Meine unmöglichen Geschenke.

Wenn die österreichische Freundin einen runden Geburtstag hat, muss es was Besonderes sein. Meine Fleurop-Rosen über die Grenze waren der Reinfall nach dem Reinfall. Denn neben Rosen sollte es noch etwas Besonderes sein. Ich wollte nach den Sternen greifen. Meine Freundin ist auch – Astrologin. Was Astrologisches! Amulett. Buch. Horoskop. Ich exerzierte im Kopf alle Sternbilder durch: Ich kann ihr keinen Widder schenken. Keinen Stier und keinen Zwilling. Einen Krebs würde sie nicht wollen, ein Löwe hielte sich schlecht im bürgerlichen Haus. Ein Schütze? Mhm, klingt nach Schützenfest. Wein, Weib, Gesang. Wir haben Corona! Außerdem ist die Zeit der Schützen im reiferen Alter vorbei, die nimmt man ja nur an die Hand, wenn es brennen soll. Ein Aquarius! Der wäre zu hippieesk, eher was für mich. Mir fiel ein, dass die Freundin einst zu mir sagte: „Wie kann man nur sein Ladengeschäft „Scorpio“ nennen! Wir schlenderten bei einem ihrer Besuche in Berlin durch meine Straße, die als die Second-Hand-Straße in Charlottenburg gilt. Wie kann man nur! Wie kann man nur – einen Skorpion schenken? Dachte ich und kaufte einen Skorpion. Tot natürlich. Aufgespießt. Hinter dickem Glas. Goldumrahmt. Leider kam er nicht. Versteckte sich. Grub sich ein. Im Dickicht von DHL. Und ich harrte der Dinge, die kommen oder eben nicht. Er brauchte ja nichts zu essen. Er war tot. Selbst lebende Skorpione halten das aus. Manchmal ein ganzes Jahr. Angepasst. Ist auch so ein Aufgespießter, egal, ob der Postbote das Paket mit dem Scorpio-Bösen im Postwagen herumwirft. Mein Geschenk-Skorpion kam nicht und schlich mir als das Arge ins Hirn. Wie Macbeth fasste ich mir wartend an die Stirn und stöhnte: „O, full von diesen Dingern is my mind, dear husband!“- Und dem Mann in meinem Haus gruselte es gar sehr. „Menschliche Urangst“, raunte ich, so ein Stechdingens – „im Rahmen immerhin. Nicht im Kopf ist der, der ist gebannt. Aufgespießt und tot wie nur irgendwas.“ – „Könnte er wieder lebendig werden, fragte bang der Hausmensch.“ – „Klar!“ – lachte ich – „der könnte geradewegs aus Plutos Schatten-Hades herbeieilen, sich aufrichten und…“ – Nein, rufe ich! Er kann das nicht mehr und Zähne zeigen auch nicht. Wenn, dann zeigte er etwas – anderes. Wie einst Johnny Depp der Avon-Beraterin seine scharfen Hände zeigen musste, die er nicht verstand. Hände können Waffen sein. Ja, ok, lebte er auf, hätte er scharfe Hände, und auch seinen – nun ja, nennen wir ihn – Macbeth-Dolch! Hoch aufgerichtet, haha! Und lebte er, dann stäche er – zu. Er kann halt nicht anders. Es ist seine Natur! – Nun – unser Rahmenskorpion kam eines Tages, weit nach dem Geburtstag meiner astrologischen Freundin, hier in Magdeburg an. Ich packte ihn aus. Mir gruselte. Er sah aus, als wäre er gekommen, um sich zu rächen. Rechts unten, unter der Scheibe natürlich, war ein kleines Kästchen, als brauchte er noch Nahrung, der Skorpion. Dem Hausmenschen gruselte noch mehr. Und dann – rümpfte er die Nase. Der einstmals Wehrhafte stank in seiner Spießigkeit. Damit meine ich den Skorpion. Ich weiß nicht, was das für ein Geruch war. Verwesung? Nein, so ein stolzer Skorpion am Spieß kann nicht verwesen! Unter Glas! Meinen Hausmenschen packte die Angst. Sein Geruchssinn verfeinerte sich in Parfümeur-Höhen. Vielleicht ist das Ding irgendwie – nachtaktiv? Vielleicht befreit er sich aus seinem Gefängnis! – „Es ist hartes Glas mit Goldrand“ – meinte ich. „Der kann sich nicht befreien. Wir müssen ihn irgendwie „ausriechen““. – Sein seltsamer Odem breitete sich auf unseren 90 Quadratmetern bis in den kleinsten Winkel aus. Der Hausmensch traute sich nicht mehr, der Postfrau zu öffnen, die ihn seit wir hier wohnen, zum Weiter-Verteil-Postillon des Hauses ernannt hat. Nachtaktiv. Das ist einer, der sich häutet, die Schachtel durchbricht und über den Küchenboden tappt. Zuckend und verführerisch, falls wir seine Weibchen wären. Aber das sind wir nicht. Also was tun? So einen können wir doch nicht über die Grenze nach Österreich schicken und auch nicht – bringen! Vielleicht müssten wir das ominöse Paket unterwegs noch öffnen, weil dieser Geruch auch andere verstört, als trügen wir eine Leiche mit uns herum. Was ja nicht ganz unrichtig wäre. Nur unerschrockene Novemberkinder böten so einem Skorpion die Stirn! Sind wir leider nicht. Nachdem uns das „Ding“ beiden gleichzeitig nachts im Traum erschien, entschlossen wir uns zum Mord. Zum Mord an einer Leiche. Zum vorläufigen Begräbnis. Und beförderten den Unliebsamen in die Mülltonne. Wie kann man sein Ladengeschäft „Scorpio“ nennen! Wie kann man der Freundin einen Scorpio schenken – wollen! Man kann nicht. Jedenfalls ich nicht! So welkten die Fleurop-Rosen in barocker Art. So starben sie zweimal – meine unmöglichen Geschenke. Die Blumen und mein – Scorpio mit den Scherenhänden.

