Im Übrigen fährt sie Fahrrad, wie ein Profi. Und war meine Bärenführerin im „Westen“. – Meiner Freundin Petra zum Geburtstag.

Die Zeit rast. Die Zeit hat zurzeit viel Ungewisses, wütend Machendes, Angst Machendes und wenig Erfreuliches – trotz alledem: Wir leben noch. Wir lieben noch. Wir feiern noch. Zum Beispiel jedes Jahr zahllose Geburtstage. Besondere Geburtstage gibt es auch ab und an. Zum Beispiel wäre da eine meiner liebsten und besten Freundinnen: Petra.

Petra hätte ich eigentlich in Leipzig kennenlernen müssen. Hätte. Denn ich lernte sie in Berlin kennen. Im damaligen Westberlin, in das wir Ende der Achtziger gerieten. Peter, mein damaliger Mann, und unsere Kinder Robert, Ben und Moritz.

Wir REISTEN aus der ungeliebten DDR AUS – wie man das damals nannte – ins Ungewisse. In den Westen, der aber nur eine Stadt war, um die „ringherum nur Osten“ war. Das legendäre Westberlin. Wenn man mit drei Kindern und drei Koffern, ohne einen Pfennig Ost und auch keinen Pfennig West. ins Unbekannte reist, ist man angewiesen: Auf Behörden, Wegweiser, S-Bahn und vor allem – Freunde.

Der wichtigste Freund war damals Klaus Renft (bürgerlich Klaus Jentzsch). Er holte uns am Bahnhof Zoo ab und brachte uns fünf Gläsers erst einmal in seine Wohnung, die zu dieser Zeit beim legendären KaDeWe um die Ecke lag. Es war eine Zwei-Zimmer-Wohnung, die er mit seiner Freundin bewohnte. Wir lebten dort zunächst eine Woche. Dass unser aller Geduld schnell am Ende war, kann man sich denken. Wir mussten also so schnell wie möglich ins „Auffanglager Marienfelde“ in Berlin-Tempelhof. Und dann ging es – nach ein paar Tagen dort – ich habe das in einer anderen Geschichte hier auf dieser Seite beschrieben – in eine Pension und sehr viel später in eine eigene erste Wohnung in Berlin-Kreuzberg.

Klaus Renft hatte mir ziemlich schnell beigebracht, dass Strom im Westen Geld kostet, und zwar irgendwie mehr, als in der DDR. Er wollte beispielsweise nicht, dass ich Wäsche in seiner Waschmaschine wasche, weil das „Geld kostet“. Und machte jede Lampe hinter mir aus und auch den Fernsehkonsum bewachte er mit Argusaugen, während seine Freundin Kerzen vor dem Bild der Moon-Sekte, der sie angehörte, abbrennen ließ.

Dennoch: Ich werde es Klaus nie vergessen, dass er uns fünfköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern und einem „schwierigen“ beinahe Erwachsenen plus zwei richtig Erwachsenen, die auch nicht wussten, wie und wo es langgeht, die ersten Schritte erleichtert hat. Dass er viel Langmut bewies und dass er uns Petra vorstellte. „Ihr müsst doch Petra kennen!“. Die ist doch auch aus Leipzig. Peter kannte Petra, sie war ein Renft-Fan – damals in den wilden DDR-Zeiten. Ich kannte Petra nicht. Aber als Klaus uns Petra dann vorstellte, war es, als hätten wir uns schon immer gekannt. Allein ihre heimatlich klingende sonore Stimme, ihre vollkommen arglose Zugewandtheit und ihre Hilfsbereitschaft, uns auf allen ersten Wegen zu begleiten, werde ich in diesem Leben nie mehr gutmachen können und muss es auch nicht. Petra hat nie etwas verlangt, sie hat immer nur gegeben. Eine Eigenschaft, die ihr nicht nur nützlich war, denn sie lud zum Missbrauch ein. Was viele auch ausgenutzt haben. Ich hoffe, wir haben das nicht getan, obwohl wir ab sofort, solange wir in einer Pension wohnten, fast jedes Wochenende mit den drei Kindern bei Petra waren. Sie hatte auch nur eine zwei Zimmer-Wohnung. Und einen Sohn, der so alt war, wie unser Ben. Also damals noch nicht einmal zehn Jahre alt. Ben und Alex sind heute noch Freunde, so etwas verbindet fürs Leben.

