Im Übrigen fährt sie Fahrrad, wie ein Profi. Und war meine Bärenführerin im „Westen“. – Meiner Freundin Petra zum Geburtstag.

Die Zeit rast. Die Zeit hat zurzeit viel Ungewisses, wütend Machendes, Angst Machendes und wenig Erfreuliches – trotz alledem: Wir leben noch. Wir lieben noch. Wir feiern noch. Zum Beispiel jedes Jahr zahllose Geburtstage. Besondere Geburtstage gibt es auch ab und an. Zum Beispiel wäre da eine meiner liebsten und besten Freundinnen: Petra.

Petra hätte ich eigentlich in Leipzig kennenlernen müssen. Hätte. Denn ich lernte sie in Berlin kennen. Im damaligen Westberlin, in das wir Ende der Achtziger gerieten. Peter, mein damaliger Mann, und unsere Kinder Robert, Ben und Moritz.

Wir REISTEN aus der ungeliebten DDR AUS – wie man das damals nannte – ins Ungewisse. In den Westen, der aber nur eine Stadt war, um die „ringherum nur Osten“ war. Das legendäre Westberlin. Wenn man mit drei Kindern und drei Koffern, ohne einen Pfennig Ost und auch keinen Pfennig West. ins Unbekannte reist, ist man angewiesen: Auf Behörden, Wegweiser, S-Bahn und vor allem – Freunde.

Der wichtigste Freund war damals Klaus Renft (bürgerlich Klaus Jentzsch). Er holte uns am Bahnhof Zoo ab und brachte uns fünf Gläsers erst einmal in seine Wohnung, die zu dieser Zeit beim legendären KaDeWe um die Ecke lag. Es war eine Zwei-Zimmer-Wohnung, die er mit seiner Freundin bewohnte. Wir lebten dort zunächst eine Woche. Dass unser aller Geduld schnell am Ende war, kann man sich denken. Wir mussten also so schnell wie möglich ins „Auffanglager Marienfelde“ in Berlin-Tempelhof. Und dann ging es – nach ein paar Tagen dort – ich habe das in einer anderen Geschichte hier auf dieser Seite beschrieben – in eine Pension und sehr viel später in eine eigene erste Wohnung in Berlin-Kreuzberg.

Klaus Renft hatte mir ziemlich schnell beigebracht, dass Strom im Westen Geld kostet, und zwar irgendwie mehr, als in der DDR. Er wollte beispielsweise nicht, dass ich Wäsche in seiner Waschmaschine wasche, weil das „Geld kostet“. Und machte jede Lampe hinter mir aus und auch den Fernsehkonsum bewachte er mit Argusaugen, während seine Freundin Kerzen vor dem Bild der Moon-Sekte, der sie angehörte, abbrennen ließ.

Dennoch: Ich werde es Klaus nie vergessen, dass er uns fünfköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern und einem „schwierigen“ beinahe Erwachsenen plus zwei richtig Erwachsenen, die auch nicht wussten, wie und wo es langgeht, die ersten Schritte erleichtert hat. Dass er viel Langmut bewies und dass er uns Petra vorstellte. „Ihr müsst doch Petra kennen!“. Die ist doch auch aus Leipzig. Peter kannte Petra, sie war ein Renft-Fan – damals in den wilden DDR-Zeiten. Ich kannte Petra nicht. Aber als Klaus uns Petra dann vorstellte, war es, als hätten wir uns schon immer gekannt. Allein ihre heimatlich klingende sonore Stimme, ihre vollkommen arglose Zugewandtheit und ihre Hilfsbereitschaft, uns auf allen ersten Wegen zu begleiten, werde ich in diesem Leben nie mehr gutmachen können und muss es auch nicht. Petra hat nie etwas verlangt, sie hat immer nur gegeben. Eine Eigenschaft, die ihr nicht nur nützlich war, denn sie lud zum Missbrauch ein. Was viele auch ausgenutzt haben. Ich hoffe, wir haben das nicht getan, obwohl wir ab sofort, solange wir in einer Pension wohnten, fast jedes Wochenende mit den drei Kindern bei Petra waren. Sie hatte auch nur eine zwei Zimmer-Wohnung. Und einen Sohn, der so alt war, wie unser Ben. Also damals noch nicht einmal zehn Jahre alt. Ben und Alex sind heute noch Freunde, so etwas verbindet fürs Leben.

