Irmgard Düren schlägt die Beine übereinander und ich probiere das auch!

Wenn ich mir reihenweise Netflix-Serien reinziehe, plagt mich mein Gewissen. Du darfst nicht immer sitzen, sagt auf YouTube der ewige Roland Liebscher-Bracht. Du darfst nicht sitzen! Die Muskeln rosten und dann musst Du schmerzhaft Faszien dehnen und dehnen und dehnen. Also sitze ich auf dem Cocktail-Stuhl von Rolf Benz und mach Kniebeugen irgendwie. Rechtes Knie über den Oberschenkel des linken Beines, was nicht geht oder nur kurz. Macht nix, dann linkes Bein über rechten Oberschenkel und rechts und links und rechts und links. Nur einmal kurz tippen, so im Sitzen. Das sah ich auf einer App für Omas, die machen Stuhlyoga als niedlicher Zeichentrick. Legen ein Bein aufs andere und schauen mich triumphierend an. Das soll in drei Monaten zehn Kilo schlanker machen!

Dann mal ich mir aus, ob es mich glücklich machen würde und denke an glückliche Kindertage, in denen ich die legendäre Irmgard Düren im DDR-Fernsehen sah. Irmgard Düren moderierte die wunderbare Samstagnachmittag-Sendung „Rendezvous am Wochenend“ im Wechsel mit Professor Wolfgang Ulrich, dem Zoodirektor aus Dresden, der damals fast berühmter als der Berliner Tierparkdirektor Professor Heinrich Dathe war. Beide – Irmgard und Wolfgang – hätten ein ungemein passendes Paar sein können. Waren sie aber nicht. Dabei waren sie sich so ähnlich: Beide dünn, beide lange schlanke Beine, die sie – in der Manier des beginnenden Fernsehzeitalters – vornehm übereinander schlugen. Bei Irmgard Düren sah das umwerfend aus, weil das eine Bein gerade von vorn zu sehen war und das darüber geschlagene kerzengerade daneben stand. Schuhspitzen nach vorn. Zwei Beine, die sich zurückhaltend selbständig gemacht hatten und über Stunden ihre Frau standen. Nebeneinander. In der nächsten Woche war Professor Wolfgang Ulrich aus Dresden dran und er tat es genauso. Nur eben mit Hosen.

Ich als so ca. Elfjährige dachte mir, dass man im Fernsehen so sitzt und dazu Vergnügliches aus Natur und Gesellschaft – und im Falle von Professor Ulrich auch dem Zoo berichtet. Und nun – wenn ich wilde Serien bei Netflix schaue, im Moment ist es „Better than Us“, englischer Titel, aber russische Serie, in der Menschen mit Bots zusammenleben, die in der hochentwickeltsten Form einen eigenen Willen haben, und von rebellischen Jugendlichen, die sich „Liquidatoren“ nennen, bekämpft werden – mach ich Oma-Yoga und träume von zwei langen Beinen, die ich vor mir aufstellen kann, als wären es Zwillinge, Zwillinge, die mitschauen, wie Bots und die Menschen um ihre Daseinsberechtigung kämpfen. Vom Bot träumen, von langen Beinen träumen. Und die Träume wahr machen.

Weiter im Text, der heute nostalgisch ist. Denn ich denke oft an die Zeiten des bescheidenen Fernsehprogramms der kleinen DDR. Denke an die wunderschönen Fernseh-Ansagerinnen, denen ich keine Ausscheidungsfunktionen zuordnen mochte und meinen Vater fragte, ob die auch mal… ja, die müssen das auch. Das kann nicht sein! So schön, so engelsgleich wie die sind! Zum Beispiel Doris Weikow, die kam erst später, aber sie war lange Zeit die Allerschönste, weil sie gleichzeitig eine Schauspielerin war und das DDR-Schneewittchen gespielt hatte. In diesem Farbfilm betete ich Doris Weikow an! Sie war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und hatte ebenholzschwarze Haare. Die sie in Wirklichkeit nicht hatte, aber das erfuhr ich erst später, als sie dann eben das abendliche Fernsehprogramm ansagte. Wenn ich den Film „Schneewittchen“ heute ansehe, und fürwahr, das tue ich tatsächlich ab und an, und wenn es mit Anna, meiner 25jährigen Enkelin ist, verbandele ich mich innerlich eher mit der bösen Königin, die ich damals in meinen zarten Kinderzeiten alt und hässlich fand. Heute wunderschön. Viel schöner als das biedere Schneewittchen.

Überhaupt DDR-Märchenfilme. Ich habe mich immer vor diesen Scherenschnittfilmen gefürchtet, die heute als Kunst gelten. Es gibt sie nicht mehr. Wahrscheinlich wirklich nur als Kunst. Aber wer will schon Kunst-Märchen-Filme ansehen. Vor dem Scherenschnitt-Rumpelstilzchen bin ich unters Bett gekrochen – vor Angst. Es war so böse. Das im DDR-Farbfilm dagegen so lieb. So lieb, dass es sogar eingesehen hat, dass die Königin ihm ihr Kind nicht geben will und kann. Es hat ganz lieb geguckt. Wir hatten uns alle lieb. Und waren lieb, wie die kleinen russischen Zeichentrick-Puppen, die immer von den bösen Holzpuppen bedroht wurden. Die Holzpuppen waren stärker und schneller und irgendwie auch weiter. Aber die kleinen lieben Püppchen haben letztlich doch immer gewonnen. Oder „Der Moorhund“, ein Kinderspionagefilm, der im Testprogramm am Nachmittag oder bei Professor Flimmrich lief. Der Moorhund! Heute kennen den nur noch ganz wenige. Ich habe damals nicht verstanden, worum es ging. Irgendwie um die Grenze zum Westen. Einer, der sich als „ein Guter“ ausgab, war am Ende der Böse. Es war Horst Kube, falls noch jemand weiß, wen ich meine.

