Die Freuden des Alters – und die Leiden auch…

Ich habe noch Pockennarben. Weiß eigentlich jeder, der das liest, was das ist? Pocken gibt’s ja schon lange nicht mehr und als ich mich der schmerzhaften Prozedur einer Pockenimpfung unterziehen musste, bekam diese Krankheit keiner mehr, den ich kannte. Heute sind sie ausgemerzt, heißt es. Diese Pocken. Ich habe zwei dicke fette weißliche Narben am Oberarm. Kann mich aber erinnern, dass vorzugsweise Fleischfachverkäuferinnen in der DDR, die immer in weißen Kitteln mit freien Oberarmen bedienten, die immer sehr dick waren, in der Regel vier dieser Narben aufwiesen. Sie sind in meiner Erinnerung mit der Fleischfachverkäuferin zu einem Emotionsknäuel verwachsen. Diese vier Pockennarben am Arm der… – nun ich sag es nicht noch einmal – diese sehr begehrten Damen verkauften uns DDR-Kindern, die für ihre Eltern anstanden, und auch vielen Frauen, sogar Männern, die ebenfalls die Schlange bevölkerten, die zum Sozialismus gehörte, wie der Topf auf den Deckel, die heiß begehrte Fleischware. Heiß begehrt waren Rouladen, Kochschinken, roher Schinken, und ungewöhnlichere Fleischsorten, neben dem normalen Schweinefleisch, das gab es immer oder meist.

Was ich damit sagen will: Ich bin alt.

Wer hat heute noch Pockennarben? Heute hat man eine BioNTech-Impfung oder eine von Moderna, AstraZeneca oder Johnson & Johnson. Ich werde keine von denen in mich hineinlassen. Obwohl ich keine Impfgegnerin bin. Aber nicht noch einmal lasse ich es zu, dass man mir zwangsweise etwas in den Körper spritzt, von dem ich nicht weiß, was es bewirkt. Letztes Jahr redete mir meine Hausärztin mal wieder eine Tetanus-Impfung ein. Ich habe „Ja“ gesagt. Die ist bewährt. Da weiß ich, was ich habe oder bekomme oder eben nicht bekomme.

Aber das ist heute nicht mein Thema. Mein Thema ist: Ich bin schon alt.

Ich habe Pockennarben. Und früher hatte ich abstehende Ohren. Und immer habe ich die Eltern genervt, dass ich eine OP will. „ich will anliegende Ohren haben!“. Ich kann mich erinnern, dass ich mit vierzehn Jahren im Kino saß. Und weil die Friseuse – so hießen die damals und nicht Friseurin – mir die Haare zu kurz geschnitten hatte, konnte ich den Film nicht richtig verfolgen, da ich in erster Linie daran dachte, dass die Jungs hinter mir sehen könnten, was ich für abstehende Ohren habe. – Wie durch ein Wunder habe ich – ohne Operation – heutzutage so anliegende Ohren, dass man bei Frontalfotos denkt: Die hat überhaupt keine Ohren! – Auch irgendwie komisch. Wie sich die abstehenden Ohren meiner Kinder- und Jugendzeit „über Nacht“ in den gewünschten Zustand legten. Ich kann es nicht erklären, es ist sozusagen ein Gotteswerk. Meine Gebete wurden erhört.

Aber wir waren beim Alter. Woran merke ich, alt zu sein?

Ich bin nicht mehr eifersüchtig. Und ich weiß, dass es sich nicht lohnt, eifersüchtig zu sein. Kann mich aber gut erinnern, dass ich früher vor Eifersucht fast innerlich verbrannte. Dass ich zur Mörderin hätte werden können, wenn ich nicht doch eine gewisse moralische Erziehung genossen hätte. Als mein Mann Peter zum ersten Mal eine seiner Geliebten nach Hause brachte und in unserem Bett übernachten ließ, konnte ich mich nicht entscheiden, wem ich das Messer in die Brust stoßen sollte. Ihm oder Ihr. Also ließ ich es und bekam lieber Magen- oder wahlweise Unterleibsschmerzen. Die Unterleibsschmerzen haben sich erledigt, wie die Mordgelüste. Sie sind Knie-, Rücken-, Herz-, und Hallux-Schmerzen gewichen. Ich überlege, was ich lieber hätte. Heute entschiede ich mich für die Eifersucht, weil ich damit umgehen könnte. Aber ich kann nicht alles haben. Weisheit gegen Jugend funktioniert leider nicht.