Ja, wir haben viel erlebt in dieser Zeit. So viele Leute kennengelernt. Nicht so viele Fehler in der ersten Zeit gemacht, wie man hätte machen können, hätten wir keine Petra gehabt. Denn Fehler konnte man machen – ohne Ende. Überall lauerte der Anschiss und der Betrug, wenn man so dumm wie wir Ossis war, und erstmals mit den Fallstricken des Westens Bekanntschaft machte. Der gesamte Osten machte diese Erfahrungen in den frühen Neunzigern. Alle waren wir so Ossi-gutgläubig, so westverliebt, so gierig nach all den schönen Dingen, so abenteuerlustig, so jung und… ach, ich weiß nicht. Es war eine verrückte Zeit. Und wenn man eine Bärenführerin hat, wie Petra und später noch einige Andere, kann das helfen, die falschen Wegrichtungen zu vermeiden.

Petra wurde meine beste Freundin und später habe ich – hoffentlich – auch etwas zurückgeben können.

Ich erinnere mich, wie wir beide mit ansehen mussten, als die Mauer aufging und Berlin unter der Last der vielen Autos und Menschen und Menschenschlangen¸ nach der ersten Begeisterung, fast zerbrach. Wir geflohenen Ossis waren nicht so begeistert davon, dass all die, mit denen wir nie mehr etwas zu tun haben wollten, plötzlich wieder da waren. Petra hatte etwas ältere Berlinaufkleber, auf denen stand „Berlin tut gut“. Petra und ich haben uns gemeinsam hingesetzt und dieses U in tut durch ein A ersetzt. „Berlin TAT gut“ – so fanden wir den momentanen Zustand – und klebten die selbst erbastelten Aufkleber auf alle Autos und Bäume, die wir fanden, bis sie alle waren. Bis die Wiedervereinigungseuphorie sich erledigt hatte.

Später hatten wir – Peter, die Kinder und ich – eine Wohnung mit Garten in Kreuzberg. Da saßen wir jeden Tag – zumindest im Sommer – Grundköniginnen waren Petra und ich. Hinzu kamen viele Freunde, die wir u. a. durch Petra kennengelernt hatten, und auch Petra lernte Freunde durch uns kennen. Es war eine wunderbare Zeit, denn jetzt kamen auch viele der alten Freunde aus dem Osten zu Besuch. Der abendliche Gartenkreis wurde immer größer und auch der Alkohol floss in Strömen. Die Kinder hatten einen riesigen Spielplatz gleich in Sichtnähe. Alles war gut. Ja, Petra und ich waren die Lead-Ladies dieser Zeit in unserer Wohnung bzw. dem angeschlossenen Terrassengarten.

Auch Petra wechselte gern die Wohnungen, von Schöneberg nach Tiergarten, von Tiergarten nach Charlottenburg. Wir dann später von Kreuzberg nach Friedrichshain. Und gegenseitig halfen wir uns bei den schwierigen Umzügen. Denn damals hatten wir alle noch nicht so viel Geld, dass wir uns Umzugsunternehmen, Maler oder Putzkräfte leisten konnten. Einmal habe ich mich mit Petra aus einer Ihrer Wohnungen nachts um 24 Uhr herausgewischt. Und danach einen Döner gegessen, als wären wir kurz vor dem Verhungern. Aus der DDR kannten wir Wohnungsabnahmen in dieser Form, alles streichen, alles putzen, alles so herrichten, wie es beim Einzug war, nicht. Im Westen herrschten so viele neue Gesetze. Ja, die musste man lernen. Ohne Petra hätte ich glatt fünf oder zehn Jahre länger dafür gebraucht.

Petra hatte zwischenzeitlich ihren Lebensjob, den sie bis zur Rente ausübte, in einer künstlerischen Institution gefunden. Ich studierte noch einmal an der Hochschule, später Universität der Künste und Peter baute eine neue Band auf, mit der er in den alten Sälen der DDR herumreiste.

