Das Land meiner Wahl? Wie ich in der DDR einmal wählen ging

„Das Land meiner Wahl“ – sang eine DDR-Pop-Gruppe in den Achtzigern – damals in der DDR. Und sie meinten die DDR. Das hat mich ziemlich empört. Der Text war auch noch von Kurt Demmler, einem der Haupttexter der Gruppe „Renft“, die 1975 verboten wurde und in der mein Mann Peter Gläser Gitarrist und Sänger war. Das Land meiner Wahl? „Wer nur die Einzahl kennt, hat niemals gewählt“, dieser Gedanke des Dichters Andreas Reimann sprach mir eher aus der Seele und passte zu unserer Wirklichkeit. Denn wir hatten keine Wahl. Nur diese: Die Kandidaten der Nationalen Front.

Das waren Kandidaten der SED und der Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD, das war die „Demokratische“ Bauernpartei. Unsere Wahl war, diesen „Einheitsblock“ zu wählen – oder nicht. Also kam man in das Wahllokal und erhielt einen großen Zettel mit den „Kandidaten der Nationalen Front“ und man faltete den Zettel und warf ihn in die Urne. Das machten alle. Das war die Zustimmung.

Wie aber nicht zustimmen? Keiner wusste es genau. Ich hatte gehört, wenn man den Wahlzettel quer durchstreicht, würde das nur „ungültig“ bedeuten, aber kein NEIN. Also ging ich in den Achtzigern in mein Wahllokal und frage laut die missmutigen Wahlbeisitzer, die genauso aussahen, wie sie heute aussehen: „Was muss ich tun, wenn ich dagegen stimmen will?“ Alle erstarrten. „Da müssen Sie jeden Namen einzeln durchstreichen!“ – sagte jemand zaghaft. „Gut, haben Sie einen Kugelschreiber?“ – Man reichte mir einen. Es gab zwar eine Wahlkabine, aber ich ging nicht hinein. Weil da eben nie einer reinging. Nahm also meinen „Wahlvorschlag mit den Kandidaten der Nationalen Front“ und strich auf dem Tisch, an dem die Wahlbeisitzer saßen, vor ihren Augen jeden Namen einzeln durch. Dann warf ich den Zettel in die Urne und ging stolz erhobenen Hauptes hinaus.

Peter hingegen faltete den Zettel brav und warf ihn ein. Das bedeutete Zustimmung. Er machte sich Sorgen, dass mein Verhalten Folgen für uns haben könnte. Es hatte keine. Jedenfalls keine merkbaren. Ich glaube heute, wir waren zu bekannt. Offiziell gab es ja eine Wahlmöglichkeit: Ja oder Nein. Ich hatte eben mit Nein gestimmt. Das einzige war, dass ich zur Leipziger Messe im Hotel „Merkur“, in dem ich damals arbeitete, nicht mit den West-Hotelgästen in Kontakt kommen durfte. Das wurde elegant gelöst: Ich wurde zur „Sozialistischen Hilfe“ in die Wäscherei beordert. Ob es da einen Zusammenhang gegeben hat, habe ich nie herausbekommen.

Foto: Ersteller Illner/Bundesarchiv Bild 183-21044-0131, Leipzig, Herbstmesse 1953, Pavillon der Nationalen Front. – Das war später in den Achtzigern ein Veranstaltungsort der Leipziger Avantgarde, den wir NATO nannten.

Endlich die große Liebe – meine Hippie-Hochzeit an einem letzten Tag im September

Er war der Mann, den ich wirklich geliebt habe. So gut und so heftig ich das damals vermochte. Ich war rücksichtslos. Ich hätte mich gar nicht für ihn interessieren dürfen. Und sagte nicht: Geh nach Hause zu Deiner Frau, kümmere Dich um Deine Kinder! Ich tat das damals nicht. Weil ich ihn und nur ihn wollte. Wofür auch immer. Später hab ich mich oft gefragt: Warum glaubte ich so absolut und unentrinnbar, dass es dieser und immer wieder dieser sein muss? Es ist ein anderes Kapitel.