Ja, wir haben viel erlebt in dieser Zeit. So viele Leute kennengelernt. Nicht so viele Fehler in der ersten Zeit gemacht, wie man hätte machen können, hätten wir keine Petra gehabt. Denn Fehler konnte man machen – ohne Ende. Überall lauerte der Anschiss und der Betrug, wenn man so dumm wie wir Ossis war, und erstmals mit den Fallstricken des Westens Bekanntschaft machte. Der gesamte Osten machte diese Erfahrungen in den frühen Neunzigern. Alle waren wir so Ossi-gutgläubig, so westverliebt, so gierig nach all den schönen Dingen, so abenteuerlustig, so jung und… ach, ich weiß nicht. Es war eine verrückte Zeit. Und wenn man eine Bärenführerin hat, wie Petra und später noch einige Andere, kann das helfen, die falschen Wegrichtungen zu vermeiden.

Petra wurde meine beste Freundin und später habe ich – hoffentlich – auch etwas zurückgeben können.

Ich erinnere mich, wie wir beide mit ansehen mussten, als die Mauer aufging und Berlin unter der Last der vielen Autos und Menschen und Menschenschlangen¸ nach der ersten Begeisterung, fast zerbrach. Wir geflohenen Ossis waren nicht so begeistert davon, dass all die, mit denen wir nie mehr etwas zu tun haben wollten, plötzlich wieder da waren. Petra hatte etwas ältere Berlinaufkleber, auf denen stand „Berlin tut gut“. Petra und ich haben uns gemeinsam hingesetzt und dieses U in tut durch ein A ersetzt. „Berlin TAT gut“ – so fanden wir den momentanen Zustand – und klebten die selbst erbastelten Aufkleber auf alle Autos und Bäume, die wir fanden, bis sie alle waren. Bis die Wiedervereinigungseuphorie sich erledigt hatte.

Später hatten wir – Peter, die Kinder und ich – eine Wohnung mit Garten in Kreuzberg. Da saßen wir jeden Tag – zumindest im Sommer – Grundköniginnen waren Petra und ich. Hinzu kamen viele Freunde, die wir u. a. durch Petra kennengelernt hatten, und auch Petra lernte Freunde durch uns kennen. Es war eine wunderbare Zeit, denn jetzt kamen auch viele der alten Freunde aus dem Osten zu Besuch. Der abendliche Gartenkreis wurde immer größer und auch der Alkohol floss in Strömen. Die Kinder hatten einen riesigen Spielplatz gleich in Sichtnähe. Alles war gut. Ja, Petra und ich waren die Lead-Ladies dieser Zeit in unserer Wohnung bzw. dem angeschlossenen Terrassengarten.

Auch Petra wechselte gern die Wohnungen, von Schöneberg nach Tiergarten, von Tiergarten nach Charlottenburg. Wir dann später von Kreuzberg nach Friedrichshain. Und gegenseitig halfen wir uns bei den schwierigen Umzügen. Denn damals hatten wir alle noch nicht so viel Geld, dass wir uns Umzugsunternehmen, Maler oder Putzkräfte leisten konnten. Einmal habe ich mich mit Petra aus einer Ihrer Wohnungen nachts um 24 Uhr herausgewischt. Und danach einen Döner gegessen, als wären wir kurz vor dem Verhungern. Aus der DDR kannten wir Wohnungsabnahmen in dieser Form, alles streichen, alles putzen, alles so herrichten, wie es beim Einzug war, nicht. Im Westen herrschten so viele neue Gesetze. Ja, die musste man lernen. Ohne Petra hätte ich glatt fünf oder zehn Jahre länger dafür gebraucht.

Petra hatte zwischenzeitlich ihren Lebensjob, den sie bis zur Rente ausübte, in einer künstlerischen Institution gefunden. Ich studierte noch einmal an der Hochschule, später Universität der Künste und Peter baute eine neue Band auf, mit der er in den alten Sälen der DDR herumreiste.