Wir sahen uns fast jeden Tag – Petra, Peter, ich und all die anderen – keiner dachte, dass diese Zeit einmal zu Ende gehen würde.
Aber sie ging zu Ende. Wie alles zu Ende geht. Unsere Freundschaft – Petras und meine – wird niemals zu Ende gehen. Auch wenn wir uns durch meinen Weggang aus Berlin im Jahr vielleicht dreimal sehen. Aber wir sind durch die sozialen Netze verbunden. Und wenn ich ihre warme Stimme höre und ihre Begeisterungsfähigkeit erlebe, wie in alten Zeiten, weiß ich, dass sie zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben gehört.

Im Übrigen fährt sie Fahrrad, wie ein Profi. Begibst Du Dich mit ihr auf Tour, wartet sie immer an der nächsten Ecke, gebeugt auf ihr Rad, bis Du schnaufend endlich ebenfalls dort bist.

Heute wird meine liebe Freundin Petra 70 Jahre alt.

Die wunderschöne Rede zum Tod meiner Mutter vor neun Jahren von meinem ältesten Sohn Robert Gläser

Sie sah immer super aus und trug nie flache Schuhe! Ich habe ihre Eitelkeit immer geliebt! Wenn ich in Magdeburg zu Besuch war, dachten immer alle ich wäre ihr Sohn. Ich schenkte ihr 1989 zu Weihnachten ein Opium Parfüm…sie hat sich nie wieder ein anderes gekauft und bedankte sich immer wieder für ihren Lieblingsduft, der es fortan war.

Meine liebe Oma, Frau Dr. Eleonora Pfeifer, ich habe dir immer mal wieder 20 Ost-Mark-Münzen aus deinem Schatzkästlein geklaut und habe das Geld sinnlos verfressen… Ich glaube, die hattest du über Jahre gesammelt, aber höchst wahrscheinlich, ohne an ihnen zu hängen. Es tut mir trotzdem leid und ich möchte mich dafür entschuldigen. Aber „Zetti Märchenbohnen“ waren verdammt teuer und ich getraute mich nicht, nach Geld zu fragen, was du mir mit hundertprozentiger Sicherheit gegeben hättest und auch getan hast. Enkel sind eben bescheiden. Auch deine GEHEIM-Sprache „Malifesohu“ bleibt immer in meiner Erinnerung. Alles was du gekocht hast, hat mir einfach nur geschmeckt! Dieser Duft von Schweinekotelett mit Rosenkohl und Kartoffeln. mhhhh ..Außerdem tut es mir leid, dass du mich 1982 mit mahagonirot gefärbten Punker-Haaren und zerrissenen Jeans vom Magdeburger Hauptbahnhof abholen musstest und dir das sehr peinlich war….ich kam mit hoch gekämmten Haaren zu dir und mit runter gekämmten fuhr ich wieder nach Hause. Eigentlich war ich total auf dem „No Future“-Trip und las dann Irma Thälmann „Erinnerungen an meinen Vater“. Ich empfand das aber immer als richtig! Ich kam als Rebell und ging als lieber Junge mit guten Vorsätzen. Deine liebevolle Erklärung, sich lieber ein wenig anzupassen, erschien mir sogar noch ein paar Tage, nachdem ich bei dir war, immer als Notwendigkeit.

Du hast mir viele schöne Kindheitserinnerungen beschert, beispielsweise deinen Vorschlag, meine erste Punk-Band „Flamingo“ zu nennen oder auch, mir immer akribisch meine Ohrring-Löcher zu reinigen und mir zu erklären, dass die Ohrlöcher wieder zuwachsen könnten. Dabei machtest du, als ich 14 Jahre alt war, die Feststellung, dass doch meine Nase ganz schön groß geworden sei, worauf ich mich das erste Mal in meinem Leben in deinem Badspiegel von der Seite spiegelte und diese Feststellung der angehenden Hakennase für mich für kurze Zeit ein Trauma war.

