Die Nora vom anderen Stern – zum heutigen Geburtstag meiner Mutter

Ich habe überlegt, wie sollte zum 93. Geburtstag meiner Mutter – schriebe ich etwas über sie – die Überschrift lauten? Die Nora vom anderen Stern. Das fiel mir sofort ein. Warum? Die Nora, eigentlich Eleonora, wurde in Rio de Janeiro geboren. 1930 an einem 5. September. In einem damals hochmodernen Gebärstuhl. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie so eine Geburt vor sich ging, aber ich weiß es von meiner Großmutter, die dieses Kind zur Welt brachte. Es war vermutlich sehr heiß, der Zuckerhut war nicht weit, diese Eleonora, das A am Ende des Namens war gängiger in Brasilien für ein Mädchen, also diese Nora, wie sie später hieß, bekam als Geburtsort Rio. Geboren in der Stadt des Januarflusses. Rio de Janeiro. Ich habe noch schöne Schwarz-Weiß-Fotos. Auch vom großen Jesus, der über all dem wachte.

Die Nora wuchs dann doch im deutschen Erzgebirge auf. Gemeinsam mit der fast gleichaltrigen Schwester Elisabeth, nach der ich benannt wurde. Die Elisabeth. Wir müssen sie erwähnen, weil sie für die Nora Zeit ihres Lebens eine Konkurrenz war. Elisabeth galt als die Schönere, die Klügere, die Durchsetzungsfähigere, die, die keine Brille brauchte. Meine Mutter erzählte ab und an, dass sie ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und Tante Manni belauschte, in dem Tante Manni zu meiner Großmutter sagte: „Die Eleonora kann der Elisabeth doch nicht das Wasser reichen!“ – Aus diesem, möglicherweise nur so dahingeworfenen, für meine Mutter aber folgenschweren Satz hat sich die Nora ihre Lebensformel gebastelt. Ihre Gewinnformel, wie das bisweilen Coaches nennen. Sie lautete: Du musst besser, in allem viel besser sein, als die Elisabeth! Schöner, klüger, und später ganz besonders auch schlanker, als diese vermaledeite Elisabeth! Dennoch, die Schwestern waren wie Zwillinge und liebten sich selbstverständlich, wie Schwestern sich eben lieben. Verlässlich und immer – auf der Lauer. Wie unter Brüdern – ich kenne das von meinen Söhnen – gibt es auch unter Schwestern – ich kenne das von mir selbst – leider – Konkurrenz. Erst will man den Eltern etwas beweisen und später der ganzen Welt. Die bedingungslose, selbstlose, innige Geschwisterliebe ist stets unterbrochen von kurzen Hassanfällen, weil kein Geschwisterkind sich der Liebe der Eltern so richtig sicher sein kann, so sicher, wie ein Einzelkind. Geschwister müssen teilen. Alles teilen. Das übt fürs Leben. Aber es ist hart.

Elisabeth und Eleonora. Sie trugen große Namen und hatten Großes vor. Sie machten Abitur und kurz bevor sie die Prüfungen ablegen sollten, ließen sie sich vom neuen Sozialismus in der frisch gegründeten DDR überzeugen und traten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, bei. Dies trug ihnen ein, dass sie vom Vater, dem Friedrich, meinem Großvater, von der Oberschule/Gymnasium abgemeldet wurden. Sie blieben standhaft und er meldete sie wieder an. Enterbte sie aber. Für immer. Die Geldgeschichte. Sie verliert sich im Dunkel von Westdeutschland und beim Onkel Otto, der das Geld forthin verwaltete, so dass Elisabeth und Eleonora eben nichts erbten. Was den frischgebackenen Sozialistinnen selbstverständlich egal war. Wir lassen uns nicht mit Geld locken! Wir bauen hier in unserer DDR einen neuen Staat auf, in dem es später – wenn es dann einen Kommunismus bei uns gibt – ohnehin kein Geld mehr geben wird. Also hinfort damit! Wir studieren, meine Mutter Journalistik, meine Tante Elisabeth Ökonomie! Wir verdienen unser Geld – sofern wir noch welches brauchen – selbst! Es lebe der Sozialismus und der Aufbau unseres Landes! Jawohl! Beide heirateten. Beide hatten sehr nette Männer, die diesen sehr dominanten Frauen ein weiches Bett boten. Beide hatten zwei Kinder. Und sie bauten den Sozialismus auf. Meine Mutter als Journalistin. Meine Tante Elisabeth in leitenden Stellen in Berliner Großbetrieben und später Ministerien. Elisabeth war immer noch ein bisschen mehr vorn. Sie wohnte in Berlin. Meine Mutter nicht. Elisabeth verdiente mehr Geld. Und sie fuhr Auto. Außerdem rauchte sie. Meine Mutter niemals. Dafür trank sie. Aber das ist ein extra Kapitel. Immerhin war die Nora – als dann die fetten Jahre kamen – schlanker, sie befolgte die regelmäßig per Brief eintreffenden Diät-Rezepte von Elisabeth. Elisabeth gelang das nicht so gut und dauerhaft.

So bin ich dann groß geworden. Vollgetankt mit kommunistischen Idealen und später auch mit Schlankrezepten. Bis ich marxistisch-leninistische Philosophie in Leipzig studierte und immerhin dadurch so viel Denken lernte, dass ich der reinen Lehre, wie sie meine Mutter vertrat, abschwor, aus dem heiligen Zirkel der Sozialisten austrat und fürderhin mit meiner Mutter nie mehr einig werden konnte. Wir stritten uns regelmäßig, solange sie noch bei Sinnen war.

Die Nora war vom anderen Stern. Sie hielt am Ideal fest, egal, was passierte. Sie schwärmte gegen Ende der DDR von Gorbatschow, das war die einzige Untreue – gegenüber dem Honecker in diesem Fall. Später war der „Gregor“ ihr Liebling. Und die Linke ihr Lebensinhalt.

Als sie im vorgerückten Alter leider ihre Erinnerungen verlor, dachte ich, die Linke würde das Letzte sein, was ihre gelöschte Festplatte im Hirn doch ab und an aufscheinen ließe. Und lange Zeit war das auch so. Sie las das „Neue Deutschland“ bis zum Schluss, wenn sie es auch nicht mehr wirklich verstand. Sie schaute ab und an sogar die Tagesschau. Politik war ja früher mal ihr Leben. Aber es gab ja noch dieses Schwester-Konkurrenz-Leben. Schöner und schlanker. Und so siegte letztlich – nach vielen Jahren der Magersucht – ich bin viel schlanker, als meine Schwester! – der Lippenstift. Das letzte, was sie von mir wollte, dass ich es ihr mitbringe, war ein schöner Lippenstift. Und ich tat es gern. Denn:  Was ist der Sozialismus gegen einen schimmernden Perlmuttstick. Nicht viel. Stimmts?

Foto: Mein Großvater Friedrich, genannt Fritz, mit meiner Mutter Eleonora und ihrer Schwester Elisabeth

Wir Kinder vom Bahnhof Ostkreuz – Mein Friedrichshainer Mädchen oder die Enkel der DDR

„Die sieht ja aus, wie meine Mutter!“, sagt der frischgebackene Vater zur frisch geborenen Tochter. Vater Robert, mein Sohn. Tochter Anna, meine Enkelin. „Die sieht ja aus wie eine von der Tschuktschen-Halbinsel!“ – kreischt Tante Illi im breiten Erzgebirgisch. Illi – mit dem Zug herbeigeeilt, um zu helfen.

Die Tschuktschen-Halbinsel liegt im fernen Ostsibirien der früheren Sowjetunion, heute Russland. In der DDR-Zeit gab es Romane, aus denen man erfahren konnte, wie die Tschuktschen, ein kleines Völkchen, leben, und wie man sowjetkommunistisch auf sie einwirkte, was nicht wirklich funktionierte. Die Tschuktschen wollten ihre alten schamanischen Riten behalten. Tante Illi wusste also, was die „Tschuktschen“ sind. Ich wusste es auch. Sonst niemand im Raum. Wie sie aussahen, konnte man jetzt besichtigen. Die Enkelin wirkte ein wenig japanisch. Knallschwarze Haare. Vorerst asiatischer Augenschnitt. Rundes Gesicht. Wie eine kleine Tschuktschin, fürwahr! Ich war sofort verliebt. Wir waren alle verliebt.

Die kleine Tschuktschin verwandelte sich innerhalb eines halben Jahres in eine Europäerin. Heute ist ihr 25. Geburtstag. Heute tanzt sie in der „Eisenstadt“ in Sachsen-Anhalt, genannt Ferropolis, auf einem Festival. Festivals – ihr Sommerhobby. Das Wetter ist wundervoll. Damals – an diesem Julitag vor 25 Jahren – war es das auch.

