Miss Bella, Cremes und das Mysterium (Heilige) Familie

Warum Weihnachten feiern, wenn einer mit einem Schwerlaster vorher in einen Charlottenburger Weihnachtsmarkt rast? Das ist doch kein Weihnachten mehr! Solche Gedanken gehen mir natürlich auch durch den Kopf. Berlin ist eine gelähmte Stadt. Man fährt durch den festlich beleuchteten Ku’damm oder den Potsdamer Platz, die Mitte, die sich alle Mühe gegeben hat, Besonderes zu bieten. Aber es kommt nicht mehr an. Weihnachten ist beschädigt. Es hat keinen wirklichen Glanz. Der Glanz, der vorhandene, ist ein falscher.

Wir fahren durch diesen falschen Glanz, ganz ruhig, wie alle Autos um uns herum, ganz ruhig. Wir wollen zu meiner Schwester. Sie wohnt im Prenzlauer Berg. Und wir treffen uns „in Familie“. Wir haben einen Wildschweinbraten im Gepäck. Den hat mein Sohn Robert auf Wunsch der Familie gemacht, weil es keiner kann, wie er. Im Auto schaukelt außerdem ein Topf mit Rotkohl und ich klemme ein großes Glas mit Bowle zwischen die Beine. Die Rosmarinkartoffeln zum Wildschwein, Bouletten, Kuchen und allerhand anderes warten schon in der großen Wohnküche meiner Schwester. Wir frönen nicht der Schmalhansküchenmeisterethik des Weihnachtsabends, wie wir es früher taten, mit Würstchen und Kartoffelsalat. Wir essen viel und trinken viel. Und es sind meine Söhne da und es sind die Söhne meiner Schwester da und wahlweise auch Freundinnen der Söhne.

Später kommt noch Anna, meine Enkelin. Ich habe mich gefürchtet, dass sie ganz allein mit der S-Bahn am späten Abend gefahren ist. Früher habe ich mir über so etwas keine Gedanken gemacht. Aber die Zeiten sind andere. Erstmals ist auch Enkel Tamino – Sohn von Moritz – voll dabei. Er spricht schon und spielt hingebungsvoll mit der neuen Eisenbahn.

Wir haben wieder ein Juleklapp organisiert. Jeder der Erwachsenen hat ein Geschenk unter den Baum gelegt. Und jeder bekommt eins und muss raten, von wem es denn sein könnte. Das haben wir immer gern getan und es hat auch immer Spaß gemacht. An diesem reduzierten Heiligabend auch. Ich habe von meinem jüngsten Sohn Moritz Kosmetik bekommen, die Miss Bella, die Youtuberin, empfahl. Er hat mir zu jeder Creme ein kleines Briefchen, sogar mit Umschlag und Adresse geschrieben. Und mit einer Erklärung. Sehr süß. Ich habe mich unheimlich  gefreut, dass er sich offensichtlich vorher in meinem Umfeld erkundigt hat, was mich erfreuen könnte. Die handgeschriebenen Briefchen mit Umschlag von Miss Bella a.k.a Moritz sind natürlich der Clou. Ich glaube auch alle anderen waren dieses Mal mit ihren Geschenken sehr zufrieden. Ich resümiere, dieses durchaus beschissene Weihnachten hat uns gezeigt: Wir sind eine Familie. Wir halten zusammen. Alle, die gerade in unserer Familie nicht auf der Glückssträhne zu Hause sind, fangen wir auf. Und das ist das Wichtigste. Wir sind immer da. Wir sind eine Festung. Das Schlimmste auf der Welt ist, niemanden zu haben. Der Mensch soll nicht allein sein. Das stimmt. Das hält kein Mensch aus.

8. Dezember – Der Tag, an dem Robert, der Maya heißen sollte, auf die Welt kam – in einem tief verschneiten Leipzig der Siebziger Jahre.

Dieses Kind wird ein Mädchen und Maya heißen. Die erste Täuschung. Dieses Kind wurde kein Mädchen. Es wurde Robert genannt. Am Abend seiner Geburt sagte meine Mutter: „Du siehst aus, als käme das Kind heute noch.“ Sie gab mir ein Whiskey-Glas mit einer braunen Flüssigkeit und meinte, ich solle das trinken und dann in die Badewanne gehen. Ich tat das, wie geheißen. Es war kein Whiskey, es war Cognac. Damaliges Lieblingsgetränk meiner abendlich trinkenden Mama.