Wann ich alt geworden bin? Als ich die ersten goldenen Ohrringe gekauft habe. Heute trage ich nur noch Gold oder tu zumindest so. Silber kommt mir nicht mehr in die Tüte. Ist arm, aber sexy, aber jung. Bin ich alles nicht mehr.
Alt ist auch gut. Es gibt keine Erwartungen. Es gibt nur noch Genuss. Essen ist der Sex des Alters – stimmt. Trinken auch. Leider gefährlich. Ich hatte eine Alkoholiker-Mutter. Also kämpfe ich mit Whiskey und Sekt. Jeden Tag aufs Neue. Und manchmal klappt das sogar.

Alt ist auch gut – es gibt zum Beispiel die Freude, am Morgen wieder heil zu erwachen und einigermaßen die ersten Schritte in den Tag zu bewältigen, die schmerzhaft sind, aber es lässt nach – im Laufe des Tages. Es gibt die Freude, so schlau zu sein und die noch größere Freude, dass die anderen es nicht merken. Ich kann mich sehr gut dumm stellen. Eine meiner Lieblingsübungen. Und die Jüngeren, einschließlich meiner allesamt sehr klugen Kinder und Kindeskinder denken – wie ich auch früher – sie seien doch viel viel viel klüger. Kenn ich. Hab‘ ich auch gedacht.

Alt hat noch viele gute Seiten. Weil ich nicht mehr auf Friedhöfe gehe. Sie sind mir zu nah.
Insgesamt ist alt sein natürlich ziemlich grauenhaft. Ich setze das fort, wenn ich noch ein wenig darüber nachgedacht habe.

Tüte des Alltags und der Lüfte

Seit zwei Jahren ärgere ich mich über eine weiße Plastiktüte, die sich in einem Baum verfangen hat, wenn ich aus dem Küchenfenster schaue. Sie schaukelt im Winter im Wind, weiß und allein. Im Sommer versteckt sie sich unter Blättern. Verlässlich da. Immer. Gestern machte ich ein schönes Abendrotfoto aus dem Küchenfenster heraus und dachte: Kannst Du blöde Tüte nicht einfach mal wegfliegen! – Vorhin schau ich so im Vorbeigehen vorn aus meinem Arbeitszimmer auf die Straße und – was sehe ich? Eine weiße Tüte hängt im Baum. Das wird doch nicht „meine“ Hinterhof-Tüte sein? Geh in die Küche und schau nach. Sie ist es. SIE IST ES. Denn sie ist nicht mehr da, wo sie seit zwei Jahren hingehörte. Flog über das große Haus und – bleibt dennoch bei mir. Vielleicht sollte ich der Tüte einen Namen geben. Ich nenne sie Angela. Angela die Himmlische.

Foto: Gestern Abend beim Sonnenuntergang aus dem Küchenfenster fotografiert.

Schuhe. Schränke. Sinfonien.