Ich merke, ich bin alt, weil das alles Dinge sind, die junge Leute nicht mehr verstehen. Wer war Horst Kube und wer Irmgard Düren? Es wird mein kleines Geheimnis. Auch die Knie von Irmgard Düren, die sie so akribisch-akrobatisch verschränkte und die Schönheit von Doris Weikow. Das abgrundtief Böse eines Horst Kube. Sie ruhen in mir und werden mit mir in die Ewigkeit der Erinnerungen eingehen. Ich mache jetzt noch ein paar Oma-Liebscher-Faszien-Yoga-Knieübungen und dann wieder russische Bots! Das Leben ist schön.

Foto: Ich bei meiner Oma auf dem Sofa. Da gab es nur Radio oder – Kino.

Die Nora vom anderen Stern – zum heutigen Geburtstag meiner Mutter

Ich habe überlegt, wie sollte zum 93. Geburtstag meiner Mutter – schriebe ich etwas über sie – die Überschrift lauten? Die Nora vom anderen Stern. Das fiel mir sofort ein. Warum? Die Nora, eigentlich Eleonora, wurde in Rio de Janeiro geboren. 1930 an einem 5. September. In einem damals hochmodernen Gebärstuhl. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie so eine Geburt vor sich ging, aber ich weiß es von meiner Großmutter, die dieses Kind zur Welt brachte. Es war vermutlich sehr heiß, der Zuckerhut war nicht weit, diese Eleonora, das A am Ende des Namens war gängiger in Brasilien für ein Mädchen, also diese Nora, wie sie später hieß, bekam als Geburtsort Rio. Geboren in der Stadt des Januarflusses. Rio de Janeiro. Ich habe noch schöne Schwarz-Weiß-Fotos. Auch vom großen Jesus, der über all dem wachte.

Die Nora wuchs dann doch im deutschen Erzgebirge auf. Gemeinsam mit der fast gleichaltrigen Schwester Elisabeth, nach der ich benannt wurde. Die Elisabeth. Wir müssen sie erwähnen, weil sie für die Nora Zeit ihres Lebens eine Konkurrenz war. Elisabeth galt als die Schönere, die Klügere, die Durchsetzungsfähigere, die, die keine Brille brauchte. Meine Mutter erzählte ab und an, dass sie ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und Tante Manni belauschte, in dem Tante Manni zu meiner Großmutter sagte: „Die Eleonora kann der Elisabeth doch nicht das Wasser reichen!“ – Aus diesem, möglicherweise nur so dahingeworfenen, für meine Mutter aber folgenschweren Satz hat sich die Nora ihre Lebensformel gebastelt. Ihre Gewinnformel, wie das bisweilen Coaches nennen. Sie lautete: Du musst besser, in allem viel besser sein, als die Elisabeth! Schöner, klüger, und später ganz besonders auch schlanker, als diese vermaledeite Elisabeth! Dennoch, die Schwestern waren wie Zwillinge und liebten sich selbstverständlich, wie Schwestern sich eben lieben. Verlässlich und immer – auf der Lauer. Wie unter Brüdern – ich kenne das von meinen Söhnen – gibt es auch unter Schwestern – ich kenne das von mir selbst – leider – Konkurrenz. Erst will man den Eltern etwas beweisen und später der ganzen Welt. Die bedingungslose, selbstlose, innige Geschwisterliebe ist stets unterbrochen von kurzen Hassanfällen, weil kein Geschwisterkind sich der Liebe der Eltern so richtig sicher sein kann, so sicher, wie ein Einzelkind. Geschwister müssen teilen. Alles teilen. Das übt fürs Leben. Aber es ist hart.

Elisabeth und Eleonora. Sie trugen große Namen und hatten Großes vor. Sie machten Abitur und kurz bevor sie die Prüfungen ablegen sollten, ließen sie sich vom neuen Sozialismus in der frisch gegründeten DDR überzeugen und traten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, bei. Dies trug ihnen ein, dass sie vom Vater, dem Friedrich, meinem Großvater, von der Oberschule/Gymnasium abgemeldet wurden. Sie blieben standhaft und er meldete sie wieder an. Enterbte sie aber. Für immer. Die Geldgeschichte. Sie verliert sich im Dunkel von Westdeutschland und beim Onkel Otto, der das Geld forthin verwaltete, so dass Elisabeth und Eleonora eben nichts erbten. Was den frischgebackenen Sozialistinnen selbstverständlich egal war. Wir lassen uns nicht mit Geld locken! Wir bauen hier in unserer DDR einen neuen Staat auf, in dem es später – wenn es dann einen Kommunismus bei uns gibt – ohnehin kein Geld mehr geben wird. Also hinfort damit! Wir studieren, meine Mutter Journalistik, meine Tante Elisabeth Ökonomie! Wir verdienen unser Geld – sofern wir noch welches brauchen – selbst! Es lebe der Sozialismus und der Aufbau unseres Landes! Jawohl! Beide heirateten. Beide hatten sehr nette Männer, die diesen sehr dominanten Frauen ein weiches Bett boten. Beide hatten zwei Kinder. Und sie bauten den Sozialismus auf. Meine Mutter als Journalistin. Meine Tante Elisabeth in leitenden Stellen in Berliner Großbetrieben und später Ministerien. Elisabeth war immer noch ein bisschen mehr vorn. Sie wohnte in Berlin. Meine Mutter nicht. Elisabeth verdiente mehr Geld. Und sie fuhr Auto. Außerdem rauchte sie. Meine Mutter niemals. Dafür trank sie. Aber das ist ein extra Kapitel. Immerhin war die Nora – als dann die fetten Jahre kamen – schlanker, sie befolgte die regelmäßig per Brief eintreffenden Diät-Rezepte von Elisabeth. Elisabeth gelang das nicht so gut und dauerhaft.

So bin ich dann groß geworden. Vollgetankt mit kommunistischen Idealen und später auch mit Schlankrezepten. Bis ich marxistisch-leninistische Philosophie in Leipzig studierte und immerhin dadurch so viel Denken lernte, dass ich der reinen Lehre, wie sie meine Mutter vertrat, abschwor, aus dem heiligen Zirkel der Sozialisten austrat und fürderhin mit meiner Mutter nie mehr einig werden konnte. Wir stritten uns regelmäßig, solange sie noch bei Sinnen war.