Ich arbeitete zu jener Zeit in einer Agentur in Hamburg als Texterin. Und wohnte mit einem Freund in einer WG. Als ich spät abends nach Hause kam, lag da ein Zettel auf dem Küchentisch. „Du bist heute Abend gegen 21.00 Uhr Oma geworden.“ Dazu ein typisches Oma-Piktogramm. Ältere Dame mit Nerle oder Dutt.

Ein Handy hatte ich damals noch nicht.

Ich war überwältigt. Meine erste Enkelin! Zur Welt gekommen in einem exotischen Geburtshaus in Berlin-Prenzlauer Berg bei Kerzenschein und Weihrauchgerüchen, das Saskia, Annas Mutter, sich ausgesucht hatte. Robert filmte die Geburt. Ein Dokument, das meine Mutter – nunmehr Urgroßmutter – zum Weinen brachte. Aufgenommen mit einer Videokamera, die es heute nicht mehr gibt. Gebannt auf eine Kassette, die es heute auch nicht mehr gibt.

Wir hatten alle noch kein Handy.

Mein geliebtes Friedrichshainer Mädchen war auf der Welt. Und ich habe mir und ihr versprochen, dass ich alles für sie tun werde, was in meiner Macht steht. Eines der wenigen Vorhaben meines Lebens, das ich tatsächlich in die Tat umgesetzt habe, ohne Wenn und Aber, mit all meiner Kraft, mit all meinem Vermögen, womit ich nicht nur Geld meine. Das aber auch. Ich hatte sogar Saskia versprochen, dass ich eine Nasen-OP bezahlen würde, falls Anna später so eine große Nase wie ihr Vater bekommen sollte. Das Geld musste ich nicht ausgeben, Saskias Nasen-Gene waren vermutlich stärker. Anna hat sich von beiden Eltern das Beste zu einer großartigen Mischung zusammengestellt.

Jetzt haben wir alle ein Handy.

Mein Friedrichshainer Mädchen wohnt noch immer und aus Überzeugung im Friedrichshain. Das Friedrichshainer Mädchen traf sich gestern mit seinen Freundinnen und Freunden am Bahnhof Ostkreuz, nicht um abzuhängen, nein, die haben gemeinsam einen Bus gemietet, der sie zum Festival nach Ferropolis bringt. Ausgestattet mit Feierlaune, Zelten, Powerbänken und großen Handys. Mit ihren Handys korrespondieren sie immerdar, den ganzen Tag und die halben Nächte, montags bis sonntags und das seit Jahren miteinander. Ein ständiges Handyrauschen um sie herum. Die (Ost)kinder vom Bahnhof Ostkreuz. Über dreißig Jahre nach der Wende und der Wiedervereinigung der Deutschen. Diese inzwischen erwachsenen Kinder waren zu jener Zeit noch nicht geboren. Und doch haben sie heute – im Jahr 2023 – ihre ganz persönliche Mauer errichtet, wie ich in Gesprächen erfuhr.

„Wir sind Ostkinder! Und wir sind stolz darauf!“ – „Was heißt das denn?“, frage ich, die ich mein halbes Leben im damals ungeliebten Osten und die weitere Hälfte eher im Westen verbracht habe. „Wir Ostkinder sind anders! Wir sind weltoffener und legen nicht so viel Wert auf Kohle, mehr auf Herzlichkeit! Wir sind auf sozialer Ebene stärker. Und wir berlinern mehr!“ Sie sagen von sich, dass sie „atziger“ sind, als die Wessis. Da musste ich erst einmal googeln. In der Jugendsprache bedeutet „atzig“ so etwas wie cool. Sie sind also cooler. Vermutlich ist das so, schon allein deshalb, weil sie nicht so viele Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten haben und darüber lachen können. Und auch nicht unter Helikopter-Eltern leiden mussten. Immerhin haben sie sich das Wort „weltoffen“ in ihre Welt herübergeholt, ohne daran zu denken, dass das Land ihrer Eltern und Großeltern alles andere, als weltoffen war. Zumindest nicht für die eigenen Bürger. – Woran das denn alles liegen würde, frage ich sie. Es läge an deren Eltern. Also an den Wessi-Eltern. Die sind anders: „Wir haben andere Eltern!“

Während wir damals unbedingt so sein wollten, wie die „Wessis“, so leben wollten wie sie, so reden können wollten, setzen diese stolzen Ostkinder ganz andere Prioritäten. „Wir Ostkinder chillen generell nie mit Wessis“, sagen sie ganz überzeugt.

„Ostkinder“ fahren nur in den Westen, also nach Westberlin, wenn es unbedingt sein muss, meinen sie, weil sie sich dort nicht wohl fühlen würden. Das wäre ihnen ganz fremd. In ihrem eingeschworenen Freundeskreis gibt es keinen einzigen Wessi. „Berlin ist groß! Jeder in seinem Gebiet!“

Ok. Ich nehme das zur Kenntnis. Auch ich bin – nach über dreißig Jahren – zu meinen Ost-Wurzeln zurückgekehrt. Und ich fühle mich seltsam zu Hause. Ich kann das also verstehen, hätte nur nicht gedacht, dass sich die alte Spaltung mit dieser noch sehr jungen Generation neu etabliert hat.

Anna ist mittlerweile Studentin an der Humboldt-Universität, in – natürlich – Ostberlin. Sie will Lehrerin werden. Vordem war sie in Berlin-West an der Hochschule für Wirtschaft und Recht. Es war Corona-Zeit. Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Sie fühlte sich dort unwohl und fremd. Und so vollzog sie einen Hochschul- und Studienfachwechsel. Jetzt ist sie glücklich und redet schon mit mir, als wäre ich ihre Schülerin.

Ich wohne fünf Jahre nicht mehr in Berlin. Anna und ich telefonieren fast täglich. Wir sind auf WhatsApp ganz dicke und ich helfe ihr weiterhin in (fast) allen Belangen ihres Lebens.

Manchmal macht es mich traurig, dass mein kleines Mädchen, meine Tschuktschin, die gern auf meinem Schoß saß, mit der ich fast jedes Wochenende etwas unternahm, jetzt auch und tatsächlich erwachsen ist. Ich sehe sie schon mit dem Zeigestock vor der Klasse stehen. Falls es dann noch Zeigestöcke gibt.

Was bleibt? Sie gibt mir immer noch gute Ratschläge, wenn es um Cremes und Make-up geht. Und wenn sie anruft, habe ich meist eine Schrecksekunde Angst, dass etwas passiert ist, dass sie weint und ich sie trösten muss.

Irgendwann wird auch das vorbei sein. Irgendwann ist sie vielleicht auch eine Großmutter. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich am heutigen Tag glücklich und traurig zugleich bin.

Irgendwann fällt uns allen ein Handy oder so etwas Ähnliches aus der Hand.

Foto: Anna und ich einen Tag nach ihrer Geburt.

Endlich Siebzig – Oder: Man ist so alt, wie man sich fühlt!

Zunächst steht da dieser saublöde Satz. Ich sage: Nein! Man ist nicht so alt, wie man sich fühlt! In jungen Jahren fühlt man sich zumeist älter und auch irgendwie weiser, als die Anderen denken. Jedenfalls selten übermäßig jung. Oder will noch nicht einmal jung sein, weil man es eben IST. Später, genau ab dem Moment, in dem man den magischen Satz, dass man so alt oder eben so jung sei, wie man sich fühle, erstmalig von sich gibt, ist man alt. Oder älter. So alt, dass man gern wieder jünger wäre. Es kommt der Moment, an dem ein jeder oder insbesondere eine jede begreift: Ich bin nicht mehr jung. Und das kommt auch nicht wieder. Es hieß in den Neunzigern in entsprechender Frauenliteratur feministischer Art drohend: Eine Frau stirbt zweimal – als Frau, das wäre Nummer 1 – und als Mensch, die Nummer 2. Oder das Ende. Ich sage immer zu meiner Enkelin: Jede Frau hat ihre Zeit! Nutze sie!

70 also. Meine Familie hat mich überrascht. Ich dachte, ich könnte diesen Geburtstag verstecken. Hatte niemanden eingeladen, wie ich es normalerweise immer tue, es war auch mitten in der Woche. Da hat ohnehin keiner Zeit. Sie hatten Zeit. Ich musste mich um nichts kümmern. Ein Blumenmeer, für mich extra angefertigter Wein mit Elisabeth-Etikett, eine gemietete Kneipe oder Gaststätte, wie der Ostler sagt, hier in Magdeburg. Alles dabei. Und ich mit Tränen in den Augen – natürlich nagte am Ende das schlechte Gewissen an mir. Am Geburtstag mit reichlich Weißwein unterdrückt. Ich merke immer wieder, wenn ich nicht die Kontrolle habe – über irgendein Geschehen, und sei es der eigene Geburtstag – habe ich Probleme. Mit mir. Es wird sich in diesem Leben nicht mehr ändern.