Ich schreib so vor mich hin. Was mir durch den Kopf geht. Zum Beispiel meine neuen Schuhe von Giesswein. Ich schwöre, ich kenne diese Firma nicht persönlich, aber ich habe bisher schon fünf Paar Schuhe dort gekauft. Sie sind einfach Garanten meines beschwerdefreien Gehens. Ich bin nicht mehr im High-Heels-Alter. Da muss ich an das komische Bild denken, dass irgendjemand, möglicherweise mein Vater, von mir in Leipzig in der Wohnung meiner Großeltern aufnahm. Da hab ich noch nicht an beschwerdefreie Schuhe gedacht und stehe vor dem großen Bücherschrank, den meine Eltern von meinen Großeltern zur Hochzeit geschenkt bekamen. Eine Art Neoklassik oder was auch immer. Aber Holz. Heute besitzt meine Enkelin Anna den Schrank, den sie zunächst nicht haben wollte, sie war noch im IKEA-Wahn. Mittlerweile hat sie begriffen, dass alle jungen Leute identische Wohnungen haben, dank IKEA. Und plötzlich findet sie es gut, mal ein anderes Stück zu besitzen, das ihre Wohnung ein bisschen anders macht. Dazu hat sie sich einen hölzernen Tisch per ebay-Kleinanzeigen gekauft, den sie auf ihrem Rücken in der Berliner U-Bahn beförderte – von Wohnung zu Wohnung. Tja, nun zum Foto: Man kann auf diesem Foto sehen: Auch aus Menschen mit bescheuerter Pony-Frisur kann noch etwas werden. Ich meine mich. Das bin ich – auf diesem Foto. Alle, die mich kennen, können das kaum glauben. Interessant finde ich diesen – ich weiß nicht, ob man das damals sagte – Trainingsanzug. Er hat eine Reißverschlussbrusttasche und auch die Hose ist so voluminös, dass man meinen könnte, sie entstamme einem Science-Fiction-Film. Dazu nochmals Taschen. Das kann doch keiner in der damals so ärmlichen DDR genäht oder gekauft haben? Oder war es doch meine göttliche Großmutter, die Schneiderin, die mir dieses Teil verpasste, das mich wie eine Wrestling-Kämpferin aussehen lässt. Allerdings im falschen Film und Alter. Dazu dieser Pony. Ach, ich wiederhole mich. Was solls. Ich zeige es, das Foto. Es spielt keine Rolle mehr. Wir sind ja alle so Corona. Was spielt noch eine Rolle? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir eine Melodie in den Sinn. Mein Ohrwurm in diesen Tagen. Das neue Werk meines ältesten Sohnes Robert Gläser. Es hat wirklich einen tricky Text. Was im Englischen eher schwierig heißt. Schwierig ist der Text nicht, nur unterschiedlich interpretierbar. Jeder interpretiere für sich selbst. Ich finde, es ist ein Text für all jene, die nicht wissen, was sie tun sollen. Mach Dein Leben groß, so groß es eben geht! Sonst ist es eben keine Sinfonie, sondern eine kleine Melodie. Was auch nicht schlimm ist. Ich aber – so alt ich auch bin – will das Leben immer noch zu meiner Sinfonie machen – bis zum Finale. Meiner Lebenssinfonie. (Den Link zum Video finden Sie im Anhang)

(2) Robert Gläser – Lebenssinfonie (Offizielles Video) – YouTube

Das Erzgebirge blieb als ewige Sehnsucht zurück…

Februar 2021. Neben unserem großen C-Problem ist es auch noch klirre kalt. Das Land ist doppelt entsetzt. Wie kann es nur im Winter einen Winter geben! Sollte nicht ein ewiger Sommer werden?

Wenn es dann so kalt ist und noch dazu im Februar, denke ich an unsere DDR-Winterferien – immer im Februar. Drei lange Wochen, in denen die Eltern meist arbeiteten. Also wurden wir zu den Omas geschickt. Als ich noch klein war, bettelte ich immer, nur nicht zur bösen Oma fahren zu müssen. Denn ich hatte die böse Oma und die gute. Die gute war die, mit der ich stets die vielen Verwandten besuchte. Wenn ich begriffen habe, was Verwandte sind, dann durch sie. Tante Clara und Onkel Karl, Tante Manni und Onkel Franz, die im Lotto gewonnen hatten und selbst einen Lottoladen betrieben. Oha, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, meinte die Oma. Das Schlimmste, sie hatten meiner Mutter und ihrer Schwester nichts abgegeben! Das hat die Oma nicht verziehen, das fand sie schäbig. Die anderen Cousins und Cousinen erhielten alle einen Anteil am Lottoglück. Schade, dass ich nie mehr erfahren werde, warum die sich alle nicht wirklich grün waren.

