Holger Biege ist gestorben. Das sagt sich so leicht, es sei „besser für ihn gewesen. Das ist doch kein Leben!“ Gelähmt durch einen Schlaganfall, nicht mehr das machen könnend, was ihn auszeichnete: Musik. Ob das, was ihm noch blieb, ein Leben war, wusste nur er allein. Er hat dieses Leben fünf Jahre geführt. Ich habe für ihn gespendet, vor zwei, drei Jahren. Es ging um ein Auto, das extra für ihn umgebaut wurde, damit er auch zu Veranstaltungen fahren kann. Eine sehr schöne Aktion war das, daran habe ich mich gern und stillschweigend beteiligt. Ich war es ihm schuldig. Denn er hat mir Glücksgefühle geschenkt. Mit seinen Liedern. Das erste – nicht Glücksgefühl, sondern heute würde man es „WOW“-Gefühl nennen – löste er 1977 bei mir aus. Mit seinem ersten Song, der im DDR-Radio gespielt wurde. Ich weiß es noch genau: Ich stand in unserer Küche in Leipzig, damals noch in der Tschaikowskistraße im Waldstraßenviertel, und hörte „Als der Regen niederging“. Ich hörte das und war wie erstarrt. Und ich sagte zu Peter: „Wer war das? Der hat deutsch gesungen und es klingt trotzdem wie ein Amerikaner.“ Zumindest so, wie ich mir einen deutsch singenden Amerikaner damals vorstellen konnte. Der Gesang und das Arrangement: Es war anders. Ich ließ das Radio an und wartete tage-, ja sogar wochenlang immer auf diesen Biege-Song. Dass das von einem Holger Biege war, brachte ich schnell in Erfahrung. Peter war ein großzügiger Mensch, wenn es um die Bewertungen der Leistungen anderer Rockmusiker ging. Er war verschwenderisch in seinem Lob und ging locker mit Bewunderung um. Aber nicht, wenn ich einen anderen besser fand, als ihn. Das bitte nicht! Kurz darauf lernte ich den Ausnahmemusiker der DDR-Rockmusik kennen und ab diesem Zeitpunkt mochte ich ihn noch mehr. Holger Biege war nicht nur ein großartiger Musiker, er war auch intelligent und – gebildet. Unter DDR-Rockern nicht unbedingt die hervorstechendste Kombination. Holger und ich lernten uns bei Peters damaligem Band-Chef, Wolf-Rüdiger Raschke, kennen. Dieser gab im Haus seiner Eltern, in der Kellerbar, eine Art Party, zu der auch Berliner Musiker und Musikjournalisten geladen waren. Einer von diesen brachte Holger Biege mit, der damals der Newcomer-Star in der Szene war. Er war keine rasante Erscheinung und tat auch – wie es schien – nichts dafür. So ein bisschen wirr um den Kopf, nachlässig gekleidet. Aber eine scharfe Zunge. Im Laufe des Abends kam er zu mir: „Du bist also die Frau von Cäsar! Und – macht es Spaß mit ihm?“ – Eine seltsame Frage. Ich wusste vor Schreck nicht, was ich antworten sollte. Irgendwas wahrscheinlich. Wir unterhielten uns an diesem Abend noch ausführlich über ihn und seine Musik. Ich erzählte ihm, dass ich seine Schallplatte oft hoch- und runterhöre, er meinte, dass er vieles ganz anders machen würde. Wenn er könnte, wie er wolle. Im Kopf ist mir nur geblieben, dass er den Namen Karlheinz Stockhausen erwähnte, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, und dass er mit glühenden Augen rief: „Wer in meiner Band spielen will, muss machen, was ICH will. Ansonsten geht das nicht für mich.“ Er sprach nicht sächsisch, wie die meisten Musiker in der DDR. Er sprach hochdeutsch, denn er stammte aus Greifswald. Heute Mecklenburg-Vorpommern. Ich war fasziniert von diesem großen, irgendwie unbeholfenen, aber messerscharf denkenden Mann. Der dazu noch kreativ war. Leider trank er etwas zu viel. Das kannte ich ja schon von meinem Mann Peter. – Im darauffolgenden Jahr habe ich ihn in meiner Eigenschaft als „Kulturpolitische Mitarbeiterin“ in einem Kulturhaus zu einer Veranstaltung eingeladen. Da holten mich die Türsteher, weil da ein „Mann draußen steht, der behauptet, hier spielen zu wollen“. Ich ging zum Einlass und da stand Holger. Im Schipullover mit einem Dederonbeutel in der Hand. Er war mit dem Zug gekommen. Wie ein Star sah er nicht aus. Ich sagte zu den Männern am Einlass: „Das ist Holger Biege!“. Und sie schauten mich ungläubig an. Ich freute mich, ihn mal wieder zu sehen und ging mit ihm in die Künstlergarderobe hinter der Bühne. Er sagte, er müsse erst einmal etwas trinken. Und schenkte sich ein großes Glas Schnaps ein. Und dann noch eins. Sonst könne er nicht auftreten. Er war damals 26. Da verzieh der Körper das noch. Später setzte er sich ans Klavier und legte einen grandiosen Auftritt hin. Ganz allein. Holger Biege und das Klavier. Und sein Gesang. Wunderbar. – Das letzte Mal sah ich ihn auf einem Stadtteilfest im Prenzlauer Berg zu Beginn der Neunziger. Er trat dort auf. Ich war zusammen mit Peter dort. Er freute sich, uns zu sehen, und wir tranken nach seinem Auftritt noch etwas zusammen. Holger erzählte von seiner Zeit im „Westen“ und wie schwer es gewesen sei. Das wussten wir ja schon von vielen anderen und von uns selbst, wie ernüchternd das als ehemals bejubelter Künstler aus der DDR war. Er hatte auch eine neue Schallplatte gemacht, die er uns signiert schenkte. Es war wirklich noch eine Schallplatte. Ich hörte sie mir an und es gefiel mir nicht mehr. Nicht so, wie damals, als der „Holger-Biege-Regen“ auf mich niederging. Nicht mehr wie damals. Aber es war sein Werk, auf das er stolz war. Er hat sich – entgegen seinem Namen – nicht verbiegen lassen. Er hat weiter so komponiert, wie er es wollte, er hat weiter so getrunken, wie er es wollte. Er war ein starker Charakter mit einer sehr dunklen Seite. Wie alle großen Künstler.