Nun ist es also soweit. Ich bin so alt, wie meine Oma war, als sie gestorben ist. Meine böhmisch-brasilianische Oma, der erst prägende Mensch in meinem Leben. Von Jahr zu Jahr ist sie mir näher. Ich beginne, mit ihr zu reden. Vielleicht lacht sie längst über mich. Weil ich so wehleidig bin. Weil ich morgens beim Aufstehen denke, heute geht aber gar nichts mehr. Es läuft sich dann ein. Ich trinke Wermut-Tee, wie sie es immer getan hat. „Hilft gegen alles!“. Ich studiere alte Fotos. Damit ich die neuen nicht sehen muss. Ich räume die Wohnung auf und denke über den Sinn des Lebens nach. Es hat keinen. Wohnung aufräumen gehört bestimmt auch nicht dazu. Der einzige Sinn, den es letztlich für mich haben wird, sind meine Kinder und Enkel. Ich danke Gott und mir, dass ich sie habe. In letzter Zeit stelle ich mir vor, wie es wäre, könnte ich sehen, wie sie sich an meinem Grab verhalten. Mit Siebzig darf ich das.

Der Sinn liegt garantiert für mich nicht darin, hippieesk zu tun, „was ich schon immer mal tun wollte“. Das liest man ja allenthalben. Da nimmt so eine wilde Großmutter ihr ganzes Geld zusammen, kündigt die Wohnung und kauft sich einen fahrbaren Wohnwagen. Und tourt fortan durch die Welt. Ich nicht. Ich will so ein Gefährt nicht. Ich hasse es auf Parkplätzen herumzulungern, in Kneipen zu essen, auf fremde Klos zu gehen, unter lieblos gechlorten Duschen zu stehen und fremde Menschen kennenzulernen. Ich will keine fremden Menschen mehr. Ich will die, die ich kenne. Die ich schon mein Leben lang kenne. Das Vertraute ist das Wahre. Das Vertraute ist die Liebe, von der immer alle reden. Das Vertraute ist das wahrhaft Geliebte. Liebe ist Vertrauen.

Alt werden ist nicht erstrebenswert. Dass ich weiser bin am Ende, als die Jüngeren, wäre ein Trost, aber keine Garantie. Jünger werden, ist auch keine Lösung, es führt mich in den Uterus der Mutter. Auch ein Tod. So rum oder so herum. Es ist egal. Früher hieß es immer: Ich möchte nochmal zwanzig sein, aber so klug, so gescheit, wie das damals hieß, wie heute! Gott bewahre, wie sollte ich mit meinem jetzigen Verstand unter Zwanzigjährigen aushalten. Ich weiß heute, dass das unmöglich ist. Es würde mich nur wütend machen, keiner verstünde mich. Ich wäre eine Außenseiterin.

Apropos Außenseiterin: Ich falle immer wieder auf. Ich kann nicht unerkannt in der Menge untertauchen. Obwohl es heißt: Alte Frauen werden unsichtbar. Klar, es ist so, dass die Bauarbeiter nicht mehr von Gerüst pfeifen. Ein Unsichtbar-Sein, das zum erwähnten „ersten Tod einer Frau“ gehört. Daran kann frau sich gewöhnen, weil es zwar ein Zeichen ist, dass die so Gestorbene im Markt der wilden Geschlechter unter den Rost fällt. Doch die Frau mit Geist und Einsicht in das Unvermeidliche wird es nach anfänglichem Erstaunen in die immer größer werdende Alterskiste sortieren und den Marktwert anderweitig steigern. Klar, manche lassen dann die wilde Sau raus. Fahren mit dem Wohnwagen durch das Land, malen erotische Bilder, ziehen in Alters-WGs, töpfern oder – gehen zum Seniorentanz, der neuerdings in Erlebnistanz umbenannt wurde.

Es gibt den bundesweiten Verein für Erlebnistanz, auch im Bundesland Sachsen-Anhalt ist er zu Hause. Der Erlebnistanz. Ja, die Senioren von heute. Wollen keine Senioren mehr sein, obwohl das doch viel edler klingt, als Rentner. Meine Schwägerin tanzt begeistert in Mecklenburg-Vorpommern. Und empfahl es mir, um spielerisch der Bewegung zu frönen. Jetzt überlege ich, ob ich den örtlichen Erlebnistanz mal versuche. Vielleicht fällt mir das Aufstehen am Morgen nicht mehr so schwer. Mein Sohn Ben mahnt in regelmäßigen Abständen: Mutter, Du musst Dich mehr bewegen! Kein Wohnwagen, aber Gartenarbeit und Erlebnistanz! Meine nicht wilde, aber gesittete und bewegungsreiche Zukunft?

Ok, ich habe – welch immer noch großes Glück – meine Enkelin Anna. Der helfe ich beim Studium. Oder ich kaufe seltsame Spielzeuge für meine Jungenkel. Meiner Weisheiten wollen die Jungen noch nicht teilhaftig werden. Ich schaue kein öffentlich-rechtliches Fernsehen, manchmal Netflix und beherrsche die sozialen Medien. Einerseits unterhalte ich, andererseits kämpfe ich. An den notwendigen Fronten. Ich tue mein Bestes. Ich bin Siebzig. Da ist das so.

Foto: Elisabeth auf Leipziger Straße – Mitte Achtziger. Da fand ich mich auch schon alt. Fotografiert von Peter Cäsar Gläser.

Die wunderschöne Rede zum Tod meiner Mutter vor neun Jahren von meinem ältesten Sohn Robert Gläser

Sie sah immer super aus und trug nie flache Schuhe! Ich habe ihre Eitelkeit immer geliebt! Wenn ich in Magdeburg zu Besuch war, dachten immer alle ich wäre ihr Sohn. Ich schenkte ihr 1989 zu Weihnachten ein Opium Parfüm…sie hat sich nie wieder ein anderes gekauft und bedankte sich immer wieder für ihren Lieblingsduft, der es fortan war.

Meine liebe Oma, Frau Dr. Eleonora Pfeifer, ich habe dir immer mal wieder 20 Ost-Mark-Münzen aus deinem Schatzkästlein geklaut und habe das Geld sinnlos verfressen… Ich glaube, die hattest du über Jahre gesammelt, aber höchst wahrscheinlich, ohne an ihnen zu hängen. Es tut mir trotzdem leid und ich möchte mich dafür entschuldigen. Aber „Zetti Märchenbohnen“ waren verdammt teuer und ich getraute mich nicht, nach Geld zu fragen, was du mir mit hundertprozentiger Sicherheit gegeben hättest und auch getan hast. Enkel sind eben bescheiden. Auch deine GEHEIM-Sprache „Malifesohu“ bleibt immer in meiner Erinnerung. Alles was du gekocht hast, hat mir einfach nur geschmeckt! Dieser Duft von Schweinekotelett mit Rosenkohl und Kartoffeln. mhhhh ..Außerdem tut es mir leid, dass du mich 1982 mit mahagonirot gefärbten Punker-Haaren und zerrissenen Jeans vom Magdeburger Hauptbahnhof abholen musstest und dir das sehr peinlich war….ich kam mit hoch gekämmten Haaren zu dir und mit runter gekämmten fuhr ich wieder nach Hause. Eigentlich war ich total auf dem „No Future“-Trip und las dann Irma Thälmann „Erinnerungen an meinen Vater“. Ich empfand das aber immer als richtig! Ich kam als Rebell und ging als lieber Junge mit guten Vorsätzen. Deine liebevolle Erklärung, sich lieber ein wenig anzupassen, erschien mir sogar noch ein paar Tage, nachdem ich bei dir war, immer als Notwendigkeit.

Du hast mir viele schöne Kindheitserinnerungen beschert, beispielsweise deinen Vorschlag, meine erste Punk-Band „Flamingo“ zu nennen oder auch, mir immer akribisch meine Ohrring-Löcher zu reinigen und mir zu erklären, dass die Ohrlöcher wieder zuwachsen könnten. Dabei machtest du, als ich 14 Jahre alt war, die Feststellung, dass doch meine Nase ganz schön groß geworden sei, worauf ich mich das erste Mal in meinem Leben in deinem Badspiegel von der Seite spiegelte und diese Feststellung der angehenden Hakennase für mich für kurze Zeit ein Trauma war.