Da sind viele Geschichten, die für immer verschwunden sind. Tante Elli mit den sieben Kindern und diesem brummigen sympathischen Mann. Ich habe mich bei ihnen wohl gefühlt und auch wieder nicht. Weil es mir ein bisschen zu schmutzig war. Aber wenn es selbst gesammelte Pilze gab, war ich jedes Mal begeistert, obwohl sie nicht wirklich sauber geputzt waren, wie die Oma meinte. Bei ihr sahen die gebratenen Pilze weiß aus, bei Tante Elli waren sie eher schwarzgrau. Aber mit einer Scheibe Brot einfach wunderbar. Auf die eine Tante hatte die Oma Wut, wegen Lotto, die andere war in ihrer Haushaltsführung zu schlampig. Eine weitere Tante war geizig. Sehr, sehr geizig. Die nächste scheinheilig. Sehr, sehr scheinheilig. Aber wir besuchten sie. Jedes Wochenende. Der Reihe nach. Besonders Weihnachten und bis in den kalten Erzgebirgsfebruar hinein war das sehr anstrengend.

Ich musste bei jeder Tante deren Stollen-Kreation kosten und nach Möglichkeit auch aufessen. Butter triefende Scheiben, bei der fünften Tante drehte sich mir der Magen um. So kurz nach dem Krieg und mit noch nicht gefüllten Supermärkten, sondern einer Mangelwirtschaft – war so ein Stollen der Beweis von Großzügigkeit und Reichtum. Also viel Butter, viele Zutaten, sehr viele Kalorien. Ich war ein braves Mädchen und mümmelte es in mich hinein, während ich mich umschaute.

Da gab es die Hochzeitsbilder an den Wänden, die Deckchen, die weiße Tischdecke, das Vertiko. Die seltsam riechenden alten Damen – und Herren – und die Nippes überall. Die Kissen, bestickt und das gute Sofa, auf dem nie jemand saß. Die gute Stube. Die Küchen mit Kochmaschinen und Ausguss und die Gespräche. Über die Nachbarn, früher, den Krieg, die Gefallenen, die Kinder, die in die neue Zeit starteten. In den winzigen Schlafzimmern mit Eisblumenfenstern die kaltwarmen Federbetten. Die Kissen mit Lochstickerei. Die Kachelöfen. Die knarrenden Dielen. Bohnerwachsgeruch. Dazu der geheimnisvolle große Kleiderschrank der Oma mit Hüten und Kleidern aus ihren „besten Zeiten“. Die passten ihr nicht mehr. Aber mir. Wenn ich sie mit Gürteln zusammenhielt.

Und über allem der heilige Schein des Erzgebirges.

Alles in allem war es eine schöne Kindheit in diesen stillen Wintern. Mit Schneedurchmarsch am Hauseingang, links und rechts größer als ich. Ohne Angst vor Spielunfällen. Vor denunziatorischen Nachbarn. Vor Lebensmittelunverträglichkeiten.

Ich wurde immer für die Tochter der Schwester meiner Mutter gehalten, weil ich ihr ähnlicher sah, als meiner Mutter. Und irgendwann fuhr ich dann wieder in die sozialistische Stadt. Das Erzgebirge blieb als ewige Sehnsucht zurück.