Die Nora war vom anderen Stern. Sie hielt am Ideal fest, egal, was passierte. Sie schwärmte gegen Ende der DDR von Gorbatschow, das war die einzige Untreue – gegenüber dem Honecker in diesem Fall. Später war der „Gregor“ ihr Liebling. Und die Linke ihr Lebensinhalt.

Als sie im vorgerückten Alter leider ihre Erinnerungen verlor, dachte ich, die Linke würde das Letzte sein, was ihre gelöschte Festplatte im Hirn doch ab und an aufscheinen ließe. Und lange Zeit war das auch so. Sie las das „Neue Deutschland“ bis zum Schluss, wenn sie es auch nicht mehr wirklich verstand. Sie schaute ab und an sogar die Tagesschau. Politik war ja früher mal ihr Leben. Aber es gab ja noch dieses Schwester-Konkurrenz-Leben. Schöner und schlanker. Und so siegte letztlich – nach vielen Jahren der Magersucht – ich bin viel schlanker, als meine Schwester! – der Lippenstift. Das letzte, was sie von mir wollte, dass ich es ihr mitbringe, war ein schöner Lippenstift. Und ich tat es gern. Denn:  Was ist der Sozialismus gegen einen schimmernden Perlmuttstick. Nicht viel. Stimmts?

Foto: Mein Großvater Friedrich, genannt Fritz, mit meiner Mutter Eleonora und ihrer Schwester Elisabeth

Wir Kinder vom Bahnhof Ostkreuz – Mein Friedrichshainer Mädchen oder die Enkel der DDR

„Die sieht ja aus, wie meine Mutter!“, sagt der frischgebackene Vater zur frisch geborenen Tochter. Vater Robert, mein Sohn. Tochter Anna, meine Enkelin. „Die sieht ja aus wie eine von der Tschuktschen-Halbinsel!“ – kreischt Tante Illi im breiten Erzgebirgisch. Illi – mit dem Zug herbeigeeilt, um zu helfen.

Die Tschuktschen-Halbinsel liegt im fernen Ostsibirien der früheren Sowjetunion, heute Russland. In der DDR-Zeit gab es Romane, aus denen man erfahren konnte, wie die Tschuktschen, ein kleines Völkchen, leben, und wie man sowjetkommunistisch auf sie einwirkte, was nicht wirklich funktionierte. Die Tschuktschen wollten ihre alten schamanischen Riten behalten. Tante Illi wusste also, was die „Tschuktschen“ sind. Ich wusste es auch. Sonst niemand im Raum. Wie sie aussahen, konnte man jetzt besichtigen. Die Enkelin wirkte ein wenig japanisch. Knallschwarze Haare. Vorerst asiatischer Augenschnitt. Rundes Gesicht. Wie eine kleine Tschuktschin, fürwahr! Ich war sofort verliebt. Wir waren alle verliebt.

Die kleine Tschuktschin verwandelte sich innerhalb eines halben Jahres in eine Europäerin. Heute ist ihr 25. Geburtstag. Heute tanzt sie in der „Eisenstadt“ in Sachsen-Anhalt, genannt Ferropolis, auf einem Festival. Festivals – ihr Sommerhobby. Das Wetter ist wundervoll. Damals – an diesem Julitag vor 25 Jahren – war es das auch.

Ich arbeitete zu jener Zeit in einer Agentur in Hamburg als Texterin. Und wohnte mit einem Freund in einer WG. Als ich spät abends nach Hause kam, lag da ein Zettel auf dem Küchentisch. „Du bist heute Abend gegen 21.00 Uhr Oma geworden.“ Dazu ein typisches Oma-Piktogramm. Ältere Dame mit Nerle oder Dutt.

Ein Handy hatte ich damals noch nicht.

Ich war überwältigt. Meine erste Enkelin! Zur Welt gekommen in einem exotischen Geburtshaus in Berlin-Prenzlauer Berg bei Kerzenschein und Weihrauchgerüchen, das Saskia, Annas Mutter, sich ausgesucht hatte. Robert filmte die Geburt. Ein Dokument, das meine Mutter – nunmehr Urgroßmutter – zum Weinen brachte. Aufgenommen mit einer Videokamera, die es heute nicht mehr gibt. Gebannt auf eine Kassette, die es heute auch nicht mehr gibt.

Wir hatten alle noch kein Handy.

Mein geliebtes Friedrichshainer Mädchen war auf der Welt. Und ich habe mir und ihr versprochen, dass ich alles für sie tun werde, was in meiner Macht steht. Eines der wenigen Vorhaben meines Lebens, das ich tatsächlich in die Tat umgesetzt habe, ohne Wenn und Aber, mit all meiner Kraft, mit all meinem Vermögen, womit ich nicht nur Geld meine. Das aber auch. Ich hatte sogar Saskia versprochen, dass ich eine Nasen-OP bezahlen würde, falls Anna später so eine große Nase wie ihr Vater bekommen sollte. Das Geld musste ich nicht ausgeben, Saskias Nasen-Gene waren vermutlich stärker. Anna hat sich von beiden Eltern das Beste zu einer großartigen Mischung zusammengestellt.

Jetzt haben wir alle ein Handy.

Mein Friedrichshainer Mädchen wohnt noch immer und aus Überzeugung im Friedrichshain. Das Friedrichshainer Mädchen traf sich gestern mit seinen Freundinnen und Freunden am Bahnhof Ostkreuz, nicht um abzuhängen, nein, die haben gemeinsam einen Bus gemietet, der sie zum Festival nach Ferropolis bringt. Ausgestattet mit Feierlaune, Zelten, Powerbänken und großen Handys. Mit ihren Handys korrespondieren sie immerdar, den ganzen Tag und die halben Nächte, montags bis sonntags und das seit Jahren miteinander. Ein ständiges Handyrauschen um sie herum. Die (Ost)kinder vom Bahnhof Ostkreuz. Über dreißig Jahre nach der Wende und der Wiedervereinigung der Deutschen. Diese inzwischen erwachsenen Kinder waren zu jener Zeit noch nicht geboren. Und doch haben sie heute – im Jahr 2023 – ihre ganz persönliche Mauer errichtet, wie ich in Gesprächen erfuhr.