Eines Tages jedenfalls zog Peter zu mir, ein halbes Jahr später war er geschieden. Ja, das ging damals so schnell – in der DDR. Zwei Monate später beschlossen wir zu heiraten. Auch das ging schnell. Nach weiteren vier Wochen war es so weit. In einem Leipziger Standesamt standen wir ganz allein, ohne Trauzeugen, die brauchte man nicht, ohne Blumen, die wollten wir nicht. Auch zogen wir uns nichts Besonderes an, saßen einfach so im Flur des Standesamtes und warteten, bis wir „drankamen“. Neben uns eine große Hochzeitsgesellschaft, mit Braut und Schleier und Bräutigam und Zylinder. Und mit Blumenmädchen und viel Geschrei. Die kamen gar nicht auf die Idee, dass wir auch ein zu trauendes Paar sind. Die dachten, wir sitzen da still herum und warten auf irgend etwas anderes.

Irgendwann wurden wir aufgerufen und gingen ins „Heiligste“. Das Trauzimmer des Standesamtes Leipzig-Stötteritz. Die Standesbeamtin sah uns etwas befremdet an und hielt uns eine Art Aschenbecher hin. Was wollte sie damit? Sie wollte…“Die Ringe“. Wir hatten keine. Missbilligend stellte sie das Gefäß in die Ecke und fragte: Und die Gäste? Haben wir auch nicht. Mmh. Na gut. Dann fangen wir eben an. Als wir uns zur „Eheschließung“ anmeldeten, mussten wir Musik für den „großen Moment“ bestellen. Wir suchten auf einer Liste irgendwas von Bach aus. In einer Nische des Zimmers, hinter einem Holzperlenvorhang, saß ein älterer Herr und spielte das Gewünschte. Er fand das sicher genauso komisch wie wir, als die Standesbeamtin dennoch mit großer Geste begann, ihre Rede zu halten. Und als sie fertig war, als wir „Ja“ gesagt hatten, legte er wieder los, auf seiner Hammondorgel.

Die Ringzeremonie und die Kussaufforderung ließ sie, sichtlich aus dem Konzept gebracht, dann eben weg. Irgendwann lachte der Nischenpianist, wir lachten sowieso und verabschiedeten uns. Vielleicht lächelte auch sie, die Frau Beamtin, ich weiß es nicht mehr. Sie reichte uns das grüne Familienbuch, mein neuer Mann Peter griff es sich, schob es unter seine Jacke und – raus.

Ein bisschen Tradition bewahrten wir. Wir hatten einen Freund, der Fotografik an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst studierte, zur Thomaskirche ans dortige Bachdenkmal bestellt. Wir fragten ihn lediglich, ob er uns fotografieren würde. Er kannte den Anlass nicht und hat ihn wahrscheinlich auch nicht erfahren. Zumindest nicht an diesem Tag.

Ich bin heute sehr froh, dass ich diese Bilder habe. Wie jung und wie schön wir waren! Und tatsächlich irgendwie glücklich. Niemand hat etwas gewusst. Diese Hochzeit war eine ganz und gar heimliche. Wir dachten, das sei eine richtige Hippiehochzeit. Lässig und cool. Wobei es das Wort cool noch nicht gab. Es war ein 30. September, die Sonne schien und wir gingen in die neue kubanische Kneipe, die gerade in der Nähe des Alten Marktes eröffnet hatte. Dort feierten wir ganz allein unsere Hochzeit. Später – im Mondschein – schlenderten wir lachend und Kuba-Rum-beschwipst nach Hause. Peter sagte zum Abschluss dieses denkwürdigen Tages: WENN DAS DIE RICHTIGE FRAU GLÄSER WÜSSTE! – ich sagte nichts. Mein Rumpelstilzchen war erst ein Vierteljahr geschieden.

Foto: Elisabeth und Peter Cäsar Gläser vor der Thomaskirche Leipzig.