Foto: Meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern, die beim Lotto leer ausgingen…

„Es gibt Momente da stellen sich die Weichen und selten, und selten von allein…“

Tage gibts, da ist alles Scheiße. Da zweifelt man am eigenen Lebensentwurf. War das alles nichts? Habe ich überhaupt mal irgendetwas richtig gemacht? Gibt es eine Rettung – so in der Zukunft? Natürlich kennt das fast jeder. Ich ganz besonders, die Stimmen in mir murmeln den ganzen Tag auf und ab und auf und ab. Und sie sagen mir unentwegt, dass alles, was ich tue, nicht gut genug ist. So geht das schon mein Leben lang. Es hat sich nicht viel geändert. Nur dass ich mit diesen Stimmen ziemlich alt geworden bin und irgendwie alles – wie schon immer – weitergeht.

Auf die Frage, wie ich zum Radio kam, kann ich eine kleine Geschichte erzählen, die gleichzeitig meine Theorie bestärkt, dass es ohnehin egal ist, was wir bewusst tun, um – wie es so schön heißt, vorwärts zu kommen. Wir können auch auf den „Zufall“ warten und diesen Zufall erkennen. Oder würdigen. Oder gar nichts tun. Es ist egal. So ein Zufall kommt in unser Leben. Und dieser Zufall trägt oft einen Namen. Meist den einer, nicht in unserem inner circle befindlichen Person. Es kann eine Person sein, die unser Leben umkrempelt, von der wir das nicht erwartet haben. Sie tritt in unser Leben. Und sie geht (oft) auch wieder. Sie stellt nur die Weichen. Das habe ich schon einige Male erlebt. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, nehme aber an, dass ich nicht die ganz große Ausnahme bin, sondern dass viele so etwas kennen. Es kommen plötzlich Menschen in unser Leben, die etwas für uns bewirken, das wir nicht für möglich gehalten haben.

Und es war ein Tag, an dem mein Leben, meine gescheiterten Lieben, meine noch mehr gescheiterten Arbeitsverhältnisse und überhaupt „alles“ mich der Verzweiflung anheimgegeben hatten. Mit einer Flasche Wodka lag ich auf meinem Bett und wollte mal wieder sterben. Eigentlich. Da rief eine entfernte Bekannte an, um sich zu erkundigen, ob ich wüsste, wo sich meine damals ziemlich beste Freundin Petra aufhielte. Ich wusste es natürlich nicht und sagte das auch. Fragte aber, was sie denn von Petra wolle. Die entfernte Bekannte teilte mir verschwörerisch mit, sie hätte Karten für „Die Stones“ für Petra, die sich diese doch so sehr gewünscht hätte. Aber sie könne Petra einfach nicht erreichen. Und die Zeit dränge. Übermorgen sei doch schon der Termin! „Willst Du vielleicht Stones-Karten?“ – Ich – abgetörnt durch mein 1990er Erlebnis mit den Stones im Olympia-Stadion in Berlin, bei dem ich Mick Jagger als kleines dürres Männchen weit weit vorn auf der Bühne herumspringen und so wirklich nur auf der Videoleinwand gesehen hatte – rief ins Telefon: „Gott bewahre! Ich will keine Stones! Ich will ein Praktikum oder so was ähnliches!“ – Die entfernte Bekannte sagte ungerührt: „Dann mach doch ein Praktikum bei uns!“ – Mir fiel ein, dass sie bei einem damals noch relativ unbekannten Radiosender arbeitete, der sich gerade erst gegründet hatte. „Meinst Du, das ginge, die würden mich nehmen?“ – Sie: „Warum nicht? Ich kümmere mich.“ Sagte es und legte auf. Ich vergaß das Gespräch schnell und widmete mich dem Weltschmerz und der Wodkaflasche. Ein paar Tage später klingelte wieder das Telefon. Sie gab mir einen Termin mit dem Radio-Senderchef. Ich fuhr hin. Schien alles richtig gemacht zu haben, bekam das Praktikum von einem Vierteljahr. Und – nach dem Vierteljahr – durfte ich als freie Mitarbeiterin dort weiterarbeiten. Es war der Beginn meiner Radio-Karriere, die 22 Jahre andauerte.

