Der Toten-Märchenwald oder ein Sonntag im November

Totensonntag. Stiller Sonntag. Grauer, schneeverregneter Sonntag. Du Bleierne Zeit, die mich an Margarethe von Trottas Film denken lässt, an Schwestern, die durch einen düsteren Märchenwald irren, den imaginären Kindermärchenwald – und sich niemals mehr finden. Zu verschieden. Ich denke an meine Großmutter, die mir von so einem Märchenwald vorlas. Ich denke an zwei Ehemänner, die „gegangen“ sind, ich denke an meine Mutter. An meine Freundin Monika, die im letzten Monat „vor der Zeit“ an Krebs starb. Ich denke an den „Witwenwettbewerb“ auf den Friedhöfen – im Kampf um das bestgepflegte Grab. Gestern schien es dort, auf den Friedhöfen, als sei Jahrmarkt im Himmel. Gerüstet wurde für den grauen Sonntag, der heute ist, auf das ein letztes Bunt-Aufgebot von meistliebender Erinnerung zeuge. Ich denke an meinen Vater, der schon mit sechsundvierzig Jahren auf einer einsamen Landstraße auf ein unbeleuchtetes Fahrzeug der damals Sowjetischen Armee auffuhr und der nach zwei Stunden tot war. Ohne Sicherheitsgurt. Der war damals noch nicht üblich. Ein Tod, der mich für Jahre todtraurig zurückließ. Wer kennt sie nicht, heiße wellenförmige Trauer, die uns überfällt, weil noch nicht alles gesagt war, weil das Unerwartete zustieß. Unerbittlich. Kein Gebet, kein Trost. Kein Zurück. Nichts. Heute wieder weine ich still – wenn ich an dieses Kind denke – das im März nicht geboren wird. Auch das ein Tod. Auch das eine Trauer. Eine bittere Fantasie. – Und ich denke an alle jene, die ich liebe. An die, die mein Leben lebenswert machen. An meine Familie, meine Kinder, meine Enkel, meine Freunde. Wir alle sind gekommen, wir bleiben, wir gehen. Manchmal haben wir das Glück, uns verabschieden zu können. Manchmal harren wir zu lange. Manche sind niemals wirklich geboren. Das ist das Leben. Das ist der Tod. Seltsamer November. Dir gehört dieser Tag.

Wie ich einmal in der RTL-Hans-Meiser-Talkshow als Expertin auftrat und Flugangst mich beinahe hinwegraffte

Meine lieben Studienkolleginnen Karin Deuser, Daniela Köppe – nein, nicht mit mir verwandt – und ich haben 1995 ein Buch geschrieben. Ein Extrakt und eine Erweiterung unserer Diplom-Präsentation an der Universität der Künste Berlin 1994: „90-60-90 – Zwischen Schönheit und Wahn“ – so hieß das. Offensichtlich müssen das einige Medienvertreter gelesen haben. Denn: Ab sofort waren wir „Expertinnen“.

Und wie das so ist, wenn man die Expertinnen-Karriere einmal eingeschlagen hat, wird der Experten-Name in einschlägigen Redaktionsverteilern verewigt. Während Karin, eine weitaus bessere Rednerin als ich, wenn es um die Verkündigung unserer Botschaften ging,  bei Spiegel-TV saß, geriet ich in die Fänge der Nachmittags-Talk-Shows. Die erste war bei Hans Meiser, lang, lang ist’s her.

Es ging um Schönheitsoperationen, ein Thema, das wir in unserem Buch nur am Rande und eher philosophisch-soziologisch berührten. Das war den anrufenden Experten-Scouts egal. „Sie machen das schon!“ Ich zierte mich nach allen Regeln der Kunst. Trieb mein Honorar in die Höhe und – sie ließen nicht locker. „Sie machen das schon!“ (Ertappte mich gerade dabei, dass ich „Sie schaffen das schon!“ schreiben wollte). Irgendwann ermattete ich, sagte „ja“ und kaufte mir ein kritisches Buch über Schönheitsoperationen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch niemals geflogen und hatte das auch nicht vor. Ich war sehr esoterisch drauf – zu dieser Zeit – und dachte Sätze wie „Der Mensch hat keine Flügel, also soll er auch nicht fliegen“. Meine Welt war ohne Flügel in Ordnung. Dann erhielt ich einen Anruf. Aus Köln-Hürth. Von der Hans-Meiser-Produktionsfirma. „Ihr Flieger ist gebucht, melden Sie sich am Lufthansa-Schalter um 14.00 Uhr in Tegel“ – „Aber ich fliege nicht!“ – rief ich entsetzt – „Ich kann nicht fliegen!“ – „Jeder kann fliegen! Also, es ist alles gebucht, seien Sie pünktlich, Sie werden dann in Köln von einem Fahrer abgeholt“. Sprach es und legte auf.