„Wir sind Ostkinder! Und wir sind stolz darauf!“ – „Was heißt das denn?“, frage ich, die ich mein halbes Leben im damals ungeliebten Osten und die weitere Hälfte eher im Westen verbracht habe. „Wir Ostkinder sind anders! Wir sind weltoffener und legen nicht so viel Wert auf Kohle, mehr auf Herzlichkeit! Wir sind auf sozialer Ebene stärker. Und wir berlinern mehr!“ Sie sagen von sich, dass sie „atziger“ sind, als die Wessis. Da musste ich erst einmal googeln. In der Jugendsprache bedeutet „atzig“ so etwas wie cool. Sie sind also cooler. Vermutlich ist das so, schon allein deshalb, weil sie nicht so viele Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten haben und darüber lachen können. Und auch nicht unter Helikopter-Eltern leiden mussten. Immerhin haben sie sich das Wort „weltoffen“ in ihre Welt herübergeholt, ohne daran zu denken, dass das Land ihrer Eltern und Großeltern alles andere, als weltoffen war. Zumindest nicht für die eigenen Bürger. – Woran das denn alles liegen würde, frage ich sie. Es läge an deren Eltern. Also an den Wessi-Eltern. Die sind anders: „Wir haben andere Eltern!“

Während wir damals unbedingt so sein wollten, wie die „Wessis“, so leben wollten wie sie, so reden können wollten, setzen diese stolzen Ostkinder ganz andere Prioritäten. „Wir Ostkinder chillen generell nie mit Wessis“, sagen sie ganz überzeugt.

„Ostkinder“ fahren nur in den Westen, also nach Westberlin, wenn es unbedingt sein muss, meinen sie, weil sie sich dort nicht wohl fühlen würden. Das wäre ihnen ganz fremd. In ihrem eingeschworenen Freundeskreis gibt es keinen einzigen Wessi. „Berlin ist groß! Jeder in seinem Gebiet!“

Ok. Ich nehme das zur Kenntnis. Auch ich bin – nach über dreißig Jahren – zu meinen Ost-Wurzeln zurückgekehrt. Und ich fühle mich seltsam zu Hause. Ich kann das also verstehen, hätte nur nicht gedacht, dass sich die alte Spaltung mit dieser noch sehr jungen Generation neu etabliert hat.

Anna ist mittlerweile Studentin an der Humboldt-Universität, in – natürlich – Ostberlin. Sie will Lehrerin werden. Vordem war sie in Berlin-West an der Hochschule für Wirtschaft und Recht. Es war Corona-Zeit. Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Sie fühlte sich dort unwohl und fremd. Und so vollzog sie einen Hochschul- und Studienfachwechsel. Jetzt ist sie glücklich und redet schon mit mir, als wäre ich ihre Schülerin.

Ich wohne fünf Jahre nicht mehr in Berlin. Anna und ich telefonieren fast täglich. Wir sind auf WhatsApp ganz dicke und ich helfe ihr weiterhin in (fast) allen Belangen ihres Lebens.

Manchmal macht es mich traurig, dass mein kleines Mädchen, meine Tschuktschin, die gern auf meinem Schoß saß, mit der ich fast jedes Wochenende etwas unternahm, jetzt auch und tatsächlich erwachsen ist. Ich sehe sie schon mit dem Zeigestock vor der Klasse stehen. Falls es dann noch Zeigestöcke gibt.

Was bleibt? Sie gibt mir immer noch gute Ratschläge, wenn es um Cremes und Make-up geht. Und wenn sie anruft, habe ich meist eine Schrecksekunde Angst, dass etwas passiert ist, dass sie weint und ich sie trösten muss.

Irgendwann wird auch das vorbei sein. Irgendwann ist sie vielleicht auch eine Großmutter. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Spätestens dann wird sie verstehen, warum ich am heutigen Tag glücklich und traurig zugleich bin.

Irgendwann fällt uns allen ein Handy oder so etwas Ähnliches aus der Hand.

Foto: Anna und ich einen Tag nach ihrer Geburt.

Endlich Siebzig – Oder: Man ist so alt, wie man sich fühlt!

Zunächst steht da dieser saublöde Satz. Ich sage: Nein! Man ist nicht so alt, wie man sich fühlt! In jungen Jahren fühlt man sich zumeist älter und auch irgendwie weiser, als die Anderen denken. Jedenfalls selten übermäßig jung. Oder will noch nicht einmal jung sein, weil man es eben IST. Später, genau ab dem Moment, in dem man den magischen Satz, dass man so alt oder eben so jung sei, wie man sich fühle, erstmalig von sich gibt, ist man alt. Oder älter. So alt, dass man gern wieder jünger wäre. Es kommt der Moment, an dem ein jeder oder insbesondere eine jede begreift: Ich bin nicht mehr jung. Und das kommt auch nicht wieder. Es hieß in den Neunzigern in entsprechender Frauenliteratur feministischer Art drohend: Eine Frau stirbt zweimal – als Frau, das wäre Nummer 1 – und als Mensch, die Nummer 2. Oder das Ende. Ich sage immer zu meiner Enkelin: Jede Frau hat ihre Zeit! Nutze sie!

70 also. Meine Familie hat mich überrascht. Ich dachte, ich könnte diesen Geburtstag verstecken. Hatte niemanden eingeladen, wie ich es normalerweise immer tue, es war auch mitten in der Woche. Da hat ohnehin keiner Zeit. Sie hatten Zeit. Ich musste mich um nichts kümmern. Ein Blumenmeer, für mich extra angefertigter Wein mit Elisabeth-Etikett, eine gemietete Kneipe oder Gaststätte, wie der Ostler sagt, hier in Magdeburg. Alles dabei. Und ich mit Tränen in den Augen – natürlich nagte am Ende das schlechte Gewissen an mir. Am Geburtstag mit reichlich Weißwein unterdrückt. Ich merke immer wieder, wenn ich nicht die Kontrolle habe – über irgendein Geschehen, und sei es der eigene Geburtstag – habe ich Probleme. Mit mir. Es wird sich in diesem Leben nicht mehr ändern.

