Auftragsarbeit: Herr Kaiser von der Stasi oder „Guck nicht so romantisch, Hasi!“

Ja, das ist eine Überschrift, da liest man gleich weiter, oder? Wer ist Herr Kaiser von der Stasi? – Ich weiß das bis heute nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Im Notizbuch von Peter Cäsar Gläser – das ich in den Siebzigern und auch noch Achtzigern regelmäßig durchforstete, stand der Name Peter Kaiser, ohne Adresse, aber mit Telefonnummer. Da ich normalerweise nach Frauennamen schaute, ob ein neuer dazu gekommen ist oder eben nicht, fiel mir dieser Name irgendwann auch auf. Ich fragte Peter, wer denn Peter Kaiser bitteschön sei. „Ach, nicht so wichtig, mit dem bin ich in die Schule gegangen. Er ist ein Karussell-Fan.“ Mmh. Der Karussell-Fan rief ab und an bei uns an. Peter benahm sich anders als sonst, wenn Karussell-Fans anriefen. Ich dachte, dass in Wahrheit eine Frau dahintersteckt und es Herrn Kaiser gar nicht gibt. Doch es gab ihn, nur hieß er nicht Peter Kaiser. Dennoch geht er in meine Geschichte ein, als Herr Kaiser von der Stasi. Der Führungsoffizier meines Mannes.

All das wusste ich (noch) nicht, auch nicht, dass uns Herr Kaiser von der Stasi in die damalige Tschechoslowakei „schickte“. Wir sollten Christian Kunert treffen, den früheren Keyboarder und Sänger der bereits seit 1975 verbotenen Band „Renft“. Christian Kunert, genannt Kuno, lebte schon länger in Westberlin. Er war – gemeinsam mit Gerulf Pannach – 1976 im Zuge der Biermann-Ausbürgerung verhaftet und nach einem dreiviertel Jahr gleich aus dem Knast in den Westen entlassen worden. Irgendwie muss das Herrn Kaiser von der Stasi und seinen Auftraggebern in Berlin nicht gefallen haben. Sie glaubten, man könne Kuno für den Sozialismus zurückgewinnen. Der Überbringer dieser frohen Botschaft sollte Peter sein. Peter wusste, dass ich Kuno sehr mochte und schlug mir vor, dass wir uns mit ihm in Karlsbad treffen könnten. „Das wäre doch schön. Wir nehmen Robert mit und die Mutter von Kuno und fahren mit dem „Wolga“ in einen kleinen Urlaub in die Tschechei! Juchhu.“ – In Karlsbad mussten wir uns treffen, weil Kuno nicht in die DDR einreisen durfte, wie fast alle, die die DDR gen Westen verlassen hatten.

Ich freute mich sehr, wir telefonierten nach Westberlin und verabredeten uns mit Kuno. (Es war nicht immer so, dass man Telefongespräche führen konnte. Man musste diese beim Fernamt anmelden und wurde dann nach Stunden durchgestellt oder eben nicht.) Es war Mitte der Achtziger, es war Sommer und wir mussten nur eine Grenze überwinden. Die DDR-Grenze in die CSSR. Wir fuhren an einen Grenzübergang im Erzgebirge und wurden gefilzt. Man nahm unser Auto total auseinander, ich musste unsere Koffer auspacken, und die gierigen Zollfrauen wühlten in meinen Schlüpfern herum. Sie fanden 2,50 DM in Forumschecks in meinem Portemonnaie. Forumschecks waren das Spielgeld der DDR für die damaligen „Intershops“, in denen man nur für Devisen einkaufen konnte, also vorzugsweise für DM. Wir, als DDR-Bewohner, mussten aber die DM vorher bei der Staatsbank in diese Forumschecks umtauschen. Die Zollbeamtin meinte: „Das sind Devisen. Die dürfen Sie nicht ausführen!“ – Ich sagte, dass das Forumschecks seien, mit denen man bei den Tschechen nichts anfangen könne. Und provozierte die Dame noch. „Sie können das gern behalten, ich schenke es Ihnen!“ – was sie empört zurückwies. Die 2.50 Forum-DM wurden beschlagnahmt. Außerdem hatte Peter aus Versehen in seiner großen Tasche von den letzten Band-Muggen mit „Cäsars Rockband“ noch einen großen Teil der Gagen. So 1500 Mark in Ost. Auch das mussten wir abgeben. Wir erhielten Quittungen und man stellte uns in Aussicht, das Geld bei der Rückkehr wieder mitnehmen zu dürfen. Dann passierten wir die Grenze. Man muss dazu wissen, dass man damals in der Tschechoslowakei nur 30 Mark am Tag in tschechische Kronen umtauschen durfte. Das war nicht gerade viel, um über die Runden zu kommen. Aber Kuno, der „reiche Westonkel“ kam ja, und er mietete uns ein Häuschen im Wald.

