Wir Kinder vom Bahnhof Ostkreuz – Mein Friedrichshainer Mädchen oder die Enkel der DDR

„Die sieht ja aus, wie meine Mutter!“, sagt der frischgebackene Vater zur frisch geborenen Tochter. Vater Robert, mein Sohn. Tochter Anna, meine Enkelin. „Die sieht ja aus wie eine von der Tschuktschen-Halbinsel!“ – kreischt Tante Illi im breiten Erzgebirgisch. Illi – mit dem Zug herbeigeeilt, um zu helfen.

Die Tschuktschen-Halbinsel liegt im fernen Ostsibirien der früheren Sowjetunion, heute Russland. In der DDR-Zeit gab es Romane, aus denen man erfahren konnte, wie die Tschuktschen, ein kleines Völkchen, leben, und wie man sowjetkommunistisch auf sie einwirkte, was nicht wirklich funktionierte. Die Tschuktschen wollten ihre alten schamanischen Riten behalten. Tante Illi wusste also, was die „Tschuktschen“ sind. Ich wusste es auch. Sonst niemand im Raum. Wie sie aussahen, konnte man jetzt besichtigen. Die Enkelin wirkte ein wenig japanisch. Knallschwarze Haare. Vorerst asiatischer Augenschnitt. Rundes Gesicht. Wie eine kleine Tschuktschin, fürwahr! Ich war sofort verliebt. Wir waren alle verliebt.

Die kleine Tschuktschin verwandelte sich innerhalb eines halben Jahres in eine Europäerin. Heute ist ihr 25. Geburtstag. Heute tanzt sie in der „Eisenstadt“ in Sachsen-Anhalt, genannt Ferropolis, auf einem Festival. Festivals – ihr Sommerhobby. Das Wetter ist wundervoll. Damals – an diesem Julitag vor 25 Jahren – war es das auch.

Ich arbeitete zu jener Zeit in einer Agentur in Hamburg als Texterin. Und wohnte mit einem Freund in einer WG. Als ich spät abends nach Hause kam, lag da ein Zettel auf dem Küchentisch. „Du bist heute Abend gegen 21.00 Uhr Oma geworden.“ Dazu ein typisches Oma-Piktogramm. Ältere Dame mit Nerle oder Dutt.

Ein Handy hatte ich damals noch nicht.

Ich war überwältigt. Meine erste Enkelin! Zur Welt gekommen in einem exotischen Geburtshaus in Berlin-Prenzlauer Berg bei Kerzenschein und Weihrauchgerüchen, das Saskia, Annas Mutter, sich ausgesucht hatte. Robert filmte die Geburt. Ein Dokument, das meine Mutter – nunmehr Urgroßmutter – zum Weinen brachte. Aufgenommen mit einer Videokamera, die es heute nicht mehr gibt. Gebannt auf eine Kassette, die es heute auch nicht mehr gibt.

Wir hatten alle noch kein Handy.

Mein geliebtes Friedrichshainer Mädchen war auf der Welt. Und ich habe mir und ihr versprochen, dass ich alles für sie tun werde, was in meiner Macht steht. Eines der wenigen Vorhaben meines Lebens, das ich tatsächlich in die Tat umgesetzt habe, ohne Wenn und Aber, mit all meiner Kraft, mit all meinem Vermögen, womit ich nicht nur Geld meine. Das aber auch. Ich hatte sogar Saskia versprochen, dass ich eine Nasen-OP bezahlen würde, falls Anna später so eine große Nase wie ihr Vater bekommen sollte. Das Geld musste ich nicht ausgeben, Saskias Nasen-Gene waren vermutlich stärker. Anna hat sich von beiden Eltern das Beste zu einer großartigen Mischung zusammengestellt.

Jetzt haben wir alle ein Handy.