Es wagte jemand, ohne Maulkorb einkaufen zu gehen.

Heute in der Kaufhalle. Hier in Magdeburg sagt man immer noch Kaufhalle, wie in der DDR. Es wagte jemand, ohne Maulkorb einkaufen zu gehen. Es regte sich natürlich auch jemand auf. Und dann setzten ein paar andere, die auch Maulkörbe trugen, zur Verteidigung des revolutionären Freigesichtes ein – mit Worten, die ich hier nicht wiederholen kann. Dieser Freigeist hier in der Stadt gefällt mir sehr gut. Nicht aggressiv, aber sehr bestimmt. Ich selbst war nur mit Tuch im Gesicht mal schnell hineingehuscht, wegen einer Flasche Wasser, als ich dieser Szene beiwohnen durfte. Dann fiel mir ein, dass ich auch schon ganz schön Corona bin:
Ich bin so – Corona. Erstens werde ich jeden Tag dicker. Zweitens habe ich absurde Geschäftsideen. Drittens geh ich fast nicht mehr einkaufen, weil ich Maulkörbe schon immer verabscheut habe. Viertens höre ich sentimentale oder aber aggressive Musik. Fünftens denke ich an „mein Schaukelpferd zurück“ – war ein Karat-Zitat, wer es nicht weiß, ist eine Band aus der DDR, die es heute noch gibt – vielleicht ist das wacklige Schaukelpferd Symbol für ein verlässliches Auf- und Ab aus alten Tagen, das wir im Moment vermissen. Sechstens frage ich seit Tagen alle, die ich kenne, ob jemand jemanden kennt, oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der coronisiert ist. Coroni sollen die Obolusse (so verlangt es der Duden, ich hätte sie ja gern Oboli passend zu Coroni genannt) der Superreichen heißen, die bluten sollen für, ja wofür eigentlich… ich las das auf Twitter bei einer stark bewegten Linken. Linke sind immer wieder für ihre neuen alten Ideen gut. – Nun ja, last not least die glorreiche Sieben: Ich lese zum dritten Mal „Die Pest“ von Albert Camus. Dieses Mal unter vollkommen anderem Blickwinkel. Coronisiert gewissermaßen. Und selbstverständlich ganz und gar existentialistisch.