Ein Wald, verwunschen, wie in meiner Kindheit im Erzgebirge bei meinen zahlreichen Verwandten dort. Böhmen. Ein Häuschen, heruntergekommen, wie es schlimmer nicht ging. Man sieht es auf dem Foto. Peter und ich sitzen am Tisch. Über uns dieses unsägliche Bild und überall zerfetzte Tapeten und Spinnweben. Aber egal, es war schön, Kuno zu treffen. Er brachte seine damalige amerikanische Freundin Suzie mit und wir haben natürlich wieder viel zu viel getrunken, man sieht es an der großen Wodkaflasche auf dem Tisch. Kuno hatte einen Berg mit Lebensmitteln, Wein, Obst und Gemüse mitgebracht. Ganz normale Supermarktware, für uns damals ein Festmahl am Morgen und am Abend. Am Tag gingen wir Knödel essen und tschechisches Bier trinken. Peter konnte seine „Mission“ nicht erfüllen, weil er an den zwei Abenden beizeiten so betrunken war, dass er einschlief. Auch Suzie war aus dem Rennen, die Kuno-Mutter und Robert ebenfalls.

Nur Kuno und ich haben fast bis zum Morgen gequatscht, wie in alten Leipziger Zeiten. Er war sehr verändert. Acht Jahre Westen hatten einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Ich habe mich beinahe in ihn verliebt. Und er sagte: „Guck nicht so romantisch, Hasi!“ – Hasi hat Kuno immer gern gesagt, da erkannte ich ihn wieder. Hätte Peter den „Auftrag“ an ihn herangetragen, wäre Kuno sicher vor Lachen umgefallen. Aber es kam nicht dazu, weil Peter das wahrscheinlich doof und aussichtslos fand, außerdem war er nie mit Kuno allein. Es war ja auch noch Kunos Mutter da. Und abends, wie gesagt, König Alkohol verhinderte Schlimmeres. So fuhren wir zufrieden und Peter unverrichteter Dinge nach Hause. Wieder große Kontrollen. Geldrückgabe.

Irgendwann Leipzig, das wir ein paar Jahre später in Richtung Westen verlassen würden. – Dass Peter im Auftrag von Herrn Kaiser von der Stasi mit uns ins kleine Häuschen zum Treffen im Böhmischen Wald gefahren war, hat er mir erst 1991 erzählt. Ich konnte es nicht glauben. In den Stasi-Akten las ich, dass die Operation „Kind“ hieß, warum auch immer. Im Zuge der Operation „Kind“ wurde auch ich „aufgeklärt“. Die Stasi strich Peter kurz darauf als „Mitarbeiter“. Weil er unzuverlässig sei und weil er eine Frau hätte, die ihn eindeutig staatsfeindlich beeinflusse. Habe ich auch in den Akten gelesen. Sie hatten Recht. – Auf meine spätere Frage, warum er mit mir zu diesem Treffen mit so einem unmöglichen Auftrag gefahren sei, antwortete er: „Kuno wollte ja eigentlich nicht in den Westen.“ Das stimmt. Ich denke aber, nach acht Jahren Westen war seine Meinung da eine andere. Das hat Peter wohl auch gemerkt. Im Gegensatz zu ihm ist Kuno nie wieder nach Leipzig zurückgekehrt. Die Operation „Kind“ der Abteilung Auslandsaufklärung der Staatssicherheit der DDR war gescheitert. Vielleicht hätten sie nicht so ein romantisches „Kind“ schicken sollen, wie Peter eines war.

Das Rätsel der Nagellackflasche – Mach Dich nicht so schön, Kind! und – als Peter Cäsar Gläser mich wegen einer Nagelschere verlassen wollte…

Dieses Bild ist von 1982. Da hatte ich noch meine berühmten Zöpfe, hier als sogenannte Rattenschwänze, wie das damals hieß. Dazu ein – nun ich würde sagen – beinahe operettenhaftes Kleid, in Schwarz, das ich aber eben auch in der Küche trug. Komisch, dass auf allen Fotos aus dieser Zeit Bierflaschen herumstehen, wahlweise auch Weinflaschen, fast immer eine Nagellackflasche, wie hier. Ich überlege, ob Nagellackflaschen in der DDR immer so aussahen, vielleicht kann mir jemand aushelfen – mit Nagellackflaschenerinnerungen.