Ich genoss es auch als Kleinkind immer wieder, wenn du mich mit „Heitschi Bum Beitschi“ in den Schlaf gesungen hast. Das Outro dieses Liedes war besonders schön… Dieses bum bum auf meiner Nasenspitze war immer sehr zärtlich und könnte dennoch eine Erklärung für meine Charakternase sein. Meine unendliche Liebe zu DDR-Neubauwohnungen muss ich von dir haben, es war immer so gemütlich und wohlvertraut. Deinen dicken Wohnzimmerteppich hätte ich ohne Zweifel abgeleckt. Beim Mittagsschlaf in deinem Schlafzimmer das Musikantenhöllen-Triptychon von Bosch zu betrachten und mich in deiner immer frisch riechenden Bettwäsche einfach nur sauwohl und geborgen zu fühlen! Ich durfte immer noch Fernsehen schauen, wenn du und Roland schon im Bett waren und die Senderwahl blieb mir ganz allein überlassen. Das war zur damaligen Zeit schon revolutionär und durchaus weltfraulich, darüber hinweg zu sehen, dass ich mich hundertprozentig vom Klassenfeind unterhalten ließ. Außerdem war zu dieser Zeit Westfernsehen, und das in bunt, der absolute Wahnsinn! Dabei fällt mir lustigerweise immer wieder der Film „Gorky Park“ ein, den ich spät nachts sehen durfte. Dieser amerikanische Film mit William Hurt hatte ja doch irgendwo mit dem großen Bruder zu tun. Ganz abgesehen von American Werewolf. Heute habe ich dennoch ein gespaltenes Gefühl zu Amerika. Also keine Sorge! Auch Mischka der Olympiabär von 1980, den du mir aus Moskau mitbrachtest, war eine wichtige Figur meiner Kindheit und nahm mir die Angst vor dem 3. Weltkrieg. Spätestens als Udo Lindenberg den Krefelder Appell unterzeichnete und dies in der Jungen Welt stand, konntest du auch was mit Punk, Rockern und zerrissenen Jeans mit Peacezeichen-Flicken darauf gut finden, außerdem kam dir wahrscheinlich auch langsam die DDR-Staatsführung etwas eigenartig und starrsinnig vor.

Mit meinem schwarzen Cordanzug und einer große Summe Geld für meinen „Geracord“-Kassettenrecorder zur Jugendweihe hast du mich einfach nur glücklich gemacht! Du hast mir meinen „Actionbass“ finanziert, der für meinen Weg als Musiker sehr wichtig war, sinnloserweise mit mir immer wieder Russisch geübt und mir beigebracht, nicht immer oder besser gar nicht „Scheiße“ zu sagen. Es hat nichts genützt, ich kann kein Russisch und finde es verdammt Scheiße, dass du nicht mehr da bist!

Deinen Kampf für die „Diktatur des Proletariats“ habe ich nie so wirklich verstanden, viel mehr beeindruckte mich, dass du in Rio de Janeiro geboren wurdest. Du hast nie irgendetwas von mir verlangt, was ich immer als unglaublich angenehm empfand. Ich habe mich immer sehr gefreut, wenn wir traditionell jedes Jahr alle zusammen Weihnachten gefeiert haben und du und Roland nach Leipzig oder Berlin gekommen seid. Es war auch immer lustig, wenn du bei diesem Anlass meiner Mutter zu kleine Sachen mitbrachtest, die du nicht mehr angezogen hast, und sagtest: „Vielleicht wäre das ja was für dich.“ Wobei du wahrscheinlich gefühlt unter 50 kg gewogen hast. Du sahst eben immer großartig aus!

Ich bereue es zutiefst, dich in deiner Zeit im Heim so wenig besucht zu haben! Ich konnte es einfach nicht ertragen, dich so zu sehen. Es ist eben wirklich dumm zu glauben, es ginge immer einfach alles so weiter und wird irgendwann wieder gut! Ich hoffe du kannst mir das verzeihen, ich werde es wieder gut machen, spätestens dann, wenn wir uns wiedersehen! Wenn du dir ne Flasche Wein mit Rosa (Luxemburg) aufmachst, bestell doch bitte bis dahin, mal kämpferische Grüße! Ich habe dir noch einen zweiten Urenkel, sein Name ist Mio, geschenkt und war zu seiner Geburt am 21.12. 2013 ein Jahr älter als Opa Manfred zu meiner. Lustig, oder?

Du warst immer extrem lieb zu mir und warst der schönste Ausgleich in meiner aufregenden Kindheit! Danke, danke, danke…Ich liebe dich und werde dich nie vergessen! Wir alle werden dich nie vergessen! Dein Enkel Robert

Foto: Meine Mutter Ende der 60er Jahre bei einer Betriebsfeier der „Volksstimme“ Magdeburg, wo sie als Kultur-Redakteurin arbeitete.

 

Zum heutigen Karfreitag – Aufstieg auf den Kalvarienberg Graz oder – Warum ich den Katholizismus liebe

Ganz oben hängt er. Ganz in Gold. Hängt am Kreuz. Vorher trug er das Kreuz. Es war seine Passion. Sein Leiden. Keine Leidenschaft. Oder doch? Ich steige mit meiner Freundin Frieda auf den Kalvarienberg in Graz. Gehe mit ihr den steinigen Passionsweg. Ich leide mehr an geschwollenen Füßen, denn an den Leiden des Herrn. Fotografiere all die Skulpturen, all die Kunstwerke, die der Glauben über die Jahrhunderte hervorgebracht hat. All diese katholische Herrlichkeit, die Österreich mir jedes Jahr zu Füßen legt. Diese Pracht und diese bunte Sinnlichkeit faszinieren mich immer aufs Neue.

Ich denke an Dali, der Stunden vor seinem Tod noch zum Katholizismus übertrat und ich weiß, warum. Man weiß ja nie… Selbst Darwin schrieb: „… dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist.“ Und dann weiter: „Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Ja, an allem ist zu zweifeln. Auch das. Auf beiden Seiten. Nicht mehr zweifeln muss ich an meiner Leidenschaft für Jesus. Als Kind wurde ich mit Jesusbildern und -erzählungen gefüttert. Es gab da eine Konkurrenz zwischen meiner katholischen Oma und meinem evangelischen Onkel Karl. Immer, wenn ich mit meiner Oma Onkel Karl besuchen musste, zog er mich sofort in sein Arbeitszimmer, um mir von IHM zu erzählen. Und nicht nur das! Er zeigte ihn mir. In schrecklichen schwarz-weißen Bildern. Ich hab mich nie wohl gefühlt – in protestantischen Kirchen. Sie erregten ein Grauen in mir. Denn sie waren düster, karg und vor allem streng. Besonders gern zeigte mir Onkel Karl Johannes den Täufer, wie er in seinem Blute – nur noch als Kopf – in einer Schüssel schwamm. Und er schaute mich irgendwie triumphierend an und ich dachte: Warum? Warum, Onkel Karl, zeigst Du mir das?

Er hatte dann meist ein Einsehen und tröstete mich mit bunten Bildchen aus der evangelischen Christenlehre. Ja, diesen Kinderjesus war ich bereit zu lieben. Er lief übers Wasser, hatte goldene Haare und einen großartigen Heiligenschein. Er strich den Menschen über ihre gebeugten Häupter, machte sie gesund und fütterte sie mit seinen unendlichen Vorräten. Und versprach ihnen eine Welt in Frieden und Glück. Dann, wenn er wiederkomme. Dass er zwischenzeitlich ans Kreuz geschlagen ward, auferstanden und gen Himmel zum Vater gefahren, wusste ich natürlich.

Und so endeten meine Besuche im Erzgebirge immer damit, dass ich mit vollem Kopf und Herzen und mit dem Zug nach Hause fuhr zu meinen Eltern, die eine andere Zukunft für mich vorgesehen hatten. Ich hatte Onkel Karl ja gefragt, bevor ich nach Hause fuhr: Kommt Jesus auch zu mir, dann, wenn er wiederkommt? Ja, er kommt auch zu Dir! – wusste Onkel Karl und schaute mir tief in die Augen. Auch meine Oma bestätigte das. Ich sah meinen hübschen Jesus vor mir, mit langen blonden Haaren und einem weißen Wallegewand. Ich sah ihn, wie er plötzlich in Lauchhammer – in der sozialistischen Braunkohle- und Schwermaschinenbaustadt der Niederlausitz, in der wir damals wohnten – auf unserem Spielplatz im Sandkasten steht und zu mir sagt: Hier bin ich! Dazu Musik! Eine sphärische Musik. Glück pur! Ich vergaß Mutter und Vater, die am Bahnhof standen, um mich aus diesem Traum abzuholen.

Abends erzählte ich meinem Vater, dem atheistischen Professor in spe, von meinem Jesus. Dass er dereinst kommen werde. Zu uns allen. Und dass das doch wunderbar sei. Quatsch, sagte mein Vater, alles Quatsch! Er zog ein Buch aus dem Arbeitszimmerschrank, in dem Menschenaffen waren. Und begann, meine Welt zu zerstören. Lange Zeit konnte ich ihm das nicht verzeihen.