Wir sahen uns fast jeden Tag – Petra, Peter, ich und all die anderen – keiner dachte, dass diese Zeit einmal zu Ende gehen würde.
Aber sie ging zu Ende. Wie alles zu Ende geht. Unsere Freundschaft – Petras und meine – wird niemals zu Ende gehen. Auch wenn wir uns durch meinen Weggang aus Berlin im Jahr vielleicht dreimal sehen. Aber wir sind durch die sozialen Netze verbunden. Und wenn ich ihre warme Stimme höre und ihre Begeisterungsfähigkeit erlebe, wie in alten Zeiten, weiß ich, dass sie zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben gehört.

Im Übrigen fährt sie Fahrrad, wie ein Profi. Begibst Du Dich mit ihr auf Tour, wartet sie immer an der nächsten Ecke, gebeugt auf ihr Rad, bis Du schnaufend endlich ebenfalls dort bist.

Heute wird meine liebe Freundin Petra 70 Jahre alt.

Wir Kinder vom Bahnhof Ostkreuz – Mein Friedrichshainer Mädchen oder die Enkel der DDR

„Die sieht ja aus, wie meine Mutter!“, sagt der frischgebackene Vater zur frisch geborenen Tochter. Vater Robert, mein Sohn. Tochter Anna, meine Enkelin. „Die sieht ja aus wie eine von der Tschuktschen-Halbinsel!“ – kreischt Tante Illi im breiten Erzgebirgisch. Illi – mit dem Zug herbeigeeilt, um zu helfen.

Die Tschuktschen-Halbinsel liegt im fernen Ostsibirien der früheren Sowjetunion, heute Russland. In der DDR-Zeit gab es Romane, aus denen man erfahren konnte, wie die Tschuktschen, ein kleines Völkchen, leben, und wie man sowjetkommunistisch auf sie einwirkte, was nicht wirklich funktionierte. Die Tschuktschen wollten ihre alten schamanischen Riten behalten. Tante Illi wusste also, was die „Tschuktschen“ sind. Ich wusste es auch. Sonst niemand im Raum. Wie sie aussahen, konnte man jetzt besichtigen. Die Enkelin wirkte ein wenig japanisch. Knallschwarze Haare. Vorerst asiatischer Augenschnitt. Rundes Gesicht. Wie eine kleine Tschuktschin, fürwahr! Ich war sofort verliebt. Wir waren alle verliebt.

Die kleine Tschuktschin verwandelte sich innerhalb eines halben Jahres in eine Europäerin. Heute ist ihr 25. Geburtstag. Heute tanzt sie in der „Eisenstadt“ in Sachsen-Anhalt, genannt Ferropolis, auf einem Festival. Festivals – ihr Sommerhobby. Das Wetter ist wundervoll. Damals – an diesem Julitag vor 25 Jahren – war es das auch.

Ich arbeitete zu jener Zeit in einer Agentur in Hamburg als Texterin. Und wohnte mit einem Freund in einer WG. Als ich spät abends nach Hause kam, lag da ein Zettel auf dem Küchentisch. „Du bist heute Abend gegen 21.00 Uhr Oma geworden.“ Dazu ein typisches Oma-Piktogramm. Ältere Dame mit Nerle oder Dutt.

Ein Handy hatte ich damals noch nicht.

Ich war überwältigt. Meine erste Enkelin! Zur Welt gekommen in einem exotischen Geburtshaus in Berlin-Prenzlauer Berg bei Kerzenschein und Weihrauchgerüchen, das Saskia, Annas Mutter, sich ausgesucht hatte. Robert filmte die Geburt. Ein Dokument, das meine Mutter – nunmehr Urgroßmutter – zum Weinen brachte. Aufgenommen mit einer Videokamera, die es heute nicht mehr gibt. Gebannt auf eine Kassette, die es heute auch nicht mehr gibt.

Wir hatten alle noch kein Handy.

Mein geliebtes Friedrichshainer Mädchen war auf der Welt. Und ich habe mir und ihr versprochen, dass ich alles für sie tun werde, was in meiner Macht steht. Eines der wenigen Vorhaben meines Lebens, das ich tatsächlich in die Tat umgesetzt habe, ohne Wenn und Aber, mit all meiner Kraft, mit all meinem Vermögen, womit ich nicht nur Geld meine. Das aber auch. Ich hatte sogar Saskia versprochen, dass ich eine Nasen-OP bezahlen würde, falls Anna später so eine große Nase wie ihr Vater bekommen sollte. Das Geld musste ich nicht ausgeben, Saskias Nasen-Gene waren vermutlich stärker. Anna hat sich von beiden Eltern das Beste zu einer großartigen Mischung zusammengestellt.