Ich legte auch auf und ging zu „Karstadt“ und kaufte einen Wintermantel. Und dachte übers Fliegen und Schönheits-OPs nach. Um es kurz zu machen: Ich flog. Und ich trank ein gefühltes Fläschchen Valium, so dass ich beinahe vom Sitz fiel und mir die Spucke aus dem Mund lief – im Flieger. Der Stewart sprach mich an: „Geht’s Ihnen gut?“ „Ja, mir geht’s gut, bin nur bissel gedopt. Sagen Sie, warum sehe ich immer dieselbe Wolke? Stehen wir in der Luft?“ „Haha, Sie sind gut. Wir fliegen in 10.000 Meter Höhe mit 750 Stundenkilometern!“ „Aha“. Ich griff zu meinem Fläschchen und nahm noch einen Schluck.

In Köln wankte ich durch den Flughafen und sah jemanden, der ein Schild mit meinem Namen trug. „Sind Sie Frau Gläser?“ – „Ja“. „Geht’s Ihnen nicht gut?“ „Doch. Bestens. Ich lebe noch!“ – Unverständnis und eine Kopfbewegung in Marschrichtung zum Auto, das uns dann in die Studios nach Hürth fuhr.

In der Garderobe erst einmal stundenlanges Sitzen, dazwischen Schminken, ich erkannte mich kaum wieder, und Begutachtung der anderen Gäste. Die waren in „Opfer“ und „Experten“ unterteilt. Dazu kam das damalige „Gesicht 95 oder 96“. Ich weiß gar nicht mehr, was das für ein Jahr war. Jedenfalls war das „Gesicht“ der Star. Sie hatte Beine, die ungefähr in Höhe meines Nabels endeten, und war sehr gut drauf. Noch lagen Schönheitsoperationen für sie in weiter Ferne. Hofiert und angebetet wurde sie von allen Redaktionsjünglingen, die ihr auf Schritt und Tritt hinterher sabberten.

Plötzlich kam Michael Jackson in die Garderobe. Alles erstarrte. Kurz. Denn sogleich begriff man, wir sind hier in einer Freakshow. Es geht um Schönheitsoperationen. Da war also einer, der schon einige OPs hinter sich hatte, um als M-J-Double zu arbeiten. Dann eine Frau, die in ihrem früheren Leben die Nofretete war und so viele Operationen hinter sich hatte, um dieser Inkarnation zu gleichen, dass fürderhin keiner in Deutschland mehr sein Messer an sie legen wollte. Sie berichtete in der Sendung, dass sie demnächst nach Brasilien ginge, dort blühe das Schönheitsoperationswesen und dort fände sie jemanden, der ihre Selbstwerdung hienieden vollendet.

Eine kleine ältere Frau, wie sich später herausstellte, war sie über siebzig, hatte ihre Operation filmen lassen, in der ihr tatsächlich das gesamte Gesicht abgelöst wurde, straffgezogen und wieder neu angenäht. Nichts für weinerliche Gemüter wie mich. Und dann –  der Superstar. Ein Arzt, der Schönheitsoperationen anbot und natürlich ins Werk setzte, auch die der älteren Dame, und durch die Sendung führte. Gemeinsam mit Hans Meiser. Es war eine gigantische Werbeshow für diesen Chirurgen. Bei insgesamt sechs Sendungen zu unterschiedlichen Themen chirurgischer Verschönerung bzw. Veränderung.

Ich begriff sofort, dass ich als die kritische Expertin vorgesehen war. Sprach wie im Wahn ein paar Sätze. Alles schnell, schnell. Konnte mich später an nichts mehr erinnern. Der Schönheitschirurg gab mir hinterher seine Karte. Das „Gesicht 95“ flog mit mir zurück nach Berlin. Wir betranken uns mit Minisektflaschen, sie erzählte mir von ihren weitreichenden Modelplänen. So vergaß ich mein Valiumfläschchen und landete glücklich. Ganz große Vorsätze: Niemals mehr fliege ich. Niemals mehr geh ich in eine Talkshow. Beides hab ich nicht eingehalten.

Foto: Ich 1995 – ein Bewerbungsfoto, mit dem ich nie einen Job bekommen habe 🙂