Mein Friedrichshainer Mädchen wohnt noch immer und aus Überzeugung im Friedrichshain. Das Friedrichshainer Mädchen traf sich gestern mit seinen Freundinnen und Freunden am Bahnhof Ostkreuz, nicht um abzuhängen, nein, die haben gemeinsam einen Bus gemietet, der sie zum Festival nach Ferropolis bringt. Ausgestattet mit Feierlaune, Zelten, Powerbänken und großen Handys. Mit ihren Handys korrespondieren sie immerdar, den ganzen Tag und die halben Nächte, montags bis sonntags und das seit Jahren miteinander. Ein ständiges Handyrauschen um sie herum. Die (Ost)kinder vom Bahnhof Ostkreuz. Über dreißig Jahre nach der Wende und der Wiedervereinigung der Deutschen. Diese inzwischen erwachsenen Kinder waren zu jener Zeit noch nicht geboren. Und doch haben sie heute – im Jahr 2023 – ihre ganz persönliche Mauer errichtet, wie ich in Gesprächen erfuhr.

„Wir sind Ostkinder! Und wir sind stolz darauf!“ – „Was heißt das denn?“, frage ich, die ich mein halbes Leben im damals ungeliebten Osten und die weitere Hälfte eher im Westen verbracht habe. „Wir Ostkinder sind anders! Wir sind weltoffener und legen nicht so viel Wert auf Kohle, mehr auf Herzlichkeit! Wir sind auf sozialer Ebene stärker. Und wir berlinern mehr!“ Sie sagen von sich, dass sie „atziger“ sind, als die Wessis. Da musste ich erst einmal googeln. In der Jugendsprache bedeutet „atzig“ so etwas wie cool. Sie sind also cooler. Vermutlich ist das so, schon allein deshalb, weil sie nicht so viele Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten haben und darüber lachen können. Und auch nicht unter Helikopter-Eltern leiden mussten. Immerhin haben sie sich das Wort „weltoffen“ in ihre Welt herübergeholt, ohne daran zu denken, dass das Land ihrer Eltern und Großeltern alles andere, als weltoffen war. Zumindest nicht für die eigenen Bürger. – Woran das denn alles liegen würde, frage ich sie. Es läge an deren Eltern. Also an den Wessi-Eltern. Die sind anders: „Wir haben andere Eltern!“

Während wir damals unbedingt so sein wollten, wie die „Wessis“, so leben wollten wie sie, so reden können wollten, setzen diese stolzen Ostkinder ganz andere Prioritäten. „Wir Ostkinder chillen generell nie mit Wessis“, sagen sie ganz überzeugt.

„Ostkinder“ fahren nur in den Westen, also nach Westberlin, wenn es unbedingt sein muss, meinen sie, weil sie sich dort nicht wohl fühlen würden. Das wäre ihnen ganz fremd. In ihrem eingeschworenen Freundeskreis gibt es keinen einzigen Wessi. „Berlin ist groß! Jeder in seinem Gebiet!“

Ok. Ich nehme das zur Kenntnis. Auch ich bin – nach über dreißig Jahren – zu meinen Ost-Wurzeln zurückgekehrt. Und ich fühle mich seltsam zu Hause. Ich kann das also verstehen, hätte nur nicht gedacht, dass sich die alte Spaltung mit dieser noch sehr jungen Generation neu etabliert hat.

Anna ist mittlerweile Studentin an der Humboldt-Universität, in – natürlich – Ostberlin. Sie will Lehrerin werden. Vordem war sie in Berlin-West an der Hochschule für Wirtschaft und Recht. Es war Corona-Zeit. Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Sie fühlte sich dort unwohl und fremd. Und so vollzog sie einen Hochschul- und Studienfachwechsel. Jetzt ist sie glücklich und redet schon mit mir, als wäre ich ihre Schülerin.

Ich wohne fünf Jahre nicht mehr in Berlin. Anna und ich telefonieren fast täglich. Wir sind auf WhatsApp ganz dicke und ich helfe ihr weiterhin in (fast) allen Belangen ihres Lebens.