Otto Mellies – in diesem Moment war er ein ganz normaler Mensch

Otto Mellies. Er war in meiner Kinderzeit DER Fernseh- und auch Filmschauspieler in der DDR. Auch ein begnadeter Theater-Tragöde. Besonders durch „Dr. Schlüter“, ein Fernsehfilm in mehreren Teilen. Wie er in seiner Biografie schreibt, wurde er von Taxifahrern mit „Bitte, Herr Doktor“ ins Taxi gebeten. Der Brinkmann-Effekt. Nur, dass Dr. Schlüter natürlich viel politischer war. Und so war Mellies auch das, was ich einen Staatsschauspieler nennen würde. Aber dennoch ein sehr guter Schauspieler. Ich habe – wie schon gesagt – seine Biografie gelesen, die ich sehr interessant fand. Sie weckte viele Kindheitserinnerungen. Andererseits blieb er auch ein bisschen im Nebulösen. Er gab nicht alles von sich preis, was ich ihm nicht übel nehme, es ist nicht jedermanns Sache, die großen Gefühle in die Welt zu schleudern, wenn sie nicht gespielt sind. Vor ein paar Jahren stand er vor meinem Studio im Rundfunkhaus in Berlin, da, wo ich meist arbeite. Er sollte etwas einsprechen. Und ich hatte so einen kleinen Stich in der Brust, weil er sich mir vorstellte, obwohl ich genau wusste, wer er ist. Das hat mich gerührt und auch ein wenig aufgewühlt. Weil er in diesem Moment ein ganz normaler Mensch war. Und ich hatte ihn sehr sehr gern und er hat mir ein Stück Kindheit und Jugend wieder gegeben. Er war im Alter meiner Eltern. Nun ist er von uns gegangen. Und ich bin traurig.

Die nach Schweiß riechende Frau Kornedt. Puh, wenn ich von der Schule nach Hause kam, roch die ganze Wohnung nach ihr.

Ach, DDR. Ist ja neuerdings so ein Sehnsuchtsort.  Die Sozialisten, die Vergemeinschafter, scheinen auf dem Vormarsch zu sein. Doch waren wir so vorbildlich sozialistisch, wie es die Erzählung gern hätte? Wir – das waren die supersozialistischen Eltern, mit denen ich gestraft war. Wir, das waren die, die denen vorangingen, die sich heute immer noch – gemästet vom gern und glühend geschmähten Kapitalismus – darin gefallen, ihren Ast, auf dem sie es sich mittlerweile so gemütlich gemacht haben, abzusägen. Denn die Sozialisten/Kommunisten haben wohl kapiert, dass sie sich’s in ihm, dem Kapitalismus, gemütlich machen können. Seine Vorteile ausnutzen und gleichzeitig dieses Wirtschaftsmodell für die eigenen Fehler verantwortlich machen. Was kann es Schöneres geben! – Da fällt mir Frau Lösche ein, unsere super Haushaltshilfe, die alles konnte und alles richtete, die sogar Weihnachtsschmuck in der Wohnung anbrachte, ohne darum gebeten zu werden. Wir hatten immerhin in Lauchhammer – dieser proletarischen Braunkohle-Klein- und Industriestadt – eine Haushaltshilfe, damit die Mutter sich selbstverwirklichen konnte. So toll und omnipotent, wie sie sich gern darstellte, war sie dann auch nicht. Ich blende das immer aus, dass wir ständig Haushaltshilfen hatten. Die nach Schweiß riechende Frau Kornedt. Puh, wenn ich von der Schule nach Hause kam, roch die ganze Wohnung nach ihr. Da wüsste ich gern, wie die Eltern solche Leute kennengelernt haben. Sicher war das über irgendwelche Beziehungen. Und niemanden kann man mehr fragen. Schade, dass Tante E. auch langsam durchdreht und man ihr nicht glauben kann. Was man auch bei dieser Suche nach der richtigen Zeitung von den Weltfestspielen Anfang der Fünfziger sieht. Sie bildet sich ein, auf dem Titelblatt gewesen zu sein. Aber wenn man nachforscht, was ich ja getan habe, gibt es dieses Titelbild nicht. So kann man sich seine Vergangenheit zurechtlügen und glaubt am Ende selbst dran. Ich bin da sicher auch nicht frei davon. Und wer weiß, was von dem stimmt, was unsere Mutter so erzählt hat. Wenn ich angestrengt nachdenke, fällt mir nicht viel ein. Dass sie mal mit verpasstem Start Kreismeisterin im Schwimmen vom Kreis Aue war. Aue, eine Stadt in Sachsen, eine der Stationen auf dem langen Weg zur Oma. Von Lauchhammer nach Johanngeorgenstadt, meine beschwerliche Reise, als ich 8 bis 12 war. Bin ich da allein gefahren? Leider weiß ich es nicht mehr und kann keinen mehr fragen. Alle sind tot, die es wissen könnten. Alle sind tot. Auch meine Kinder und Enkel irgendwann. So ist das Leben, es ist eine grausame Angelegenheit oder der Tod ist gar nicht schlimm. Vielleicht ist er doch eine Offenbarung. Oder das Licht geht aus. Und alles ist vorbei. Man spürt nichts mehr, man merkt nichts mehr. Alles umsonst gewesen, all die Aufregung, all die Liebe, all das Sorgen, alles umsonst. 