Jetzt haben wir alle ein Handy.

Mein Friedrichshainer Mädchen wohnt noch immer und aus Überzeugung im Friedrichshain. Das Friedrichshainer Mädchen traf sich gestern mit seinen Freundinnen und Freunden am Bahnhof Ostkreuz, nicht um abzuhängen, nein, die haben gemeinsam einen Bus gemietet, der sie zum Festival nach Ferropolis bringt. Ausgestattet mit Feierlaune, Zelten, Powerbänken und großen Handys. Mit ihren Handys korrespondieren sie immerdar, den ganzen Tag und die halben Nächte, montags bis sonntags und das seit Jahren miteinander. Ein ständiges Handyrauschen um sie herum. Die (Ost)kinder vom Bahnhof Ostkreuz. Über dreißig Jahre nach der Wende und der Wiedervereinigung der Deutschen. Diese inzwischen erwachsenen Kinder waren zu jener Zeit noch nicht geboren. Und doch haben sie heute – im Jahr 2023 – ihre ganz persönliche Mauer errichtet, wie ich in Gesprächen erfuhr.

„Wir sind Ostkinder! Und wir sind stolz darauf!“ – „Was heißt das denn?“, frage ich, die ich mein halbes Leben im damals ungeliebten Osten und die weitere Hälfte eher im Westen verbracht habe. „Wir Ostkinder sind anders! Wir sind weltoffener und legen nicht so viel Wert auf Kohle, mehr auf Herzlichkeit! Wir sind auf sozialer Ebene stärker. Und wir berlinern mehr!“ Sie sagen von sich, dass sie „atziger“ sind, als die Wessis. Da musste ich erst einmal googeln. In der Jugendsprache bedeutet „atzig“ so etwas wie cool. Sie sind also cooler. Vermutlich ist das so, schon allein deshalb, weil sie nicht so viele Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten haben und darüber lachen können. Und auch nicht unter Helikopter-Eltern leiden mussten. Immerhin haben sie sich das Wort „weltoffen“ in ihre Welt herübergeholt, ohne daran zu denken, dass das Land ihrer Eltern und Großeltern alles andere, als weltoffen war. Zumindest nicht für die eigenen Bürger. – Woran das denn alles liegen würde, frage ich sie. Es läge an deren Eltern. Also an den Wessi-Eltern. Die sind anders: „Wir haben andere Eltern!“

Während wir damals unbedingt so sein wollten, wie die „Wessis“, so leben wollten wie sie, so reden können wollten, setzen diese stolzen Ostkinder ganz andere Prioritäten. „Wir Ostkinder chillen generell nie mit Wessis“, sagen sie ganz überzeugt.

„Ostkinder“ fahren nur in den Westen, also nach Westberlin, wenn es unbedingt sein muss, meinen sie, weil sie sich dort nicht wohl fühlen würden. Das wäre ihnen ganz fremd. In ihrem eingeschworenen Freundeskreis gibt es keinen einzigen Wessi. „Berlin ist groß! Jeder in seinem Gebiet!“

Ok. Ich nehme das zur Kenntnis. Auch ich bin – nach über dreißig Jahren – zu meinen Ost-Wurzeln zurückgekehrt. Und ich fühle mich seltsam zu Hause. Ich kann das also verstehen, hätte nur nicht gedacht, dass sich die alte Spaltung mit dieser noch sehr jungen Generation neu etabliert hat.

Anna ist mittlerweile Studentin an der Humboldt-Universität, in – natürlich – Ostberlin. Sie will Lehrerin werden. Vordem war sie in Berlin-West an der Hochschule für Wirtschaft und Recht. Es war Corona-Zeit. Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Sie fühlte sich dort unwohl und fremd. Und so vollzog sie einen Hochschul- und Studienfachwechsel. Jetzt ist sie glücklich und redet schon mit mir, als wäre ich ihre Schülerin.

Ich wohne fünf Jahre nicht mehr in Berlin. Anna und ich telefonieren fast täglich. Wir sind auf WhatsApp ganz dicke und ich helfe ihr weiterhin in (fast) allen Belangen ihres Lebens.