Ich genoss es auch als Kleinkind immer wieder, wenn du mich mit „Heitschi Bum Beitschi“ in den Schlaf gesungen hast. Das Outro dieses Liedes war besonders schön… Dieses bum bum auf meiner Nasenspitze war immer sehr zärtlich und könnte dennoch eine Erklärung für meine Charakternase sein. Meine unendliche Liebe zu DDR-Neubauwohnungen muss ich von dir haben, es war immer so gemütlich und wohlvertraut. Deinen dicken Wohnzimmerteppich hätte ich ohne Zweifel abgeleckt. Beim Mittagsschlaf in deinem Schlafzimmer das Musikantenhöllen-Triptychon von Bosch zu betrachten und mich in deiner immer frisch riechenden Bettwäsche einfach nur sauwohl und geborgen zu fühlen! Ich durfte immer noch Fernsehen schauen, wenn du und Roland schon im Bett waren und die Senderwahl blieb mir ganz allein überlassen. Das war zur damaligen Zeit schon revolutionär und durchaus weltfraulich, darüber hinweg zu sehen, dass ich mich hundertprozentig vom Klassenfeind unterhalten ließ. Außerdem war zu dieser Zeit Westfernsehen, und das in bunt, der absolute Wahnsinn! Dabei fällt mir lustigerweise immer wieder der Film „Gorky Park“ ein, den ich spät nachts sehen durfte. Dieser amerikanische Film mit William Hurt hatte ja doch irgendwo mit dem großen Bruder zu tun. Ganz abgesehen von American Werewolf. Heute habe ich dennoch ein gespaltenes Gefühl zu Amerika. Also keine Sorge! Auch Mischka der Olympiabär von 1980, den du mir aus Moskau mitbrachtest, war eine wichtige Figur meiner Kindheit und nahm mir die Angst vor dem 3. Weltkrieg. Spätestens als Udo Lindenberg den Krefelder Appell unterzeichnete und dies in der Jungen Welt stand, konntest du auch was mit Punk, Rockern und zerrissenen Jeans mit Peacezeichen-Flicken darauf gut finden, außerdem kam dir wahrscheinlich auch langsam die DDR-Staatsführung etwas eigenartig und starrsinnig vor.

Mit meinem schwarzen Cordanzug und einer große Summe Geld für meinen „Geracord“-Kassettenrecorder zur Jugendweihe hast du mich einfach nur glücklich gemacht! Du hast mir meinen „Actionbass“ finanziert, der für meinen Weg als Musiker sehr wichtig war, sinnloserweise mit mir immer wieder Russisch geübt und mir beigebracht, nicht immer oder besser gar nicht „Scheiße“ zu sagen. Es hat nichts genützt, ich kann kein Russisch und finde es verdammt Scheiße, dass du nicht mehr da bist!

Deinen Kampf für die „Diktatur des Proletariats“ habe ich nie so wirklich verstanden, viel mehr beeindruckte mich, dass du in Rio de Janeiro geboren wurdest. Du hast nie irgendetwas von mir verlangt, was ich immer als unglaublich angenehm empfand. Ich habe mich immer sehr gefreut, wenn wir traditionell jedes Jahr alle zusammen Weihnachten gefeiert haben und du und Roland nach Leipzig oder Berlin gekommen seid. Es war auch immer lustig, wenn du bei diesem Anlass meiner Mutter zu kleine Sachen mitbrachtest, die du nicht mehr angezogen hast, und sagtest: „Vielleicht wäre das ja was für dich.“ Wobei du wahrscheinlich gefühlt unter 50 kg gewogen hast. Du sahst eben immer großartig aus!

Ich bereue es zutiefst, dich in deiner Zeit im Heim so wenig besucht zu haben! Ich konnte es einfach nicht ertragen, dich so zu sehen. Es ist eben wirklich dumm zu glauben, es ginge immer einfach alles so weiter und wird irgendwann wieder gut! Ich hoffe du kannst mir das verzeihen, ich werde es wieder gut machen, spätestens dann, wenn wir uns wiedersehen! Wenn du dir ne Flasche Wein mit Rosa (Luxemburg) aufmachst, bestell doch bitte bis dahin, mal kämpferische Grüße! Ich habe dir noch einen zweiten Urenkel, sein Name ist Mio, geschenkt und war zu seiner Geburt am 21.12. 2013 ein Jahr älter als Opa Manfred zu meiner. Lustig, oder?

Du warst immer extrem lieb zu mir und warst der schönste Ausgleich in meiner aufregenden Kindheit! Danke, danke, danke…Ich liebe dich und werde dich nie vergessen! Wir alle werden dich nie vergessen! Dein Enkel Robert

Foto: Meine Mutter Ende der 60er Jahre bei einer Betriebsfeier der „Volksstimme“ Magdeburg, wo sie als Kultur-Redakteurin arbeitete.