Was wäre heute mit mir, hätte ich die Stones-Karten gewollt. Ich wage es nicht zu denken… Oder spinne mir irgendwas zurecht. Wer weiß, vielleicht wäre ich jetzt Bundeskanzlerin… oder säße an der Kasse bei Lidl oder schriebe erfolglose Romane oder hätte einen reichen Mann geheiratet und züchtete Rosen. Tja, niemand weiß das so genau. Ich schon gar nicht.

(Überschrift nach einem Songtext von Hansi Biebl)

Foto: Anna – meine Enkelin – und ich – genau zu dieser Zeit.

Ich besitze die deutsche Tugend der heilsamen Ordnung nicht…

Alle Geschenke eingepackt. Knietief im Chaos. Überall Papier, Kartons, Tütchen, Cellophanhüllen, dazwischen ein Glas Erdbeerwein, Süßigkeiten, die ich nicht esse, der neue Laptop und zwei alte, Bürokram über Bürokram und Bücher und immer wieder Papier, ich sortiere, werfe weg und befinde mich im Arbeitszimmer, gleichzeitig Zimmer für alles, meine Mondlampe und ein Weihnachtsgesteck von Tante Anni leuchten und ich denke über das Leben nach. Weihnachten ist ein Geburtstermin. Denke nicht mehr über das Leben nach. Sondern über das Chaos. Kann aus Chaos selten Ordnung machen. Ein Defizit, das ich in diesem Leben nicht mehr ins Positive umkehren werde. Ich besitze die deutsche Tugend der heilsamen Ordnung nicht. Jedenfalls nicht jeden Tag. Meine österreichische Freundin, sehr ordentlich, um seelischen Beistand gebeten, meint lakonisch: Das ist nicht wichtig! – Ok, das ist nicht wichtig.

Nach einem größeren Husten…

Was ich nicht mehr mache: Zug fahren. Das Haus des Rundfunks in Berlin aufsuchen. Rauchen. Joggen. Warenhäuser durchstreifen. Salate essen. Fingernägel kauen oder lackieren. Ins Kino gehen. In Ausstellungen gehen. In Konzerte gehen. Ins Theater gehen. Öffentlich-Rechtliches Fernsehen schauen. – Gehen? Draußen? Bin ich von dieser Welt? – Also gehen schon, deshalb das, was ich immer noch mache: Kopfkino hoch zehn. Schminken, auch wenn ich den Müll rausbringe. Eine Maske ist eine Maske ist eine Maske ist eine Unterwerfung. Übers Gewicht nachdenken. Ernährungspläne studieren und aufs Tapet heben, aber nicht durchhalten. Zu viel Sekt trinken. Online-Kaufen. Telefonieren, Nachrichten tippen und lesen. YouTube-Videos schauen. Alternativ Netflix oder amazon prime. Texte im Kopf wälzen. Tagebuch schreiben. Kriminalromane kiloweise lesen. Bisweilen sogenannte gute Literatur versuchen. Mich fürchten. Jeden Tag ein Sportprogramm absolvieren – wollen. Fürchten und Barmen. Mir zu große Sachen kaufen. Um mich besser zu fühlen. Klappt nicht. Mich mit meinen alten Schulfreundinnen treffen. Meine Kinder über alles lieben. Gut für die Seele. Das Vergangene ist nicht nur ein Gespenst. Das Vergangene ist Trost. Mich besser fühlen. Dramakönigin – DIE Aufgabe für den harten Winter.

Endstation 30. November – mein letztes Rätsel auf rbbKultur.

Traurige Zeiten. Draußen ist es düster und kalt. – Ok, heute scheint die Sonne. Auch ein Zeichen. Es ist still. Coronastill. Sogar am vermeintlich helllichten Tag. Ich werde noch fünf Rätsel schreiben, dann verabschiede ich mich vom Rundfunk Berlin Brandenburg. Von meinem langjährigen Haussender rbbKultur, wie er sich seit vergangenem Jahr nennt. Ein Sender, in dem es Entwicklungen gibt, denen ich nicht mehr einfach zuschauen kann. Deshalb ziehe ich eher die Reißleine, als gedacht und geplant. Am 30. November läuft mein letztes Rätsel. Und ich werde frei sein. Befreit von Menschen, mit denen ich nicht mehr arbeiten kann und will, befreit von Unterwerfung, befreit für Neues.

