr wieder exmatrikuliert wurde. Ein Schicksal, dass seinen Vater in den Siebzigern ebenfalls ereilte. Es hieß damals „wegen schlechter Studiendisziplin“. Beide gefeuert. Beide weitergemacht.  Schade, sagt Moritz dennoch heute, wäre ich nur älter und klüger gewesen. Ich sage, es war eine Erfahrung. Immerhin gewann er den 1. Preis in einem Wettbewerb der Zigarettenmarke „Cabinet“ – eine ehemalige DDR-Zigarette, die es heute noch gibt – in der Sparte Musik. Für seine ersten Rap-Gesänge, die wir alle mit Begeisterung und Erstaunen hörten, und vor allem auch für seine großartige Performance auf der Bühne. Die Zeitschrift „Magazin“, ehemals DAS Magazin, das monatlich die einzige Nackte als Fotoakt in der DDR enthielt und heißt begehrt war, druckte seine Texte. Nur Robert, mein ältester Sohn und gleichzeitig Moritzs schärfster Kritiker und natürlich auch treusorgender Bruder, fand, Moritz singe immer nur „auf einem Ton“. Tja, hat Rap so an sich, oder? Wie Robert, mit dem Moritz regelmäßig den Super-Battle ausfocht und noch immer ficht, probierte, irrte und korrigierte Moritz ständig seine Musik und sein Leben und überhaupt alles. Heute wird er 35 Jahre alt und sieht noch immer aus wie 25. Er steht nun oft stellvertretend für seinen 2008 von uns gegangenen Vater auf der Bühne und fühlt sich nicht besonders wohl in dieser Rolle. Er will nicht „der kleine Cäsar“ sein, obwohl er so aussieht. Er will etwas Eigenes machen, was ich verstehe. Zur Feier des 44. Geburtstages seines Bruders Robert im Dezember 2015 konnten die vielen Gäste sehen, was er meint. Wenn er SEINE Musik macht, steht er nicht – wie sein Vater – auf der Bühne, sondern er springt und tanzt und performt. Singt seine eigenen Texte und spielt seine eigene Musik. Dann ist er nicht mehr der schwierige und irgendwie unfreundliche Moritz, wie ihn oft die Anderen sehen. Dann lacht er auf seine unnachahmliche Art, von der ich mir wieder mehr wünsche. Inzwischen ist er auch nicht mehr der „Kleine“, der „Unordentliche“, der „Zuspätkommer“ und „Chaos-Mensch“ (O-Ton Robert). Im Dezember 2014, genau an Roberts Geburtstag, ist Moritz Vater von Tamino geworden. Dieses Kind hat Moritz noch einmal verändert. Er hat Verantwortung übernommen. Nicht nur für sich, sondern auch für einen anderen Menschen, der neu auf diese Welt kam. Ich liebe meine Söhne Robert, Ben und Moritz. Jeden auf seine Art. Sie sind verschieden. Sie streiten und sie vertragen sich. Jeder ist eine ganz eigene Kreation. Moritz – ich gratuliere Dir zum Geburtstag. Ich liebe Dich, so, wie Du geworden bist. Und auch so, wie Du noch werden wirst. Da habe ich große Hoffnungen.

Foto: Moritz und Robert Gläser

„Hast Du noch ne CDU für mich?“ – als ich einmal Wahlbeobachterin war…

Eigentlich hatte ich Zahnschmerzen. Aber – ich schleppte mich ein weiteres Mal in die Schule um die Ecke. Und betrat mein Wahllokal mitten im beschaulichen Charlottenburg in Berlin um drei Minuten vor 18.00 Uhr. Man wollte mir die erforderlichen drei Wahlscheine in die Hand drücken. Ich kann nicht besonders eindrücklich gewesen sein, am Nachmittag, da war ich schon einmal dort, um meine drei Kreuze zu machen. Die in diesem Fall gefordert sind oder eben nicht.

Hier bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung am 18. September waren drei Kreuze wirksam, falls jeweils nur eins auf den drei Wahlzetteln stand, eine Unterschrift dagegen nicht. Aber – und das erfuhr ich im Verlauf des sehr sehr langen Abends: Ab sofort kann man in den aufgedruckten Kreis seiner Wahl nicht nur ein Kreuz setzen, auch ein Haken, eine Sonne oder ein Smiley haben Gültigkeit, sofern sie sich im Kreis für das ehemals ausschließlich geforderte Kreuz befinden. Kapiert? Ich erst auch beinahe nicht. Fürs nächste Mal bin ich belehrt: Es ist egal, was man in den Kreis malt, man drückt mit der Innengestaltung des Kreises neben der Partei der Wahl sein „Ja“ aus. Egal, mit welchem Zeichen oder welcher Zeichnung. So setze man also ab sofort sein ganz individuelles Zeichen. – Stand das in irgendeiner Zeitung? Wurde das im Fernsehen verkündet? Ich hörte oder las es jedenfalls nicht. Das erörterte ich im Laufe des Abends mit der „Chefin“ meines Wahllokals. Denn ich war die Wahlbeobachterin. Die einzige weit und breit.