Nun ist es also soweit. Ich bin so alt, wie meine Oma war, als sie gestorben ist. Meine böhmisch-brasilianische Oma, der erst prägende Mensch in meinem Leben. Von Jahr zu Jahr ist sie mir näher. Ich beginne, mit ihr zu reden. Vielleicht lacht sie längst über mich. Weil ich so wehleidig bin. Weil ich morgens beim Aufstehen denke, heute geht aber gar nichts mehr. Es läuft sich dann ein. Ich trinke Wermut-Tee, wie sie es immer getan hat. „Hilft gegen alles!“. Ich studiere alte Fotos. Damit ich die neuen nicht sehen muss. Ich räume die Wohnung auf und denke über den Sinn des Lebens nach. Es hat keinen. Wohnung aufräumen gehört bestimmt auch nicht dazu. Der einzige Sinn, den es letztlich für mich haben wird, sind meine Kinder und Enkel. Ich danke Gott und mir, dass ich sie habe. In letzter Zeit stelle ich mir vor, wie es wäre, könnte ich sehen, wie sie sich an meinem Grab verhalten. Mit Siebzig darf ich das.

Der Sinn liegt garantiert für mich nicht darin, hippieesk zu tun, „was ich schon immer mal tun wollte“. Das liest man ja allenthalben. Da nimmt so eine wilde Großmutter ihr ganzes Geld zusammen, kündigt die Wohnung und kauft sich einen fahrbaren Wohnwagen. Und tourt fortan durch die Welt. Ich nicht. Ich will so ein Gefährt nicht. Ich hasse es auf Parkplätzen herumzulungern, in Kneipen zu essen, auf fremde Klos zu gehen, unter lieblos gechlorten Duschen zu stehen und fremde Menschen kennenzulernen. Ich will keine fremden Menschen mehr. Ich will die, die ich kenne. Die ich schon mein Leben lang kenne. Das Vertraute ist das Wahre. Das Vertraute ist die Liebe, von der immer alle reden. Das Vertraute ist das wahrhaft Geliebte. Liebe ist Vertrauen.

Alt werden ist nicht erstrebenswert. Dass ich weiser bin am Ende, als die Jüngeren, wäre ein Trost, aber keine Garantie. Jünger werden, ist auch keine Lösung, es führt mich in den Uterus der Mutter. Auch ein Tod. So rum oder so herum. Es ist egal. Früher hieß es immer: Ich möchte nochmal zwanzig sein, aber so klug, so gescheit, wie das damals hieß, wie heute! Gott bewahre, wie sollte ich mit meinem jetzigen Verstand unter Zwanzigjährigen aushalten. Ich weiß heute, dass das unmöglich ist. Es würde mich nur wütend machen, keiner verstünde mich. Ich wäre eine Außenseiterin.

Apropos Außenseiterin: Ich falle immer wieder auf. Ich kann nicht unerkannt in der Menge untertauchen. Obwohl es heißt: Alte Frauen werden unsichtbar. Klar, es ist so, dass die Bauarbeiter nicht mehr von Gerüst pfeifen. Ein Unsichtbar-Sein, das zum erwähnten „ersten Tod einer Frau“ gehört. Daran kann frau sich gewöhnen, weil es zwar ein Zeichen ist, dass die so Gestorbene im Markt der wilden Geschlechter unter den Rost fällt. Doch die Frau mit Geist und Einsicht in das Unvermeidliche wird es nach anfänglichem Erstaunen in die immer größer werdende Alterskiste sortieren und den Marktwert anderweitig steigern. Klar, manche lassen dann die wilde Sau raus. Fahren mit dem Wohnwagen durch das Land, malen erotische Bilder, ziehen in Alters-WGs, töpfern oder – gehen zum Seniorentanz, der neuerdings in Erlebnistanz umbenannt wurde.

Es gibt den bundesweiten Verein für Erlebnistanz, auch im Bundesland Sachsen-Anhalt ist er zu Hause. Der Erlebnistanz. Ja, die Senioren von heute. Wollen keine Senioren mehr sein, obwohl das doch viel edler klingt, als Rentner. Meine Schwägerin tanzt begeistert in Mecklenburg-Vorpommern. Und empfahl es mir, um spielerisch der Bewegung zu frönen. Jetzt überlege ich, ob ich den örtlichen Erlebnistanz mal versuche. Vielleicht fällt mir das Aufstehen am Morgen nicht mehr so schwer. Mein Sohn Ben mahnt in regelmäßigen Abständen: Mutter, Du musst Dich mehr bewegen! Kein Wohnwagen, aber Gartenarbeit und Erlebnistanz! Meine nicht wilde, aber gesittete und bewegungsreiche Zukunft?

Ok, ich habe – welch immer noch großes Glück – meine Enkelin Anna. Der helfe ich beim Studium. Oder ich kaufe seltsame Spielzeuge für meine Jungenkel. Meiner Weisheiten wollen die Jungen noch nicht teilhaftig werden. Ich schaue kein öffentlich-rechtliches Fernsehen, manchmal Netflix und beherrsche die sozialen Medien. Einerseits unterhalte ich, andererseits kämpfe ich. An den notwendigen Fronten. Ich tue mein Bestes. Ich bin Siebzig. Da ist das so.

Foto: Elisabeth auf Leipziger Straße – Mitte Achtziger. Da fand ich mich auch schon alt. Fotografiert von Peter Cäsar Gläser.

Meinem Sohn Ben Gläser – ideensprudelnder Berserker und ein tatsächlicher Gutmensch – zum Geburtstag

Oft werde ich gefragt, wer ist eigentlich dieser dritte Sohn? Man sieht ihn nicht – er ist Internetscheu – man weiß nichts von ihm. Ist er mein Geheimnissohn? Nicht ganz. Aber ein bisschen. Über Robert und Moritz habe ich bereits ausführlich geschrieben. Heute soll es Ben Gläser sein. Vorher ein kleiner Ausflug in die Welt des Geborenwerdens.