Gott sei Dank – wir werden irgendwann erwachsen und können selbst entscheiden. Vielleicht hätte mein Vater alt genug werden müssen, um vielleicht wie Dali… wer weiß! – Ich laufe den Grazer Kalvarienberg hinauf. Oben steht das Kreuz. ER hängt am Kreuz. Das machen nur die Katholiken. Ihren Jesus derartig üppig zu vergolden. Onkel Karl hätte die Augen niedergeschlagen und irgendwas in seinen Bart gemurmelt – von Verschwendung oder so. Vor dem Goldjesus stehen drei Gestalten: Eine schaut heuchlerisch. Es ist seltsamerweise der Johannes. Eine schaut desinteressiert. Das ist Maria, die Gottesmutter. Eine – die in der Mitte – weint aufrichtig und bitterlich: Maria Magdalena. Die Tochter aus gutem Hause. Keine Brave. Keine, die tat, was man von ihr verlangte. Andere Gedanken haben, kann verrückt sein. Verrückt machen. Sündig. Sündig und besessen. So hieß es, sie sei eine Sünderin. Eine Verrückte. Bis Jesus kam und die Verrückte wieder in die Mitte verrückte. Und so folgte sie ihm bis in den Tod. Und wird die erste sein, die ihn sieht an diesem Sonntagmorgen der Auferstehung. Noch weint sie. Sie weint die einzig wahren Tränen in dieser Goldjesus-Szenerie. Und weiß noch nicht, dass alles gut wird. Das hilft sogar mir, den Glauben nicht zu verlieren. Danke Graz, danke Frieda, danke Kalvarienberg. Das ist der Zauber des Katholizismus. Er ist sinnlich und deshalb liebe ich ihn. (Ja, Frieda, ich kenne auch die Schattenseiten).

Foto: Kalvarienberg Graz – ganz oben – eigenes Foto.

Als wir staatenlos waren und von Ost nach West wechselten – im Gepäck drei Kinder und drei Koffer und sonst nichts.

Nein, ich freu mich nicht! Ich möchte nicht schon wieder Geburtstag haben. Zumal mal wieder einen mit der Null. Es zählt sich so über die Jahre dahin. Früher, ja früher, da war das noch was. Wie ersehnte ich den 10. herbei. Endlich zwei Zahlen! Wie fieberte ich dem 14. entgegen. Endlich ein Personalausweis, mit dem ich in Erwachsenenfilme gehen konnte, mit meinem Freund! Wir küssten uns zwar nur und es wäre egal gewesen, was da vorn auf der Leinwand läuft. Aber so ein Personalausweis in der DDR, das war etwas vollkommen anderes als heute! Es war der AUSWEIS.

Wir vergötterten dieses blaue Ding und verglichen die Fotos und die Geburtsstädte. Ich hatte Leipzig. Nicht so toll. Meine Mutter hatte ja Rio de Janeiro. Mein Vater Lichtenstein. Dem ich gern ein „ie“ verpasst hätte, denn ohne das „ie“ war es leider nur ein Kaff in Sachsen.

Der Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik. Man musste ihn ständig bei sich tragen. So stand es drin. Und wehe, wenn man kontrolliert wurde, und das geschah in jungen Jahren oft, und man hatte ihn nicht dabei! Der Blaue war ein kleines Büchlein mit vielen Seiten, falls man mal ins Ausland wollte. Für die Stempel. Manche hatten sogar welche drin. Möglich waren nur Ungarn, Sowjetunion (auf Einladung und mit Visum), Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien. Unsere sozialistischen Bruderländer. In den Achtzigern hatten manche einen Stempel aus der Bundesrepublik Deutschland. Besuche bei großen Familienfeiern oder aber privilegierte Künstlerreisen waren vermehrt möglich.

Natürlich nicht für mich. Außer Polen und Tschechei nichts gewesen. Ich wollte ihn los sein, den Blauen. Und ich wurde ihn los. Und tauschte ihn gegen Staatenlosigkeit. Entlassen aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Für 48 Stunden. Mein Mann Peter und ich kämpften uns mit drei Kindern und drei Koffern durch die engen Kontrollgänge des „Tränenpalastes“ in der Friedrichsstraße in Berlin. Meine Freundin Anne brachte uns nach Berlin – mit dem Lada. Sie rief noch: „In 25 Jahren werde ich 60 – dann komm ich Euch besuchen!“ Dann bogen wir um eine Ecke. Die Grenzer schauten finster und kontrollierten unsere Koffer. Wir hatten nichts. Nicht einmal eine Mark. Weder Ost- noch West-Mark. Eine Westberlinerin stand hinter uns und fragte: „Ausgereist? Wo wollt Ihr hin?“ – „Bahnhof Zoo“ – sagte ich mutig.

Und war dann sehr entmutigt, als ich nach Passieren der Grenzkontrollen auf der Westseite des Bahnhofs Friedrichstraße stand. Wir alle, wir fünf, schauten dumm aus der Wäsche: Das sieht doch aus, wie im Osten! – Dreckig, Soldaten mit Hunden und – allerdings besser gekleidete S-Bahnfahrende. Ein Intershop. Intershop? Ich verstand das nicht. Die freundliche junge Frau – sehr dünn, so wollte ich auch werden – mit lässig ollen Jeans und einer ebensolchen Lederjacke – erklärte uns: „Das ist auch Osten. Aber hier dürfen nur Westberliner oder solche wie Ihr hin.“ Sie duzte uns gleich, das fand ich auch unendlich cool. Wie ich später feststellen musste und irgendwann auch hasste, duzten sich zu dieser Zeit alle in Westberlin. Ob jung, ob alt, egal, wir sind alle eine Familie in der „Stadt der Seligen.“

Jetzt aber verstand ich erst einmal nichts mehr. Wusste aber, dass am Bahnhof Zoo Klaus Jentzsch wartet. (DDR-Menschen auch als Klaus Renft bekannt.) Er wollte uns abholen. Aber wir mussten erst einmal in die S-Bahn steigen und gen Zoologischer Garten fahren. Klaus stand am Bahnsteig. Begeistert über unser Kommen. Und hatte auch gleich einen Journalisten im Schlepptau. Der sollte mich und die kleinen Kinder und die Koffer in die Wohnung von Klaus bringen, der damals beim KaDeWe um die Ecke wohnte. Peter, Robert und Klaus wollten über den Breitscheidplatz laufen. Zwischenstation Europacenter. Das mit dem Mercedesstern. Der Bahnhof Zoo war damals noch so, wie zu Zeiten von Christiane F. und ihren „Kindern vom Bahnhof Zoo“. In den Ecken saßen betrunkene Schnorrer mit Bierbüchsen, vor dem Bahnhof lagen tatsächlich Heroinspritzen. Ich war ein bisschen entsetzt. Den Westen hatte ich mir schöner vorgestellt. Robert brachte später die Nachricht des Tages. „Mutter stell‘ Dir vor, wir sind durch ein Kaufhaus (Europacenter) gelaufen, da fließt ein Fluss!!“ – Für den Fluss konnte man dann schon mal ein paar Tage staatenlos dem Ungewissen entgegenlaufen.

Es war ein 23. März – kurz vor Ostern.

Wir hatten kein Geld, keine Wohnung, keine Ahnung, was werden sollte. Aber wir hatten uns. Und wir hatten Freunde. Nach drei Tagen meldeten wir uns in der Aufnahmestelle Marienfelde in Berlin-Tempelhof. Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein neuer Ausweis – „vorläufiger, behelfsmäßiger“, wir waren jetzt Westberliner im Alliiertenstatus – war auch dabei. Ich war jung und wusste nicht, was noch alles kommt. Manchmal denke ich – Gottseidank! (Fortsetzung folgt)

Foto: Der von den DDR-Behörden ausgestellte Ausweis für die Ausreise für unseren ältesten Sohn Robert Gläser.