Ansonsten scheint es niemanden in meinem Wahlbezirk zu interessieren, was die bienenfleißigen Wahlhelfer nach 18.00 Uhr treiben. In meinem Lokal waren es sechs Damen und ein Herr. Sie staunten, was ich bei ihnen wolle. Mal zuschauen, was Sie hier so tun? – Das ist Ihr gutes Recht. – hieß es dann. – Ja, das wusste ich natürlich. – Es wird aber bestimmt bis 22.00 Uhr dauern. Wir haben hier unser ganz spezielles System. Wir machen das schon viele Jahre zusammen. – Ok, schreckt mich nicht. Ich bleibe dann bis 22.00 Uhr.

Und so war mein Da-Sein akzeptiert. Einer flog noch herein und gab seinen „Tipp“ ab, dann schloss das Wahllokal, ich musste formal noch einmal „raus“. Und dann öffnete sich die Tür wieder – für mich und den Hausmeister der Schule, der noch bleiben wollte „bis zum letzten Wahlzettel“. Das war beruhigend.

Und so ging es also los. Die Wahlurne wurde auf dem Tisch geleert. Die „Chefin“ zählte in dem großen Buch, in dem alle Wähler standen, jene heraus, die wirklich gekommen waren. Die anderen fünf Damen und der eine Herr sortierten die orangen, die blauen und die grauen Scheine und zählten sie. Die Zahl der Wahlscheine durfte nicht größer sein, als die Anzahl der im Buch vermerkten Wähler. Ok, hab ich kapiert. Manche gehen in die Kabine und zerknüllen den Schein oder nehmen ihn mit nach draußen oder werfen ihn in den Papierkorb. Eine siebenköpfige Familie ging gemeinsam in die Kabine, da wurden sie wieder herausgerufen. Das geht gar nicht! – erzählt die „Chefin“. – Sie wären doch eine Familie und wollen alle das Gleiche wählen, hieß es. – Können Sie ja, aber nicht alle auf einmal in einer Kabine. Jeder müsse für sich hineingehen. Da gab die Großfamilie ihre ausgefüllten ungültigen Scheine wieder ab und ging. Sie wollten nicht einzeln wählen. Stimmen verschenkt. Schade. Ich hatte kapiert. Scheinanzahl Buch muss gleich oder größer sein als Scheinanzahl Tisch. War sie aber nicht. Erste Aufregung. Irgendwer musste sich verrechnet haben. Der Fehler wurde gesucht und gefunden.

Es herrschte extreme Konzentration im Raum. Keiner sprach, keiner trank oder aß etwas. Es wurde nur sortiert und gezählt. Die Ergebnisse verglichen. Denn nach der ersten Großzählung wurden die Parteien ausgezählt. Erster Wahlvorschlag Erststimme für das Abgeordnetenhaus. Dann Zweitstimme für das Abgeordnetenhaus. Dann Bezirksverordnetenversammlung, für die aber viele Parteien gar nicht antraten. Alles wurde in Zehnerpäckchen gelegt, um am Ende alles zusammenzählen zu können. Um so ein Zehnerpäckchen „voll“ machen zu können, hieß es dann: Hast Du noch ne CDU für mich? Oder: Wer hat die Tierschutzpartei? Oder: Noch irgendwo ne FDP? Nee, ich hab hier die Piraten.

Dann packte man die Zehnerpäckchen zu Hunderterpäckchen, um wiederum alles zu zählen und in einer Liste zu notieren. Es war ein Geraschel und Atmen und Murmeln. Langsam machten sich Müdigkeit oder Nackenstarre breit, aber die routinierten Helferinnen und der einzige Mann im Raum schafften es,  dass am Ende alles stimmte. Alles Fertiggezählte in Tüten verpackt, Zahlen ans Wahlamt gemeldet und später von der „Chefin“ zur zentralen Stelle ins Rathaus gebracht.

Neu für mich: Briefwahlen werden irgendwo im Bezirksamt parallel ausgezählt. Erstaunlich für mich: Während „wir“ gerade erst mit der „Zählung“ begannen, feierten oder greinten schon die Gewinner und Verlierer der Berlin-Wahl 2016 im Fernsehen über ihre Zahlen. Was stimmt da nicht? Fragte ich mich. Nun ja. Wer es weiß, kläre mich auf. Der Hausmeister schloss mir die Schule wieder auf und ich hüpfte zufrieden über die Zählkünste meiner Wahllokalmannschaft und ihren unaufgeregten Fleiß nach Hause und entkorkte eine Flasche Sekt. Auf Elisabeth, die Wahlbeobachterin!