Heutzutage machen werdende Väter Windelkurse und lernen das hektische Mit-Atmen. Damit sie bereitstehen können – im Kreißsaal, wenn es um die letzte Phase geht. Ich rate immer wieder jungen Frauen, keinen Vater mit in einen Kreißsaal zu nehmen, da gehören sie nicht hin. Es ist Frauensache. Wenn ich Müttern, die nicht auf mich hörten, nach ein paar Jahren sage, warum ich das für besser halte, antworten sie mir: Ach deswegen! Jetzt verstehe ich das! Du hattest Recht.

Doch ist das nicht die Geschichte, die ich erzählen will. Jetzt erzähle ich die Geschichte meines Sohnes Ben, der Ende der Siebziger geboren wurde und zwar mitten in der Nacht. Es war in einem Leipziger Krankenhaus. Die Hebammen waren nach DDR-Art sehr streng und befahlen mir, meine lackierten Fingernägel abzuschneiden. „Lackierte Fingernägel gehören nicht in den Kreißsaal!“. Weil ich protestierte, ließen sie mich spüren, was es bedeutet, unfreundliche Geburtshelfer um sich zu haben (und keinen liebenden Mann, der selbstverständlich in dieser Nacht auf Mugge war). Es war die schlimmste und demütigendste Geburt, die ich erlebt habe.

Am Morgen gab es einen Lichtblick: Der Krankenwagenfahrer, der mich und noch ein paar Frauen, die in dieser Nacht Kinder zur Welt gebracht hatten – in der DDR wurden zu dieser Zeit viele Kinder geboren – in ein anderes Krankenhaus transportieren sollte, erkannte mich als die Frau von „Cäsar“, dem in Leipzig damals stadtbekannten Musiker. „Lasst uns bei Euch zu Hause schnell vorbeifahren? Sagte er und ich sagte ja. Und so hat Peter Cäsar Gläser seinen frisch geborenen Sohn Ben am Morgen, als er auch gerade nach Hause gekommen war, gleich anschauen müssen. Sehr verschlafen und erstaunt. Eingewickelt in eine Silberfolie. Bens acht Jahre älterer Bruder Robert ging gerade zur Schule. Er und seine Freunde schauten ebenfalls auf das Silberwickelkind. Robert meinte spontan: Der sieht ja aus, wie eine Bratwurst!

Ja, Ben hatte bereits einen großen Bruder. Es folgte noch ein kleiner. Ben ist also Mittelkind. Manche sagen, die wissen nicht, was sie sind. Sind nicht der Große. Sind nicht der Kleine. Sie sind die Mitte. Ich finde das gut. Und Ben findet es nunmehr auch ok. Er ist ja ein gestandener Mann. Ben ist sogar der Mann, den ich mir aussuchen würde – so als Begleitung, Beschützer und Ideengeber – wenn ich durch die Hölle gehen müsste. Ben und kein anderer.

Ben ist der Berserker. Ben ist der Ideenmensch. Er hat so viel Kraft, dass er manchmal nicht weiß, wohin damit. Es könnte ein (meist nur leichter) Wutanfall über all das Leid auf der Welt sein, ein Trommeln auf den Tisch oder – er tut etwas. Er muss in Bewegung sein. Er betet die Bewegung an. Ben ist ein Techniker, ein (Überlebens)Künstler, ein Handwerker, der einfach alles kann, steter Umzugshelfer für alle Freunde und Verwandten, ein Billardspieler. Das ganz besonders. Und manchmal auch ein Gitarrenspieler. Ben ist der großgewachsene Mann mit den vielen Träumen. Manche hat er sich erfüllt. Andere (noch) nicht. Ben ist der stets sprudelnde Ideenquell. Ben ist ein Multikulti-Mensch. Er kommt mit den schwierigsten Mitmenschen aus, weil er keine Angst hat, weil er in Kreuzberg aufgewachsen ist, weil er ein High-School-Jahr in Amerika hinter sich gebracht hat, weil er in Berlin-Neukölln zu Hause ist. Er arbeitet in einem festen Job, macht keinen Lohnsteuerjahresausgleich, weil das Geld, das er zurückbekommen würde, doch für Kindergärten und Straßen besser angelegt sei, regt sich nicht übermäßig auf, wenn in sein Auto eingebrochen wird und sein gesamtes Werkzeug geklaut wird. Er lebt in Berlin-Neukölln. Und das immer noch gern.

Im Frühjahr war er über Nacht auf einem großen Flughafen im asiatischen Raum im Wartemodus. Er schreibt mir, dass er – und seine Freunde – die ganze Nacht dort ausharren müssen. Ich schreibe: Passt auf Euch auf und lasst Euch nicht beklauen! Er schreibt zurück: Wenn, dann klauen wir! – So ist er. Ich liebe meinen Sohn Ben, so wie er ist, weich und hart, liebevoll und verrückt.

Ich habe einen alten Garten geerbt, der so verwildert war, dass ich ihn nicht in den Griff bekommen hätte, weil ich zu alt, nicht so von Bewegungsdrang besessen und leider auch viel zu chaotisch bin, um so etwas umzuwandeln in die Oase, die Ben mit Freundin Jasmin daraus im Frühjahr des vergangenen Jahres gezaubert haben. Mit viel Arbeit und Enthusiasmus. Auch das alte Haus wurde ausgemistet, aufgeräumt und wohnlich eingerichtet. Es war meine Freude des Jahres 2022. Und sie ist es immer noch. Im Garten sitzen und ins Grüne schauen, drückt meinen Blutdruck, der aus anderen Gründen des Öfteren steigt, in die Sphären eines jungen Mädchens. Und ich sitze und freue mich und kann ihm nicht genug danken.

Kurzum. Ich wohne nicht mehr in Berlin. Ben ist nicht oft da. Aber wenn es nötig ist. Er ruft mich jeden Silvester um 24 Uhr an und sagt jedes Jahr, dass ich die beste Mutter der Welt bin. Wenn ich mal so alt bin, dass ich gar nichts mehr kann… weiß ich, dass er da ist.

Heute Nacht gegen zwei Uhr hat mein Sohn Benjamin Geburtstag.

Foto: Peter und Elisabeth Gläser kurz vor Bens Geburt/ Leipig 1979.