Manchmal macht es mich traurig, dass mein kleines Mädchen, meine Tschuktschin, die gern auf meinem Schoß saß, mit der ich fast jedes Wochenende etwas unternahm, jetzt auch und tatsächlich erwachsen ist. Ich sehe sie schon mit dem Zeigestock vor der Klasse stehen. Falls es dann noch Zeigestöcke gibt.

Was bleibt? Sie gibt mir immer noch gute Ratschläge, wenn es um Cremes und Make-up geht. Und wenn sie anruft, habe ich meist eine Schrecksekunde Angst, dass etwas passiert ist, dass sie weint und ich sie trösten muss.

Irgendwann wird auch das vorbei sein. Irgendwann ist sie vielleicht auch eine Großmutter. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich am heutigen Tag glücklich und traurig zugleich bin.

Irgendwann fällt uns allen ein Handy oder so etwas Ähnliches aus der Hand.

Foto: Anna und ich einen Tag nach ihrer Geburt.

Meinem Sohn Ben Gläser – ideensprudelnder Berserker und ein tatsächlicher Gutmensch – zum Geburtstag

Oft werde ich gefragt, wer ist eigentlich dieser dritte Sohn? Man sieht ihn nicht – er ist Internetscheu – man weiß nichts von ihm. Ist er mein Geheimnissohn? Nicht ganz. Aber ein bisschen. Über Robert und Moritz habe ich bereits ausführlich geschrieben. Heute soll es Ben Gläser sein. Vorher ein kleiner Ausflug in die Welt des Geborenwerdens.

Heutzutage machen werdende Väter Windelkurse und lernen das hektische Mit-Atmen. Damit sie bereitstehen können – im Kreißsaal, wenn es um die letzte Phase geht. Ich rate immer wieder jungen Frauen, keinen Vater mit in einen Kreißsaal zu nehmen, da gehören sie nicht hin. Es ist Frauensache. Wenn ich Müttern, die nicht auf mich hörten, nach ein paar Jahren sage, warum ich das für besser halte, antworten sie mir: Ach deswegen! Jetzt verstehe ich das! Du hattest Recht.

Doch ist das nicht die Geschichte, die ich erzählen will. Jetzt erzähle ich die Geschichte meines Sohnes Ben, der Ende der Siebziger geboren wurde und zwar mitten in der Nacht. Es war in einem Leipziger Krankenhaus. Die Hebammen waren nach DDR-Art sehr streng und befahlen mir, meine lackierten Fingernägel abzuschneiden. „Lackierte Fingernägel gehören nicht in den Kreißsaal!“. Weil ich protestierte, ließen sie mich spüren, was es bedeutet, unfreundliche Geburtshelfer um sich zu haben (und keinen liebenden Mann, der selbstverständlich in dieser Nacht auf Mugge war). Es war die schlimmste und demütigendste Geburt, die ich erlebt habe.

Am Morgen gab es einen Lichtblick: Der Krankenwagenfahrer, der mich und noch ein paar Frauen, die in dieser Nacht Kinder zur Welt gebracht hatten – in der DDR wurden zu dieser Zeit viele Kinder geboren – in ein anderes Krankenhaus transportieren sollte, erkannte mich als die Frau von „Cäsar“, dem in Leipzig damals stadtbekannten Musiker. „Lasst uns bei Euch zu Hause schnell vorbeifahren? Sagte er und ich sagte ja. Und so hat Peter Cäsar Gläser seinen frisch geborenen Sohn Ben am Morgen, als er auch gerade nach Hause gekommen war, gleich anschauen müssen. Sehr verschlafen und erstaunt. Eingewickelt in eine Silberfolie. Bens acht Jahre älterer Bruder Robert ging gerade zur Schule. Er und seine Freunde schauten ebenfalls auf das Silberwickelkind. Robert meinte spontan: Der sieht ja aus, wie eine Bratwurst!