Manchmal macht es mich traurig, dass mein kleines Mädchen, meine Tschuktschin, die gern auf meinem Schoß saß, mit der ich fast jedes Wochenende etwas unternahm, jetzt auch und tatsächlich erwachsen ist. Ich sehe sie schon mit dem Zeigestock vor der Klasse stehen. Falls es dann noch Zeigestöcke gibt.

Was bleibt? Sie gibt mir immer noch gute Ratschläge, wenn es um Cremes und Make-up geht. Und wenn sie anruft, habe ich meist eine Schrecksekunde Angst, dass etwas passiert ist, dass sie weint und ich sie trösten muss.

Irgendwann wird auch das vorbei sein. Irgendwann ist sie vielleicht auch eine Großmutter. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich am heutigen Tag glücklich und traurig zugleich bin.

Irgendwann fällt uns allen ein Handy oder so etwas Ähnliches aus der Hand.

Foto: Anna und ich einen Tag nach ihrer Geburt.

Einmal Westen ohne Wiederkehr. Teil Zwei. Familie Gläser wird integriert.

Wie ging es weiter? Mit der „Integration“ von Familie Gläser in die Bundesrepublik Deutschland bzw. in das alliierte Westberlin? Das war so:

Klaus Renft fuhr uns nach Marienfelde, in die damalige Aufnahmestelle für Übersiedler in Berlin-Tempelhof. Dort waren fast nur Ostdeutsche und sehr sehr viele Polen. Polen, die ihr „Deutsch-Sein“ nachweisen konnten. Als wir ankamen, Peter und ich, zwei kleine Kinder, Ben und Moritz, und ein jugendlicher Robert, hielt man uns vermutlich an der Pforte für Polen. Wir müssen etwas bunter gewirkt haben. Die Wächter am Eingang des „Auffanglagers“ sprachen uns in gebrochenem Deutsch an. „Sie verstehen deutsche Sprache?“ – „Ja, wir verstehen. – „Gut. Haben Ausweis?“ – „Nicht mehr. Wir sind aus Leipzig!“ – „Ach so, wir dachten aus Polen!“ – Ok, das verstand ich erst einmal nicht. Doch sollte ich es später verstehen, dann, als wir „eingegliedert“ wurden. In ein Studentenheimartiges Zimmer – zu fünft mit Doppelstockbetten – um uns herum wurde polnisch gesprochen. „Miiichai!“ – ertönte es aus dem Nebenzimmer. Robert – schon damals unser Parodist – hatte das ganz schnell drauf: „Miiichai“ – mit einem ch wie in ach. Er rief es ständig inbrünstig überall herum, so dass ich ihn schon mäßigen musste. Michail wurde oft gerufen. Und überhaupt – diese Polen. Überall waren sie. Überall waren sie die Ersten. Und erstmalig bekam ich ein Gefühl dafür, eine Deutsche zu sein.

Wir hatten es ja in der DDR nicht so mit dem Deutschsein, auch wenn das heute viele denken. Das Wort Deutschland wurde gemieden wie die Pest. Wir hatten es zwar im DDR-Namen und auch im SED-Namen, aber ansonsten kam es nicht vor. Nur als Sigmund Jähn ins Weltall geschossen wurde, las ich erstmalig wieder in den DDR-Zeitungen: „Der erste Deutsche im All“. Aha, sind wir also doch Deutsche. Wir lachten damals darüber. Ansonsten machten wir uns darüber nicht soo viel Gedanken. Wir waren DDR-Bürger, wenn auch nicht gern. Plötzlich sollten wir also anerkannt „Deutsche“ werden. Dafür mussten wir diverse Stationen durchlaufen – in diesem „Lager“. Ich zähle sie auf, den „Laufzettel“ hab ich heute noch:

Ärztlicher Dienst

Sichtungsstelle

Weisungsstelle

Bundesaufnahmestelle Berlin (Annahme des Antrages, Vorprüfung, Ausgabe des Aufnahmescheins)

Landeseinwohneramt Berlin – Meldestelle

Bundesanstalt für Arbeit

Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin

Zentrale Beratungsstelle für Aussiedler und Zuwanderer

Sonderbetreuung und Beratung für ehemalische politische Häftlinge

BVG-Freifahrtausweise

Taschengeld

Bekleidungsbeihilfe

Friedlandhilfe

Alliierte: Franzosen. Briten. Amerikaner.