Könnten Sie uns mit zwanzig Mark aushelfen?

Geld borgen. Das haben wir ja alle schon irgendwie mal gemacht. Und wenn es in jungen Jahren war, als wir noch nicht wussten, was das bedeutet. Meine Familie war für DDR-Verhältnisse wahrscheinlich – zumindest für die anderen – reich. Mein Vater war Professor, meine Mutter Journalistin bei der einzigen großen Zeitung unseres „Bezirkes“, wie die kleinen „Bundesländer“ in der DDR hießen. Eine Parallelstraße weiter wohnte eine der Familien, die mit dem Haushaltsgeld nicht klar kam. Es war nicht viel, das, was man als normale Arbeiterfamilie verdiente. Zumal, wenn man vier, fünf Kinder hatte, was in der DDR meiner Zeit nicht unnormal war. Zwanzig Mark Kindergeld. Das war es, was es an Unterstützung neben subventionierten Grundnahrungsmitteln und unvorstellbar niedrigen Mieten gab. Aber es reichte nicht. So gab es eine Familie, wie sie uns ausfindig gemacht hatten, weiß ich nicht, die jeden Monat die unglückliche Tochter zu uns schickten, um zwanzig Mark zu borgen. Sie stand regelmäßig vor unserer Tür und sagte immer den gleichen Satz: „Könnten Sie uns mit zwanzig Mark „aushelfen“?“ Natürlich konnten wir das. Und wir taten es. Und regelmäßig brachte das Mädchen die zwanzig Mark monatlich zurück. Mein Vater legte diese zwanzig Mark dann schon an der Eingangstür ab. Damit sie immer griffbereit waren. Ich sagte dann eines Tages: „Lieber Papa, wollen wir ihnen diese zwanzig Mark nicht einfach schenken? Dann muss dieses Mädchen sich nicht Monat für Monat vor uns erniedrigen.“ –  Er meinte: Ja, das könnten wir machen. Aber es würde bedeuten, dass sie die nächsten zwanzig Mark borgen will, glaub mir. Es ginge immer so weiter. – Also tauschten wir den Zwanzigmarkschein Monat für Monat. Sie kam, bettelte, wir gaben und empfingen. Ein Ende hatte das Ganze, als wir weggezogen sind. Komisch, dass ich diese Geschichte nie vergessen habe. Obwohl es sich Ende der Sechziger Jahre abspielte…