Der Scheiterhaufen der Kosmetik hält warm – in diesen kalten Tagen

Warum nicht mal wieder über Mode, Schönheit und so schreiben. Das lest Ihr doch immer wieder gern, liebe Leute, und nehmt gleichzeitig wohlwollend zur Kenntnis, dass ich die Abnahmemethode, die hält, was sie verspricht, immer noch nicht gefunden habe. Dass ich nicht weiß, wie man oder besser Frau das Alter aufhält oder dass ich mittlerweile froh und glücklich bin, wenn im Supermarkt ein junger Mann vor mir in die Knie geht, um etwas aufzuheben, das ich fallen ließ. Einen Euro oder so. Nicht mit Absicht natürlich. Doch noch gebe ich nicht auf. Und vor Kurzem musste es deshalb die – Nivea sein. Nivea Body Gel Q10 Anti-Cellulite. Ich hatte sie eher aus Versehen gekauft und sie entpuppte sich als Kämpferin gegen die allgegenwärtige Cellulite, gern auch Cellulitis genannt, wie Gastritis oder Hepatitis. Eine Krankheit, die entzündet. Cellulitis. Neuerdings im Zeichen des Body-Shaming Cellulite genannt, ohne diese -itis, die eine normal funktionierende Haut zur Krankheit erklärt. Dieses itis-Wort, dieses magisch-finstere Wort für alle weiblichen Wesen menschlicher Natur, die die „unschönen Dellen und Wellen – vorzugsweise an den Oberschenkeln – nicht schätzen und demzufolge bekämpfen. Leider vergebens und mit den unglaublichsten Mitteln. Cremes und Pülverchen, Ultra-Schall, Qual-Exerzitien im Fitnesscenter, Massagen und immer wieder ganz viel Wärme. Sogar in elektrisierende Anzüge schlüpft Frau. Und das Ergebnis. Bitte melden, sofort, die Damen, die mit einem der aufgezählten oder einem noch geheimen Mittel diese Haut, die wildgewordene Orangenhaut, die sich an Orangen und an uns breitmacht, wieder glättet wie einen Kinderpopo!

Die Nivea machte es ganz ordentlich. Beinahe erstaunlich. Und ich abonnierte sie bei Amazon. Monatlich. Bereits im 2. Monat sah sich Amazon nicht in der Lage, die Wundercreme zu beschaffen. Nicht lieferbar. Man bemühe sich und ich könne in der Zwischenzeit doch mal was anderes probieren. Zum Beispiel das „Kräuterhof Anti-Cellulite Gel – Zur Verbesserung der Hautkontur“. Es gab gleich zwei ziemlich vertrauenerweckende Plastikbüchsen für einen – nun ja – erschwinglichen Preis. Büchsen, wie Pferdesalben, aber links eben kein Pferd, sondern eine kopflose Lady im weißen Kleid, die ihre Beine samt einem Oberschenkel zeigte. Ich griff zu. Am nächsten Tag – ich bin prime-Kundin – erreichte mich das Gel mit dem Powerwirkstoff und einem „angenehmen Wärme-Effekt“ sowie erfrischendem Duft.

Ich dachte so, erstmal duschen, dann cremen. Und das tat ich. Ja. Die roch gut, diese Kräutercreme. Doch wie soll sie die „hässlichen Dellen und Wellen“ beseitigen und – ich spoilere keck – das tat sie auch nicht. Täte sie es, wäre auch dieses Angebot bei Amazon im nächsten Monat perdu.

Aber, und jetzt das Grand Malheur: Sie feuerte nach so ca. fünf Minuten los. Ich hatte im Bad bereits leichte Atembeschwerden, überlegte, ob das jetzt der Herzinfarkt ist, den meine Panikattacken seit Jahren herbeisehnen. Und die Pferdetinktur – oder was das auch immer war – feuerte weiter. Es nahm mir den Atem. Ich wankte ins Wohnzimmer und setzte mich auf einen Sessel, um mir mit einer romantischen Netflix-Serie die Zeit etwas abzukühlen. Es feuerte weiter und erfasste Bauch, Po und vor allem die Oberschenkel, hinten, auf denen ich ja nun saß. Ich dachte, lass es brennen, während das glückliche amerikanische Kleinstadtpaar sich im Bett wälzte. Lass es brennen, es ist ja für einen guten Zweck. Die Arme begannen ebenfalls. Die Hände gar samt Handinnenflächen. Ich googelte, ob schonmal jemand beim Cellulite Bekämpfen mit Kräutercreme das Zeitliche gesegnet habe. Google war ratlos. Ich auch. Das musst Du dann halt durchstehen, überstehen, Kopfstehen, nahestehen, verstehen, ach, ich dachte gar an stand with Ukraine, wie pietätlos! Was sind schon Dellen und Wellen, ach was sind sie schon! Was ist ein Scheiterhaufen der Schönheit gegen eine Jeanne d`Arc, die es wenigstens für eine gute Sache nicht überstand!

Aber ich. Ich überstand mal wieder. Kühlte nach ca. einer halben Stunde ab. Nur die Hände konnten lange nichts ergreifen. So ergreifend war das. Weniger ergreifend – das Ergebnis. Wie kann ich als gestandene Frau auch immer wieder glauben wollen, dass irgendeine Mischung die perfekte ist. Wie konnte ich!

Eins steht fest: Ich werde es wieder tun. So ein heißes Ding ist doch auch was Wunderbares, oder?

Niemals Fahrstuhl fahren – wir blackouten uns – mit einem Prosit auf die Klimaerwärmung!

„Ich hab gerade von Marc Elsberg „Blackout“ gelesen. Da geht es darum, dass in ganz Europa und später auch noch in den USA der Strom ausfällt. Und zwar nicht nur für ein paar Stunden, sondern für eine unabsehbare Zeit. Man kann nicht mehr die Toilette spülen, denn es gibt kein Wasser. Man kann nicht mehr tanken, denn die Tanksäulen funktionieren nur mit Strom. Die Supermärkte schließen, weil es keinen Nachschub gibt, Licht und Kassen nicht funktionieren, die Banken schließen, weil sie kein Bargeld mehr haben. Die Krankenhäuser schließen, weil die Notstromaggregate zu Ende gehen. Die Kühe sterben, weil sie nur elektrisch gemolken werden können. Die Menschen werden in Notunterkünften untergebracht. Es gibt zentrale Essensverteilung, die aber auch nicht funktioniert. – Anarchie. Schwarzmarkt. Raub und Mord. Kommunikation funktioniert natürlich auch nicht mehr. Überleben eben. – Da hab ich mir überlegt, ob ich mir mal einen vierzehn Tage-Überlebensvorrat zulege. Und wo gibt es ein Notstromaggregat? – Ich muss sagen, das war kein unwahrscheinliches Szenario…“ – Achtung: Das schrieb ich am 9. September 2012 auf Facebook.

Und erntete wohl eher ein Lächeln. Elisabeth mal wieder! Hysterische Elisabeth. Ängstliche Elisabeth. Die, die immer Stress machen muss. Ja, machte ich. Ich kaufte damals ein Reservoir an Lebensmitteln, Kerzen und Wasserbottichen. So fünf Liter-Plastik-Gebinde bei REWE, die es noch reichlich gab. Sie wurden im Keller gebunkert, den es heute nicht mehr gibt. Komischerweise habe ich nicht – so wie heute – wahrhaftig daran gedacht, ein Notstromaggregat zu kaufen Und mit den Jahren vergaß ich beinahe, dass ich mir nach der Lektüre von Elsbergs – immerhin – Bestseller nur zu gut vorstellen konnte, wie unsere Zivilisation zusammenbricht. Dass ich mir Gedanken machte, wie tauglich ich in einer rauhen, unzivilisierten Gesellschaft sein würde. Wie ich reagierte, wenn es einen Bürgerkrieg gäbe. Sollte ich mir Waffen zulegen? Oder Bücher lesen, wie man sich selbstversorgt?

Meine Umgebung befand, dass das alles nicht wichtig wäre, für diesen Fall hat die Regierung bestimmt schon an alles gedacht. Es gäbe in Berlin-Charlottenburg alte Brunnen auf manchen Straßen. Und es gibt ein Technisches Hilfswerk, es gäbe Polizei und Feuerwehr und viele andere Helfer. Die wurden dann 2015 gebraucht, als die Göttliche Kaiserin geruhte, die Grenzen grenzenlos zu machen. Zumindest hier bei uns im gelobten Land, in dem wir gut und gerne lebten. Ein anderer Sturm kam über uns und wir hatten genug zu tun, diesen zu bewältigen.

Ich dachte nicht mehr oft an einen Blackout, nur ab und an nagte das Thema an mir. Zum Beispiel als unser damaliger Innenminister – na, wie hieß der? — er hieß Thomas de Maizière – bei einer Pressekonferenz plötzlich zu Vorräten riet. Er wollte den Bestseller-Titel zitieren, doch fiel ihm dieser nicht ein. Er hatte ihn nicht gelesen. Die Redenschreiber fabrizierten ihm den Bestseller ins Manuskript. Und er musste mal schnell „nach hinten“ den Titel erfragen. „Blackout“, Herr Innenminister, Frau Innenministerin heute! Blackout, das weiß nunmehr jeder. Das Internet ist voller Ratschläge. Die Online-Händler haben (noch) gefüllte Lager mit allem, was das stromlose Herz begehrt. Die Preise steigen und steigen. Wer jetzt noch nichts hat, sollte sich sputen. Denn: Blackout ist in aller Munde. Gern verwechselt mit einem „einfachen“ Stromausfall. Ja, ich habe mich, ohnehin seit zehn Jahren angefixt, schlau gemacht. Ein Blackout ist ein Stromausfall, der ganz Europa erfassen würde. Und nicht nur ein paar Stunden, nicht nur einen Tag, sondern viele Tage, im schlimmsten Fall sogar Wochen. Im allerschlimmsten Monate. Das Ende der Zivilisation, wie wir sie seit fast achtzig Jahren kennen.