Ja, Ben hatte bereits einen großen Bruder. Es folgte noch ein kleiner. Ben ist also Mittelkind. Manche sagen, die wissen nicht, was sie sind. Sind nicht der Große. Sind nicht der Kleine. Sie sind die Mitte. Ich finde das gut. Und Ben findet es nunmehr auch ok. Er ist ja ein gestandener Mann. Ben ist sogar der Mann, den ich mir aussuchen würde – so als Begleitung, Beschützer und Ideengeber – wenn ich durch die Hölle gehen müsste. Ben und kein anderer.

Ben ist der Berserker. Ben ist der Ideenmensch. Er hat so viel Kraft, dass er manchmal nicht weiß, wohin damit. Es könnte ein (meist nur leichter) Wutanfall über all das Leid auf der Welt sein, ein Trommeln auf den Tisch oder – er tut etwas. Er muss in Bewegung sein. Er betet die Bewegung an. Ben ist ein Techniker, ein (Überlebens)Künstler, ein Handwerker, der einfach alles kann, steter Umzugshelfer für alle Freunde und Verwandten, ein Billardspieler. Das ganz besonders. Und manchmal auch ein Gitarrenspieler. Ben ist der großgewachsene Mann mit den vielen Träumen. Manche hat er sich erfüllt. Andere (noch) nicht. Ben ist der stets sprudelnde Ideenquell. Ben ist ein Multikulti-Mensch. Er kommt mit den schwierigsten Mitmenschen aus, weil er keine Angst hat, weil er in Kreuzberg aufgewachsen ist, weil er ein High-School-Jahr in Amerika hinter sich gebracht hat, weil er in Berlin-Neukölln zu Hause ist. Er arbeitet in einem festen Job, macht keinen Lohnsteuerjahresausgleich, weil das Geld, das er zurückbekommen würde, doch für Kindergärten und Straßen besser angelegt sei, regt sich nicht übermäßig auf, wenn in sein Auto eingebrochen wird und sein gesamtes Werkzeug geklaut wird. Er lebt in Berlin-Neukölln. Und das immer noch gern.

Im Frühjahr war er über Nacht auf einem großen Flughafen im asiatischen Raum im Wartemodus. Er schreibt mir, dass er – und seine Freunde – die ganze Nacht dort ausharren müssen. Ich schreibe: Passt auf Euch auf und lasst Euch nicht beklauen! Er schreibt zurück: Wenn, dann klauen wir! – So ist er. Ich liebe meinen Sohn Ben, so wie er ist, weich und hart, liebevoll und verrückt.

Ich habe einen alten Garten geerbt, der so verwildert war, dass ich ihn nicht in den Griff bekommen hätte, weil ich zu alt, nicht so von Bewegungsdrang besessen und leider auch viel zu chaotisch bin, um so etwas umzuwandeln in die Oase, die Ben mit Freundin Jasmin daraus im Frühjahr des vergangenen Jahres gezaubert haben. Mit viel Arbeit und Enthusiasmus. Auch das alte Haus wurde ausgemistet, aufgeräumt und wohnlich eingerichtet. Es war meine Freude des Jahres 2022. Und sie ist es immer noch. Im Garten sitzen und ins Grüne schauen, drückt meinen Blutdruck, der aus anderen Gründen des Öfteren steigt, in die Sphären eines jungen Mädchens. Und ich sitze und freue mich und kann ihm nicht genug danken.

Kurzum. Ich wohne nicht mehr in Berlin. Ben ist nicht oft da. Aber wenn es nötig ist. Er ruft mich jeden Silvester um 24 Uhr an und sagt jedes Jahr, dass ich die beste Mutter der Welt bin. Wenn ich mal so alt bin, dass ich gar nichts mehr kann… weiß ich, dass er da ist.

Heute Nacht gegen zwei Uhr hat mein Sohn Benjamin Geburtstag.

Foto: Peter und Elisabeth Gläser kurz vor Bens Geburt/ Leipig 1979.