Bundesverfassungsschutz

Diverse Beratungsangebote der Kirchen, Arbeiterwohlfahrt, Landesausgleichsamt Berlin etc.

Ohne einen Stempel von all diesen Stationen konnte man die Aufnahmestelle nicht verlassen. Es war ein „Run“ auf diese Institutionen, bei dem die Polen irgendwie schneller waren. Einer der Gründe für beginnende Feindseligkeiten der Ostdeutschen gegenüber den Polendeutschen, die allerdings kein Deutsch sprachen und das einfach ignorierten. Die meisten Beamten machten gegen Mittag Schluss. Dann musste man auf den nächsten Tag warten und die Nachmittage irgendwie rumbringen. Ich entschloss mich, jeden Tag um halb vier aufzustehen, nahm mir ein Buch und stellte mich gegen 4.00 Uhr an. Ich war nicht allein, aber es klappte, so dass wir nach ca. zehn Tagen „raus“ waren.

Zwei lustige Erlebnisse: Bei den Amerikanern hatten wir es mit einer älteren Dame mit polnischem Namen und breiten amerikanischem Akzent zu tun. Sie fragte meine Musikermann Peter, neben seltsamen Fragen über die Truppenstärken an der Grenze während seines damals bereits zwanzig Jahre zurückliegenden „Dienstes“ bei der Nationalen Volksarmee der DDR, folgendes: „Und Sie sind also Musiker! Spielen Sie Reggae?“ Peter verstand sie nicht. Und guckte dumm. Sie fragte etwas lauter: „Und, spielen Sie Reggae??!! (Ich flüsterte ihm zu: Ob Du Reggae spielst, sag einfach ja! Du hast doch da so einen „Katzenjammerreggae“!) – Peter aber sagte: „Nein, ich spiele keinen Reggae.“ – Die strenge Amerikanerin antwortete zufrieden: „Very good, Reggae kann ich nämlich nicht leiden!“ Sprach‘s und entließ uns wieder nach draußen.

Die zweite amüsante Begebenheit trug sich bei der Übergabe unseres sogenannten Aufnahmescheines der Bundesaufnahmestelle Berlin zu. Die Beamtin erklärte uns, dass wir diesen Schein nicht verlieren dürfen. Es sei wie eine neue Geburtsurkunde – für die ganze Familie. – Kleiner Einschub: Ich kann mich nicht erinnern, den jemals wieder gebraucht zu haben. – Aufgezählt im ominösen Aufnahmeschein waren also: Gläser, Peter, geboren in Leipzig. Gläser, Elisabeth, geboren in Leipzig, Leipzig, Robert, geboren in Leipzig, Gläser, Benjamin, geboren in Leipzig und Gläser, Moritz, geboren in Leipzig. Sie schaute noch einmal irritiert auf die Urkunde und fragte plötzlich: „Haben Sie ein Kind, das mit Nachnamen Leipzig heißt? Da steht „Leipzig, Robert“, geboren in Leipzig?“ – „Das haben Sie geschrieben, sagte ich, „war wohl bisschen viel Leipzig auf einmal…“. Wir lachten und sie änderte die Urkunde. So wurde aus „Robert Leipzig“ wieder ein „Robert Gläser“. Und wir konnten das Aufnahmelager verlassen. Ausgestattet mit etwas Geld und einer Art Zuweisung für eine Pension in Berlin-Charlottenburg. (Das ist aber eine neue Geschichte).

P.S. Ich hab noch etwas vergessen. Robert hatte, ehe wir nach Westberlin ausreisten, nagelneue Schuhe im „Exquisit“ gekauft, also in einem der DDR-Läden, in denen alles fünfmal teurer, als in normalen Läden war. Diese Schuhe – sein ganzer Stolz damals – hatte er in dem engen Doppelstockbett-Zimmer in Marienfelde in eine Plastiktüte gesteckt und an die Tür gestellt. Die Tüte hab ich aus Versehen mit den anderen Abfalltüten in den Müll gegeben. Robert rannte dem davonfahrenden Stadtreinigungsauto noch rufend und gestikulierend hinterher. Vergebens. Und er war versucht zu glauben, so wunderschöne Schuhe niemals mehr im weiteren Leben zu besitzen. – Den versehentlichen Wegwurf hat er mir mindestens ein Jahr nicht verziehen.