„Same procedure as every year“ – Winken und es scheußlich finden. Und dann in den Stadtpark. – 1. Mai in der DDR.

1. Mai. Kampf- und Feiertag der Internationalen Arbeiterklasse nannte er sich. Bei uns in der kleinen DDR selbstverständlich. Er gehörte zur Grundausstattung des Staatsgebildes, das ein Paradies zu werden versprach. Feiertag war schonmal gut. Schulfrei auch. Und dann mit den Eltern zur Demonstration gehen. Die Demonstration. Sie bestand darin, sich zu treffen, mit den Arbeitskollegen der Eltern, und dann – wenn wir „dran“ waren – an den örtlichen Chefs von Partei und Regierung vorbeizudefilieren. Und natürlich – ganz wichtig – zu winken. SIE standen oben auf der Tribüne. WIR waren unten. Danach löste sich das Ganze auf und dann kam das, was ich liebte. Die Bockwurst. Und die Limonade. Denn überall waren Buden aufgestellt. Die Musik spielte. Auch etwas, das ich liebte. Dazu am besten Sonne und ein zartes Frühlingsweben- und -streben. Und, als ich noch klein genug war, auf den Schultern des Vaters sitzen und ein Fähnchen schwenken. Wie war das schön!

Erst sehr viel später habe ich meine Mutter gefragt, was das für eine Demonstration ist, wenn wir den Oberen des Staates und der Partei zuwinken und sie milde zurück. Von ihrer Tribüne. Darauf konnte sie mir keine befriedigende Antwort geben. Sie war schon so gehirngewaschen, dass sie noch nicht einmal meine Frage verstand. Es war nun einmal so. Dass so etwas keine „Demonstration“, wie wir es u. a. in der Schule gelernt hatten, war, merkte ich ziemlich schnell.

Und so hasste ich nichts mehr, als mit vierzehn Jahren, als ich schon schwer pubertierend war, als ich mich schon schminkte, als ich nach den Jungs bei der Demonstration schaute und nicht nach den greisen Winkenden oben auf der Tribüne, dass ich mit einem lächerlichen Pionierhalstuch gehalten war, daran teilzunehmen. Noch mich dem Eingetrichterten fügend, ging ich mit Pionierhalstuch aus dem Haus und hatte dann nichts Eiligeres zu tun, als dieses schnell abzulegen, einzustecken und dann gelangweilt den Treffpunkt unserer Schule aufzusuchen. Die Demo zu absolvieren. Winken und es scheußlich finden. Und dann in den Stadtpark! Immer noch Bockwurst, immer noch Limonade. Aber nun Jungs schauen, die es reichlich gab. Und wenn es ganz wunderbar wurde, in den Mai tanzen.

Foto: Ich mit 15 Jahren.

Die wunderschöne Rede zum Tod meiner Mutter vor neun Jahren von meinem ältesten Sohn Robert Gläser

Sie sah immer super aus und trug nie flache Schuhe! Ich habe ihre Eitelkeit immer geliebt! Wenn ich in Magdeburg zu Besuch war, dachten immer alle ich wäre ihr Sohn. Ich schenkte ihr 1989 zu Weihnachten ein Opium Parfüm…sie hat sich nie wieder ein anderes gekauft und bedankte sich immer wieder für ihren Lieblingsduft, der es fortan war.

Meine liebe Oma, Frau Dr. Eleonora Pfeifer, ich habe dir immer mal wieder 20 Ost-Mark-Münzen aus deinem Schatzkästlein geklaut und habe das Geld sinnlos verfressen… Ich glaube, die hattest du über Jahre gesammelt, aber höchst wahrscheinlich, ohne an ihnen zu hängen. Es tut mir trotzdem leid und ich möchte mich dafür entschuldigen. Aber „Zetti Märchenbohnen“ waren verdammt teuer und ich getraute mich nicht, nach Geld zu fragen, was du mir mit hundertprozentiger Sicherheit gegeben hättest und auch getan hast. Enkel sind eben bescheiden. Auch deine GEHEIM-Sprache „Malifesohu“ bleibt immer in meiner Erinnerung. Alles was du gekocht hast, hat mir einfach nur geschmeckt! Dieser Duft von Schweinekotelett mit Rosenkohl und Kartoffeln. mhhhh ..Außerdem tut es mir leid, dass du mich 1982 mit mahagonirot gefärbten Punker-Haaren und zerrissenen Jeans vom Magdeburger Hauptbahnhof abholen musstest und dir das sehr peinlich war….ich kam mit hoch gekämmten Haaren zu dir und mit runter gekämmten fuhr ich wieder nach Hause. Eigentlich war ich total auf dem „No Future“-Trip und las dann Irma Thälmann „Erinnerungen an meinen Vater“. Ich empfand das aber immer als richtig! Ich kam als Rebell und ging als lieber Junge mit guten Vorsätzen. Deine liebevolle Erklärung, sich lieber ein wenig anzupassen, erschien mir sogar noch ein paar Tage, nachdem ich bei dir war, immer als Notwendigkeit.

Du hast mir viele schöne Kindheitserinnerungen beschert, beispielsweise deinen Vorschlag, meine erste Punk-Band „Flamingo“ zu nennen oder auch, mir immer akribisch meine Ohrring-Löcher zu reinigen und mir zu erklären, dass die Ohrlöcher wieder zuwachsen könnten. Dabei machtest du, als ich 14 Jahre alt war, die Feststellung, dass doch meine Nase ganz schön groß geworden sei, worauf ich mich das erste Mal in meinem Leben in deinem Badspiegel von der Seite spiegelte und diese Feststellung der angehenden Hakennase für mich für kurze Zeit ein Trauma war.