Wir kennen keine Hungersnöte, keinen Wassermangel. Wir wissen nicht oder nicht mehr, wie es ist, im Winter in unbeheizten Wohnungen zu bibbern. Wir wissen nicht, was Hunger und Durst über einen längeren Zeitraum wirklich bedeuten. Werden die Menschen sich gegenseitig helfen? Werden sie sich bekriegen bis auf das letzte Brot oder den letzten Tropfen Wasser? Schaut man in die Geschichte, gibt es Beispiele für alles. Für beispiellose Solidarität und Hilfe. Aber auch für die wilden ungezügelten grausamen Seiten des Menschen, der zum Tier werden kann, wenn er überleben will.

Meiner Enkelin Anna habe ich eingeschärft, keinen Fahrstuhl mehr zu betreten. Für Berlin hat man ausgerechnet, dass es fünf Tage dauern würde, alle „Steckengebliebenen“ zu befreien. Wieviele das überleben, fällt nicht schwer auszurechnen. Vor ein paar Tagen fragte ich Anna, ob sie sich an mein „Gebot der Stunde“ hält. Sie antwortete mir mit dem Charme der Jugend: „Ja, Oma, ich steige in keinen Fahrstuhl mehr. Nur zu Hause!“ (Sie wohnt in einem Fahrstuhlhaus im 5. Stock) – Nun ja, kann ich verstehen. Wer steigt schon gern täglich in den fünften Stock. Ich würde vielleicht auch denken: Dieses eine Mal wird es klappen. Geht ja schnell! – Genauso schnell kann es gehen, dass der Strom ausfällt. Das wird nicht angekündigt, sagen die Blackout-Experten. Sohn Ben wiederum meint, ich sei eine unverbesserliche Misanthropin, die auf die Kapitalisten reinfällt, welche das Gerücht streuen, um, ja um auch daran zu verdienen! Nun ja, das Sozialisten-Leben ist leicht. Säuberlich eingeteilt in Gut und Böse. Ich höre mir alle Für und Wider an und bereite mich vor. Schließlich haben wir schon immer Versicherungen, die wir selten oder nie brauchen. Und das ist gut so. Ein Notstromaggregat ist eine Versicherung. Essensvorräte sind eine Versicherung. Wasserflaschen auch. Taschenlampe und Kerzen. So viel Platz muss sein. Dass die Zeiten nicht rosig sind, hat ja – vielleicht außer denen, die nur ÖRR schauen – jeder begriffen. Und selbst dort im Regierungsbeklatsch- und -begleitmedium: Das ZDF sendete kürzlich einen längeren Blackout-Beitrag, so hörte ich. Denn, was das ZDF mir zu sagen hat, weiß ich längst.

Nun harren wir der Dinge, die da kommen oder – wenn wir sehr viel Glück haben – nicht kommen. Selbst ein Ideologe, wie der Herr Habeck, hofft auf die Klimaerwärmung, die er doch sonst so erbittert bekämpft: Angst vor einem Grad mehr in 2050. Aber keine Angst vor zwanzig Grad mehr im Winter 2022. Ach, Robert, Dein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.

Ich wünsche uns , dass wir den Winter ohne schlimme Blessuren überleben. Meine Enkelin Anna interessierte sich in erster Linie dafür: Wie trifft sich die Familie beim Blackout? Das fand ich rührend. Ein Prosit also – auf die Klimaerwärmung!

Foto: Ein paar Vorräte

Kalte Winter – Kohlen und Kartoffeln – und die gute alte Stromsperre – Leben in einem untergegangenen Land

Sie klammerte sich an mich. Zitternd betraten wir das düstere Zimmer. Aus unseren Mündern kam weißer Nebel. Hinten in der Ecke brannte ein gedämpftes Licht. Vorn stand ein weißer Schrank. Rechts zwei Betten, bedeckt mit Kopfkissen und Federbett. Eiskalt. Die galt es zu erwärmen. Jeden Abend. Deshalb schlief sie mit in meinem Bett. Ich war die Große, sie die kleine Schwester. Wir lagen unter dem dicken Federbett – mit angezogenen Beinen. Ganz langsam, Stück für Stück, streckten wir sie in die Waagerechte. Wir umarmten uns wie zwei Ertrinkende. Wir froren, bis irgendwann das Federbett seine Wärme entfaltete. Ich erzählte Gruselgeschichten. Sie lauschte begierig. Sie war sieben Jahre jünger, da konnte ich noch brillieren. Meist schliefen wir schnell ein. Auf uns wartete ein kalter Morgen. In dieser Wohnung in Leipzig war alles kalt. Grundsätzlich heizten wir – im Besitz von fünf Zimmern mit Parkett und Stuck, Küche, Bad, sehr großem Flur und Gästetoilette – ein Zimmer. Mit einem Kachelofen, für den mein Vater die Kohlen aus dem Keller holte. In der Küche heizte nur meine Oma, wenn sie da war. Es stand dort ein altmodischer Mehrzweckherd. Ein Küchenofen, mit dem man Heizen, Kochen und Wasser erwärmen konnte. Mit Holz und Kohle. Einen elektrischen Boiler gab es nicht. Wasser musste auf dem Herd oder mit einem Tauchsieder erhitzt werden. Gebadet wurde einmal in der Woche. Wir hatten immerhin ein Bad, eiskalt, mit Badeofen.

Wir bestellten jedes Jahr beim Kohlenhändler unsere Kohlen oder Briketts, die in den Keller getragen wurden, je nach Laune der Kohlenmänner und dem zu erwartendem Trinkgeld, oder eben nicht, dann mussten wir sie selbst reintragen. Manche Familien stapelten die Briketts ordentlich auf, unsere Eltern nicht, die hatten dafür keine Zeit und uns muteten sie das Gottseidank nicht zu.

Wir bestellten jedes Jahr beim Gemüsehändler Kartoffeln – die wurden ebenfalls „eingekellert“. Das taten alle in der DDR, zumindest die in den Städten. Kohlen und Kartoffeln überdauerten den Winter im Keller. Beides ging gen Frühjahr zur Neige, die Kartoffeln „keimten“ in Weißlila.

Der Keller war ein wichtiger Raum in den kalten Wintern. Kohlen und Kartoffeln. Außerdem Regale mit eingekochtem Obst und Gemüse. Der Keller diente den Nicht-Kühlschrankbesitzern als Kühlmöglichkeit, wobei im Winter auch vieles auf den kalten Fensterbrettern oder in unbeheizten Zimmern aufbewahrt wurde.

Wir Kinder liebten den Winter, fuhren Schlitten, bewarfen uns mit Schneebällen und schlitterten über jede gefrorene Pfütze. Wir trugen selbstgestrickte kratzige Pullover und Trainingshosen und -jacken. Wir trugen Leibchen, an denen Strümpfe befestigt waren. Strumpfhosen gab es noch nicht. Viele hatten Skischuhe an. Glücklich, wer einen warmen Anorak besaß. Schals und Mützen wurden gestrickt. Und natürlich Handschuhe. Ich hatte bis zur Schulzeit noch einen Muff, in dem ich die Hände vor der Kälte verstecken konnte.

Höhepunkt der kalten dunklen Zeit war das hellerleuchtete Weihnachtsfest mit Gänsebraten und Geschenken. Puppen, Puppenhäuser und Eisenbahnen, wenn man Glück hatte und Eltern, die über etwas mehr Geld verfügten. Von Kindern, deren Familien sehr wenig hatten, hörte ich auch, dass es keine Geschenke gab, dass das gute Essen Weihnachten genug sein musste. Ab den Sechzigern gab es zunehmend Fernseher. Wir hatten ab 1961 einen. Wir liebten den neuen Kinoblick aus den Wohnungen. Meister Nadelöhr, Zeichentrickfilme, Professor Flimmrich und in der Woche am Nachmittag das Testprogramm. Das waren unsere Handys, während Tanten und Großmütter noch Mensch-ärgere-Dich-nicht, Dame, Mühle, Halma und Karten spielten. Mein Vater spielte einmal in der Woche mit wechelnden Partnern Schach im Arbeitszimmer.