Nach Getränk und Wanne setzte ich mich auf das Sofa und dachte: Naja. War wohl nichts. – Plötzlich wurde es warm und nass um mich herum. Es lief aus mir heraus. Fruchtwasser. Blasensprung hieß das. Vorzeitiger. Also Krankenwagen anrufen und ins Krankenhaus – ins Leipziger Eitingon, wie wir das damals nannten. Es begann zu schneien, die Damen an der Pforte des Krankenhauses wollten mich abweisen und nach Zwenkau schicken. Eine benachbarte Kreisstadt im Kohlegebiet um Leipzig. „Gott im Himmel, ich danke Dir für den Blasensprung“, sagte der noch nicht Geborene später, „Ich danke Dir, dass Du verhindert hast, in Zwenkau geboren zu sein! Klingt doch bescheuert für einen Rockstar!“

Nun gut, der vorzeitige Blasensprung verpflichtete das Krankenhaus in Leipzig, mich in den eigenen Kreißsaal zu schicken. Überbelegt. Es war die Zeit, in der in der DDR viele Kinder geboren wurden. Kinderreichtum wurde auch mit sogenannten Sozialleistungen belohnt. Kinder brauchte die Republik, die noch unverdrossen in Richtung Kommunismus unterwegs war. – Doch hatte der überfüllte Kreißsaal – kommt von Kreischen, wie ich später hörte – nur einen Platz für mich, der sich gegenüber der hohen Fensterfront befand. Da lag ich, wie ein gestrandeter Wal, die ersten Wehen setzten ein. Lag da. Unattraktiv und breitbeinig, Hebammen schauten nach, was sich da zwischen den Beinen tat. Und über mir die Fensterputzer, die versuchten, diskret wegzuschauen. „Tut uns leid, junge Frau! Wir müssen eben irgendwann hier auch mal Fenster putzen. Liegt ja immer eine da.“

Tja, es gibt Um- oder Zustände im Leben einer Frau, in denen Fensterputzer als Zuseher bei einer Geburt egal sind. Und es kam noch ärger. Eine Hebamme lachte und sagte zur anderen: „Schau mal, das hat aber eine Vollglatze!“ – Die andere schaute genauer und rief: „Himmel, das ist doch der Arsch!“ – Einschub: Ultraschall und entsprechende Vorbildchen gab es zu dieser Zeit noch nicht. Die Ärzte sagten bei allen Voruntersuchungen, der Kopf sei unten, wo er hingehört. Sogar im Kreißsaal, als ich dort eintraf, wurde das noch einmal behauptet. Nun also eine reine – Steißlage. Hektisch wurde das Bett zu einem Operationstisch umgebaut und eine Ärztin im OP-Kittel preschte heran. Sie sagte: Entweder wir holen das Kind innerhalb von fünf Minuten per „kleinem Schnitt“ oder wir müssen einen Kaiserschnitt machen. Dann bekommen Sie eine Narkose.

„Das Kind“ war klein und dünn. Es reichte der „kleine Schnitt“ und es kam mit blauem Hintern, aber engelhaftem rosa Gesichtchen zur Welt. Halb erstickt, erst nicht schreien wollend, aber am Ende doch wohlbehalten. Das Kind, das später Robert hieß, hat der Welt als Erstes „den Arsch gezeigt“. Ist doch auch was, oder? Am nächsten Tag war die Aufregung schon ein bisschen vergessen. Der Vater stapfte von Leipzig-Connewitz durch die ganze Stadt durch den immer währenden Schnee bis zum Eitingon-Krankenhaus am anderen Ende. Väter durften damals bei Geburten nicht dabei sein. Und ich finde das heute noch gut. Mir reichten die Fensterputzer. Straßenbahn und Busse fuhren nicht. Autos kamen auch nicht durch, weil die Stadtreinigung mit dem Schnee nicht mehr klarkam. Es war ein verschlafen verschneiter Tag im sozialistischen Leipzig. Es war ein 8. Dezember. Einige Jahre später sollte an diesem Tag John Lennon erschossen werden.