„Es gibt Momente da stellen sich die Weichen und selten, und selten von allein…“

Tage gibts, da ist alles Scheiße. Da zweifelt man am eigenen Lebensentwurf. War das alles nichts? Habe ich überhaupt mal irgendetwas richtig gemacht? Gibt es eine Rettung – so in der Zukunft? Natürlich kennt das fast jeder. Ich ganz besonders, die Stimmen in mir murmeln den ganzen Tag auf und ab und auf und ab. Und sie sagen mir unentwegt, dass alles, was ich tue, nicht gut genug ist. So geht das schon mein Leben lang. Es hat sich nicht viel geändert. Nur dass ich mit diesen Stimmen ziemlich alt geworden bin und irgendwie alles – wie schon immer – weitergeht.

Auf die Frage, wie ich zum Radio kam, kann ich eine kleine Geschichte erzählen, die gleichzeitig meine Theorie bestärkt, dass es ohnehin egal ist, was wir bewusst tun, um – wie es so schön heißt, vorwärts zu kommen. Wir können auch auf den „Zufall“ warten und diesen Zufall erkennen. Oder würdigen. Oder gar nichts tun. Es ist egal. So ein Zufall kommt in unser Leben. Und dieser Zufall trägt oft einen Namen. Meist den einer, nicht in unserem inner circle befindlichen Person. Es kann eine Person sein, die unser Leben umkrempelt, von der wir das nicht erwartet haben. Sie tritt in unser Leben. Und sie geht (oft) auch wieder. Sie stellt nur die Weichen. Das habe ich schon einige Male erlebt. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, nehme aber an, dass ich nicht die ganz große Ausnahme bin, sondern dass viele so etwas kennen. Es kommen plötzlich Menschen in unser Leben, die etwas für uns bewirken, das wir nicht für möglich gehalten haben.

Und es war ein Tag, an dem mein Leben, meine gescheiterten Lieben, meine noch mehr gescheiterten Arbeitsverhältnisse und überhaupt „alles“ mich der Verzweiflung anheimgegeben hatten. Mit einer Flasche Wodka lag ich auf meinem Bett und wollte mal wieder sterben. Eigentlich. Da rief eine entfernte Bekannte an, um sich zu erkundigen, ob ich wüsste, wo sich meine damals ziemlich beste Freundin Petra aufhielte. Ich wusste es natürlich nicht und sagte das auch. Fragte aber, was sie denn von Petra wolle. Die entfernte Bekannte teilte mir verschwörerisch mit, sie hätte Karten für „Die Stones“ für Petra, die sich diese doch so sehr gewünscht hätte. Aber sie könne Petra einfach nicht erreichen. Und die Zeit dränge. Übermorgen sei doch schon der Termin! „Willst Du vielleicht Stones-Karten?“ – Ich – abgetörnt durch mein 1990er Erlebnis mit den Stones im Olympia-Stadion in Berlin, bei dem ich Mick Jagger als kleines dürres Männchen weit weit vorn auf der Bühne herumspringen und so wirklich nur auf der Videoleinwand gesehen hatte – rief ins Telefon: „Gott bewahre! Ich will keine Stones! Ich will ein Praktikum oder so was ähnliches!“ – Die entfernte Bekannte sagte ungerührt: „Dann mach doch ein Praktikum bei uns!“ – Mir fiel ein, dass sie bei einem damals noch relativ unbekannten Radiosender arbeitete, der sich gerade erst gegründet hatte. „Meinst Du, das ginge, die würden mich nehmen?“ – Sie: „Warum nicht? Ich kümmere mich.“ Sagte es und legte auf. Ich vergaß das Gespräch schnell und widmete mich dem Weltschmerz und der Wodkaflasche. Ein paar Tage später klingelte wieder das Telefon. Sie gab mir einen Termin mit dem Radio-Senderchef. Ich fuhr hin. Schien alles richtig gemacht zu haben, bekam das Praktikum von einem Vierteljahr. Und – nach dem Vierteljahr – durfte ich als freie Mitarbeiterin dort weiterarbeiten. Es war der Beginn meiner Radio-Karriere, die 22 Jahre andauerte.

Was wäre heute mit mir, hätte ich die Stones-Karten gewollt. Ich wage es nicht zu denken… Oder spinne mir irgendwas zurecht. Wer weiß, vielleicht wäre ich jetzt Bundeskanzlerin… oder säße an der Kasse bei Lidl oder schriebe erfolglose Romane oder hätte einen reichen Mann geheiratet und züchtete Rosen. Tja, niemand weiß das so genau. Ich schon gar nicht.

(Überschrift nach einem Songtext von Hansi Biebl)

Foto: Anna – meine Enkelin – und ich – genau zu dieser Zeit.

Ich besitze die deutsche Tugend der heilsamen Ordnung nicht…

Alle Geschenke eingepackt. Knietief im Chaos. Überall Papier, Kartons, Tütchen, Cellophanhüllen, dazwischen ein Glas Erdbeerwein, Süßigkeiten, die ich nicht esse, der neue Laptop und zwei alte, Bürokram über Bürokram und Bücher und immer wieder Papier, ich sortiere, werfe weg und befinde mich im Arbeitszimmer, gleichzeitig Zimmer für alles, meine Mondlampe und ein Weihnachtsgesteck von Tante Anni leuchten und ich denke über das Leben nach. Weihnachten ist ein Geburtstermin. Denke nicht mehr über das Leben nach. Sondern über das Chaos. Kann aus Chaos selten Ordnung machen. Ein Defizit, das ich in diesem Leben nicht mehr ins Positive umkehren werde. Ich besitze die deutsche Tugend der heilsamen Ordnung nicht. Jedenfalls nicht jeden Tag. Meine österreichische Freundin, sehr ordentlich, um seelischen Beistand gebeten, meint lakonisch: Das ist nicht wichtig! – Ok, das ist nicht wichtig.