Nach Weihnachten und einem meist mit viel Alkohol und Papphütchen gefeierten Silvester kamen noch die bitterkalten Monate Januar und Februar. Oft war es nicht möglich, Schulen ausreichend zu heizen. Ich kann mich an ein Jahr erinnern, in dem wir mehrere Wochen schulfrei hatten. Wir holten uns morgens in der Schule die Hausaufgaben ab und gingen wieder nach Hause. Wir Kinder freuten uns darüber, die Eltern nicht. Vielleicht hatten wir deshalb immer im Februar – dem Wintermonat, der einfach zu viel war – drei Wochen Winterferien.

Im Frühling freuten wir uns auf die Sonne und darauf, dass das Frieren ein Ende hatte, dass es morgens zeitig hell wurde und wir demnächst in die Badeanstalt gehen konnten. Das war unser sommerlicher Hauptaufenthaltsort. Unsere Sommer waren heiß und sonnig. In meiner Erinnerung immer. Höhepunkt: Zwei Monate Sommerferien im Juli und August. Wir vergaßen das Frieren und die Dunkelheit. Mit meiner Schwester hüpfte ich abends fröhlich und leicht bekleidet ins Bett. Die Federbetten wurden eingemottet.

Last but not least. Stromsperren waren an der Tagesordnung. Dafür hatten wir Kerzen und Taschenlampen. Wir fanden es so spannend, wie Herr Habeck es vermutlich in seinen Kinderbüchern beschreibt. Wer Gas hatte, konnte zumindest Kochen. So eine Stromsperre dauerte bisweilen Tage. Wir Kinder fanden es lustig und gespenstisch. Die Eltern nicht.

Mitte der Sechziger Jahren zog meine Familie nach Magdeburg. Mein Vater bekam eine Berufung zum Professor an der damaligen Technischen Hochschule. Wir wohnten plötzlich in einer winzigen Neubauwohnung. Mit Fahrstuhl und Müllschlucker, der nach kurzer Zeit für immer kaputt war. Erstbezug. Vier Personen in zweieinhalb Zimmern. Und es war herrlich. Hauptattraktion: Warmes Wasser „aus der Wand“. Ich konnte es kaum fassen, dass wir baden und duschen konnten, so oft wir wollten. Dass man abwaschen konnte, ohne Wasser mit dem Tauchsieder zu erwärmen. Dass eine Heizung lief, die meine Mutter dazu trieb, im Bikini durch die Wohnung zu laufen. Die Heizungen waren noch so konstruiert, dass man sie nur an- oder ausschalten konnte. Die einzige Regelmöglichkeit war, das Fenster zu öffnen. Im bitterkalten Winter. Und das taten wir zeitweise. So eine Wohnung kostete ca. 65 Mark. Den Begriff „warm“ für Miete gab es nicht. 65 Mark plus Stromkosten, die ebenso billig waren. Es war warm. In den Neubauten. Die Altbauten blieben kalt und verfielen. Die Trabantenstädte mit immergleichen „Platten“ breiteten sich in allen größeren Städten aus. Die DDR-Parteiführung hatte sich vorgenommen, das Wohnungsproblem bis 1990 zu lösen. Ab 1974 gings dann bergab. Die DDR verstaatlichte alles. Auch die Klein- und Mittelbetriebe, die es bis 1972 noch gab. Das war meiner Meinung nach einer der größten Fehler. Hinzu kam die weltwirtschaftliche Ölkrise.

Wie haben wir als Teenager diese Zeiten überstanden? Gut. Wir waren jung und verliebt. Es war eine aufregende Zeit – der Hormone und des damit verbundenen Wirrwarrs. Alles andere nahmen wir hin, wie es eben war. Wir kannten nichts anderes und arrangierten uns mit dem Mangel. Sehnsüchtig schauten wir westliche Werbung. Wer Jeans und Rollkragenpullover von „Drüben“ hatte, war der King oder die Queen.

Als wir erwachsen waren, hatten wir meist schon Kinder und geschiedene Ehen. Wohnten in selbst renovierten und sanierten Altbau-Wohnungen mit Gasheizungen, falls wir viel Energie oder das Glück hatten, Material für den Selbsteinbau irgendwo her zu organisieren oder zu tauschen. Der Run auf die Neubauwohnungen hielt bis zum Ende der DDR an. Die Westdeutschen, die dann zu uns – damals schon in Berlin – kamen, wunderten sich mir gegenüber oft, dass in den „Platten“ Arbeiter und Professoren einträchtig nebeneinander wohnten. Wir zuckten mit den Schultern. Wir waren ein Arbeiter- und Bauernstaat und die „Intelligenz“ war – bis auf wenige Ausnahmen – unser Freund. Und Schnaps gabs immer reichlich.

Vorläufiger Schlusssatz: Uns gelernte DDR-Menschen erschreckt so leicht nichts. Auch wenn wir uns an den westlichen Wohlstand gewöhnt haben und eine Generation herangewachsen ist, die das alles nicht mehr kennt. Viele haben, wie ich, das Land DDR vor dem Mauerfall verlassen oder sich ein anderes Leben auf der Straße erkämpft. Das, was jetzt kommt, haben wohl die meisten nach 1989 nicht für möglich gehalten. Deshalb berichte ich. Denn „ich komme aus der Zukunft“ (Michael Klonovsky).

Foto: Ich im erzgebirgischen Winter mit einem Muff.

Karl May und der unsterbliche Winnetou

Heute entdeckte ich auf der Website „Achse des Guten“ den Beitrag von Hubertus Knabe über Karl May und die DDR. Karl May, einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller, einer der meist übersetzten weltweit. Man schätzte in 2012 seine Auflage auf 200 Millionen, davon 100 Millionen in Deutschland.

Die Spatzen pfeifen es längst von den Dächern: Die ARD spielt ab sofort keine Winnetou-Filme mehr, was – so wird gemunkelt – auch daran liegt, dass sie die Lizenzen auslaufen ließ (Geldsparen für die „Denver-Clan“-Feten im oberen Segment?). Neuester Aufreger: Der ansonsten harmlose Familienverlag Ravensburger verlegte vier Titel zum Winnetou-Film „Der junge Häuptling“, zog diese jedoch nach Kritik von Seiten der shitstürmenden Cancel Culture zurück. Mit einer beinahe rührenden Ergebenheitsadresse. Jetzt geht ein Aufschrei – nicht nur durch die Medien, sondern durchs Land.

Mir fiel ein, dass ich im Juli vor zehn Jahren einen kleinen Text – in der Ich-Form – über den sächsischen Schriftsteller mit Hochstapel-Appeal schrieb. Ich veröffentliche den Text noch einmal, weil er passt. Die letzten Sätze fügte ich heute – nach neuer „Schieflage“ – hinzu.

Karl May

Meine Himmelfahrt kam spät. Irgendwie war auch sie – nur zweiter Klasse. Dennoch habe ich es geschafft: Aus Schund und Schande – hinein ins hehre Reich der – Edelfedern. Da wollte ich sehr gern hin. Nur was ist der Preis? Germanisten zerbrechen sich die Köpfe über mich. Und die Jungen von heute? Sie kennen mich nicht mehr. Die haben Harry oder begehren magische Ringe. Die stechen sich nicht mutwillig in den Finger! Weder in den Ring- noch sonst in einen. So ein Blutstropfen könnte ja wehtun. Die wissen nicht, wie es ist, als fünftes von vierzehn Kindern geboren zu werden. Die wissen nicht, wie es ist, wenn die Geschwister sterben, wenn ein Kind nicht einmal die Chance hat, erwachsen zu werden. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man per Geburt zu einem Platz im Souterrain verurteilt ist. Wenn man sich aus den Blättern der Melde eine Suppe kochen muss. Sich herauswinden. Mit Kraft und Erfindungsgabe. Die meine war so ausgeprägt, dass selbst Oberedelfeder Thomas Mann grummelte: „Ein gar nicht uninteressanter Scharlatan!“ Der sogar mit dem Guttenberg was gemeinsam hatte. Nämlich den Doktortitel – den falschen. Ich hatte mehr Phantasie. Er konnte es sich leisten, mit Sack und Pack und Frau und Kindern nach Amerika zu fliehen. Ich konnte das nur in Gedanken. Und ich tat es so gut, dass meine Phantasiereisen mir den ersehnten Reichtum brachten. Natürlich schrieb ich nicht einfach ins Blaue hinein. Ich studierte Landkarten und Lexika. Ein bisschen exportierte ich auch. Mich selbst. Selbstverständlich in Gedanken. Und auch dieses germanische Ritual. Das mit den Blutsbrüdern. Und eine Begrüßungsformel. Kein Deutscher verkaufte so viele Bücher wie ich. Das Kriegsbeil ist begraben. – Ach! Immer noch nicht! Die „Guten“ von heute, die das Gute der Welt gepachtet haben, befinden meine Guten als nicht gut genug. Nun denn.

Lesen Sie auch Hubertus Knabe „Winnetou oder die stille Wiederkehr der DDR“, www.achgut.com, 28.8.2022