Was mir noch einfällt: Es war die Zeit, als meine Mutter, nachdem mein Vater 1977 bei einem Autounfall tödlich verunglückt war, das erste Mal mit ihrem „neuen“ Mann bei uns erscheinen wollte. Ich sagte ihr zu, dass ich die beiden vom Hauptbahnhof in Leipzig abholen werde. Sie raunte verschwörerisch ins Telefon: Elisabeth, bitte mach Dich nicht so schön! – Gut, mach ich – nicht. – Ich ging also ungeschminkt und lässig gekleidet auf den Bahnhof und harrte der Dinge. Aus dem Zug stieg meine Mutter mit – meinem Vater! Nein, das konnte nicht sein. Er war ja begraben – auf dem Magdeburger Westfriedhof. Dieser Mann, neun Jahre jünger als meine Mutter, sah – nun ja, von Weitem… – aus wie mein Vater! Später habe ich gelesen, dass viele Frauen, vielleicht auch Männer, nach Verlust eines Partners zielstrebig etwas Ähnliches suchen. Ich muss sagen, dass auch ich nicht frei davon war. Als mich die erste große Liebe verließ, ich, dem Selbstmord nahe, lange Zeit brauchte, um überhaupt über eine neue Partie nachzudenken, dann aber doch – Ausschau hielt…. welchen Männern schaute ich nach? Genau. Den Typen, die aussahen, wie der mich schmählich verlassen Habende. Seltsamerweise sah er aus wie Eberhard Esche, der berühmte DDR-Schauspieler. Das erklärt vielleicht meine temporäre Groupie-hafte Begeisterung für Esche, der, wie ich heute höre, nachdem ich beinahe dreißig Jahre in Berlin lebe, ein leichtes Sächsisch sprach. Vielleicht auch das eine heimatliche Anmutung, die ich damals aber (noch) nicht an mir bemerkte.

Zurück zum Bild. Nagellack. Ich habe bis zu meinem 38. Lebensjahr grundsätzlich immer meine Fingernägel abgeknabbert. Ja, bis aufs Blut, bisweilen. Ich hatte es einfach nicht im Griff. Sah ich einen spannenden Film, las ich ein interessantes Buch oder führte ich eine verbale Auseinandersetzung – ich beraubte mich der Fingernägel, ehe ich es versah. Klingt lustig, war es aber nicht. Nichtsdestotrotz, in jungen Jahren will frau schöne Fingernägel. Heute geht sie ins Nail-Studio und lässt sich halt künstliche draufpinnen. Aber damals half nur roter Nagellack auf die Restbestände. Ich tat das. Und schwor mir jeden Tag aufs Neue, diese frustrierende Kauerei sein zu lassen. Der Mann meines damaligen Lebens, Peter Cäsar Gläser, trieb mich beinahe täglich dazu, den Schwur zu brechen. Auf dem Foto sieht man das natürlich nicht. Denn ich blicke nicht stumm auf dem ganzen Küchentisch herum, sondern parliere anscheinend lieb und nett mit den anwesenden Gästen, die man nicht sieht. Aber die waren da. Ganz bestimmt. Wie sie immer da waren. Ein paar Monate später habe ich mir mit einer Nagelschere (Nagel!) die Haare abgeschnitten. Es war Anfang 1983. Es war die Zeit der Punks, die gerade angebrochen war. Die Punks – in Gestalt der Leipziger Band „Wutanfall“ – probten in unserem Keller – und ich wollte auch so ein Punk sein. Oder irgendwie zu denen gehören. Ich war noch nicht konservativ, sondern träumte vom Fortschritt. Und der Fortschritt hieß damals: Weg mit den Hippies, her mit den Punks. Alte Zöpfe ab. Peter sagte: Wenn Du Dir die Haare abschneidest, verlasse ich Dich! – Ok, das will ich wissen! – Ich nahm die Schere und stellte mich vor den Spiegel. Peter verließ das Haus. Und kehrte irgendwann nachts zurück. Die Zöpfe waren ab. Es sah irgendwie cool aus. Natürlich haben wir das 1983 nicht gesagt. Denn „Cool“ gab es noch nicht. Die Zukunft lag noch vor uns.

Foto: Ich – noch mit Rattenschwänzen kurz vor der Umgestaltung.