Ich bin traurig und glücklich zugleich – es waren immerhin 17 Jahre. Seltsamerweise auf den Tag genau. Nicht, dass ich so etwas in meinem – nunmehr schon ziemlich langen Leben – nicht schon einmal erlebt hätte. Immer ist da diese Träne im Knopfloch. Zu neuesten Vorschlägen der rbbKultur-Leitung, mein Rätsel als amputierte Version zu senden, sage ich NEIN.

Und ja – es amüsiert mich mehr, als es mich verzweifeln lässt. – Ich schau nach vorn. Wie ich es immer getan habe. Ich kann schreiben. Ich weiß, dass ich das gut kann. Dieses Bewusstsein gibt mir die Kraft, eine andere Zukunft anzusteuern, in diesen traurigen und dunklen Zeiten. In diesen ganz und gar un-rosigen Zeiten. Das Tal wird durchschritten. Jedes Ende ist ein Anfang. Halleluja!

Manfred Krug und eine Jugend in der DDR

Unser Manfred Krug. Der Schauspieler und Sänger, der sowohl in der DDR, als auch später im „Westen“ berühmt war und geliebt wurde. Am 21. Oktober 2016 ist er viel zu früh gestorben und mich würde interessieren, ob er heute, in diesen wahnsinnigen Zeiten, ein serviler „Staatskünstler“ wäre, oder ob er den Mut hätte, eine eigene Meinung zu haben.

Damals – vor vier Jahren – schrieb ich darüber, was er uns in unserer Jugend bedeutete. In Bezug auf seine Musik. Aber das war nicht alles. Er war auch ein wunderbarer Schauspieler, der in so vielen Filmen spielte, dass man sie gar nicht aufzählen kann. Er erinnerte mich seltsamerweise immer an meinen Vater, ich weiß nicht, warum. Ein bisschen das Aussehen, die Körpersprache, aber auch der Widerstandsgeist. – Hier jedenfalls das, was ich schrieb, als er starb, im Oktober 2016:

„Das war nur ein Moment“. Eine LP von „Amiga“, wie das Anfang der Siebziger hieß. Und dann „Ein Hauch von Frühling“, auch so eine LP, auch von Amiga, dem einzigen Popmusiklabel der DDR. Und beide besungen von unserem Schauspieler-Superhelden Manfred Krug. Er war männlich und er war schlagfertig und ein wunderbarer, einfühlsamer Sänger dazu. Diese beiden Langspielplatten ganz lange und immer wieder laufen lassen und auf dem Teppich liegen, träumen und mit den Beinen strampeln. Jugend konnte auch in der DDR wundervoll sein. Danke, Manfred Krug!

Mein Vater

Er wäre heute 90 Jahre alt geworden. Ich hätte ihm das zugetraut, hatte er doch beispielsweise mit Mitte vierzig außer einer Plombe – wie das damals hieß – noch vollständig erhaltene Zähne ohne Fehl und Tadel.

Er war gesund, intelligent und karrierebewusst. So war er einer der jüngsten Professoren der DDR – mit 36 Jahren wurde er ordentlicher Professor an der damaligen Technischen Hochschule Magdeburg, heute Universität Magdeburg. Immerhin nicht in einem Geschwätzfach, sondern in einem Fach, das heute zu MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gehört. Er beschäftigte sich schon früh mit Kybernetik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sein Wunsch war, im Alter ein großes Buch über die Geschichte der Technik zu schreiben. Auch war er – wie ich – philosophisch interessiert, also kein Fachidiot.

Er entstammte einer Arbeiterfamilie, wie man so gern in der DDR schrieb, wenn es um einen gehätschelten Funktionär ging. Einer Arbeiterfamilie anzugehören, war sozialistischer Adel. Ich vermute, heute ist das nicht mehr so, aber das ist ein andres Kapitel. Mein Vater entstammte also einer Arbeiterfamilie, wobei man munkelt, dass sein Vater – den ich nicht mehr kennengelernt habe – schon an einem Schreibtisch saß. War er ein Funktionär der Arbeiterpartei, der mein Vater mit 16 Jahren beitrat? Der Kommunistischen Partei Deutschlands, die dann mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Osten bzw. der Sowjetisch Besetzten Zone fusionierte? Das kann ich leider nicht mehr eruieren. Egal: Sein Vater und auch mein Vater waren Mitglied der Partei, die immer recht hatte, im späteren Experimentiergebiet der Sozialisten, das sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Und mein Vater machte alles richtig. So heißt das heute, wenn man „oben“ landet, ohne vorher gewusst zu haben, dass man „alles richtig“ macht.

Kleine Episode am Rande: Mein Vater war wohl zeitlebens darüber glücklich, eine so schöne Frau erobert zu haben. Meine Mutter. Deren Eltern eher bürgerlich-konservativ orientiert waren. Als meine Oma, die Mutter meiner Mutter, erstmalig zur Vorstellung in der anderen Familie, der meines Vaters antrat (die Kinder „mussten“ heiraten, denn meine Mutter war schwanger), ging sie in der engen Wohnung der Eltern meines Vaters noch einmal aufs Klo, um sich frisch zu machen. Für den großen Auftritt. Ein Bad gab es nicht, es war also ungewohnt eng dort. Die Legende geht so, dass meine Oma mit Hut und Handtasche, wie sie nun einmal immer offiziell auftrat, in die Arbeiterwohnküche schritt, aber ihren Rock aus Versehen mit dem Schlüpfer verbandelt hatte, so dass die Beine frei waren. Meine Mutter eilte wie der Blitz herbei und riss den Rock aus dem Schlüpfer. Die verblüffte Familie meines Vaters schaute diskret und verzog keine Miene. Immerhin.


Ich weiß nicht, ob mein Vater ein guter Vater war. Doch ich will es gern glauben. Auf jeden Fall habe Ich ihn mehr geliebt, als meine Mutter. Obwohl er mich fast täglich kritisierte. Was mich vermutlich zu Höchstleistungen anspornte. Ich sollte auch Professorin werden und war auf dem besten Weg dahin, als ich während meines Philosophiestudiums plötzlich den Glauben an die sozialistische Idee verlor – oder hatte ich erstmalig selbständig gedacht? Und das war gar nicht gut, in den Augen meiner Eltern. Als ich zwangsweise exmatrikuliert wurde an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig, versuchte mein Vater, das zu verhindern, indem er beim Rektor vorsprach, ohne dass ich das wusste. Ich erfuhr es erst später. Er hielt, nachdem ich mit meiner Mutter heillos verstritten war, heimlich den Kontakt zu mir. Und als er mit 46 Jahren starb, durch einen Autounfall – brach für mich eine Welt zusammen. Mindestens ein Jahr lang litt ich unter ständigen Heulanfällen und ich wollte es einfach nicht akzeptieren, dass er nicht mehr da war.

Heute bin ich viel älter, als er war, als er starb. Ich denke darüber nach, wie ich ihn wohl heute fände, wie ich ihn als Person einordnen würde. Ob ich ihn immer noch für so superschlau halten würde, wie damals. Wie gern führte ich noch einmal ein Gespräch mit ihm. Ein Gespräch auf Augenhöhe mit meinem heutigen Verstand und der langen Lebenserfahrung. Ich bin jetzt zwanzig Jahre älter als er. Schon seltsam.

Foto: Passbild meines Vaters – kurz vor seinem Tod.