Ich genoss es auch als Kleinkind immer wieder, wenn du mich mit „Heitschi Bum Beitschi“ in den Schlaf gesungen hast. Das Outro dieses Liedes war besonders schön… Dieses bum bum auf meiner Nasenspitze war immer sehr zärtlich und könnte dennoch eine Erklärung für meine Charakternase sein. Meine unendliche Liebe zu DDR-Neubauwohnungen muss ich von dir haben, es war immer so gemütlich und wohlvertraut. Deinen dicken Wohnzimmerteppich hätte ich ohne Zweifel abgeleckt. Beim Mittagsschlaf in deinem Schlafzimmer das Musikantenhöllen-Triptychon von Bosch zu betrachten und mich in deiner immer frisch riechenden Bettwäsche einfach nur sauwohl und geborgen zu fühlen! Ich durfte immer noch Fernsehen schauen, wenn du und Roland schon im Bett waren und die Senderwahl blieb mir ganz allein überlassen. Das war zur damaligen Zeit schon revolutionär und durchaus weltfraulich, darüber hinweg zu sehen, dass ich mich hundertprozentig vom Klassenfeind unterhalten ließ. Außerdem war zu dieser Zeit Westfernsehen, und das in bunt, der absolute Wahnsinn! Dabei fällt mir lustigerweise immer wieder der Film „Gorky Park“ ein, den ich spät nachts sehen durfte. Dieser amerikanische Film mit William Hurt hatte ja doch irgendwo mit dem großen Bruder zu tun. Ganz abgesehen von American Werewolf. Heute habe ich dennoch ein gespaltenes Gefühl zu Amerika. Also keine Sorge! Auch Mischka der Olympiabär von 1980, den du mir aus Moskau mitbrachtest, war eine wichtige Figur meiner Kindheit und nahm mir die Angst vor dem 3. Weltkrieg. Spätestens als Udo Lindenberg den Krefelder Appell unterzeichnete und dies in der Jungen Welt stand, konntest du auch was mit Punk, Rockern und zerrissenen Jeans mit Peacezeichen-Flicken darauf gut finden, außerdem kam dir wahrscheinlich auch langsam die DDR-Staatsführung etwas eigenartig und starrsinnig vor.

Mit meinem schwarzen Cordanzug und einer große Summe Geld für meinen „Geracord“-Kassettenrecorder zur Jugendweihe hast du mich einfach nur glücklich gemacht! Du hast mir meinen „Actionbass“ finanziert, der für meinen Weg als Musiker sehr wichtig war, sinnloserweise mit mir immer wieder Russisch geübt und mir beigebracht, nicht immer oder besser gar nicht „Scheiße“ zu sagen. Es hat nichts genützt, ich kann kein Russisch und finde es verdammt Scheiße, dass du nicht mehr da bist!

Deinen Kampf für die „Diktatur des Proletariats“ habe ich nie so wirklich verstanden, viel mehr beeindruckte mich, dass du in Rio de Janeiro geboren wurdest. Du hast nie irgendetwas von mir verlangt, was ich immer als unglaublich angenehm empfand. Ich habe mich immer sehr gefreut, wenn wir traditionell jedes Jahr alle zusammen Weihnachten gefeiert haben und du und Roland nach Leipzig oder Berlin gekommen seid. Es war auch immer lustig, wenn du bei diesem Anlass meiner Mutter zu kleine Sachen mitbrachtest, die du nicht mehr angezogen hast, und sagtest: „Vielleicht wäre das ja was für dich.“ Wobei du wahrscheinlich gefühlt unter 50 kg gewogen hast. Du sahst eben immer großartig aus!

Ich bereue es zutiefst, dich in deiner Zeit im Heim so wenig besucht zu haben! Ich konnte es einfach nicht ertragen, dich so zu sehen. Es ist eben wirklich dumm zu glauben, es ginge immer einfach alles so weiter und wird irgendwann wieder gut! Ich hoffe du kannst mir das verzeihen, ich werde es wieder gut machen, spätestens dann, wenn wir uns wiedersehen! Wenn du dir ne Flasche Wein mit Rosa (Luxemburg) aufmachst, bestell doch bitte bis dahin, mal kämpferische Grüße! Ich habe dir noch einen zweiten Urenkel, sein Name ist Mio, geschenkt und war zu seiner Geburt am 21.12. 2013 ein Jahr älter als Opa Manfred zu meiner. Lustig, oder?

Du warst immer extrem lieb zu mir und warst der schönste Ausgleich in meiner aufregenden Kindheit! Danke, danke, danke…Ich liebe dich und werde dich nie vergessen! Wir alle werden dich nie vergessen! Dein Enkel Robert

Foto: Meine Mutter Ende der 60er Jahre bei einer Betriebsfeier der „Volksstimme“ Magdeburg, wo sie als Kultur-Redakteurin arbeitete.

 

Eine Geschichte aus der (fast) guten alten Zeit – Als ich einmal Talkshow-Expertin bei Hans Meiser war und Flugangst mich beinahe besinnungslos machte

Meine lieben Studienkolleginnen Karin Deuser, Daniela Köppe – nein, nicht mit mir verwandt – und ich haben 1995 ein Buch geschrieben. Ein Extrakt und eine Erweiterung unserer Diplom-Präsentation an der Universität der Künste Berlin 1994: „90-60-90 – Zwischen Schönheit und Wahn“ – so hieß das. Offensichtlich müssen das einige Medienvertreter gelesen haben. Denn: Ab sofort waren wir „Expertinnen“.

Und wie das so ist, wenn man die Expertinnen-Karriere einmal eingeschlagen hat, wird der Experten-Name in einschlägigen Redaktionsverteilern verewigt. Während Karin, eine weitaus bessere Rednerin als ich, wenn es um die Verkündigung unserer Botschaften ging,  bei Spiegel-TV saß, geriet ich in die Fänge der Nachmittags-Talk-Shows. Die erste war bei Hans Meiser, lang, lang ist’s her.

Es ging um Schönheitsoperationen, ein Thema, das wir in unserem Buch nur am Rande und eher philosophisch-soziologisch berührten. Das war den anrufenden Experten-Scouts egal. „Sie machen das schon!“ Ich zierte mich nach allen Regeln der Kunst. Trieb mein Honorar in die Höhe und – sie ließen nicht locker. „Sie machen das schon!“ (Ertappte mich gerade dabei, dass ich „Sie schaffen das schon!“ schreiben wollte). Irgendwann ermattete ich, sagte „ja“ und kaufte mir ein kritisches Buch über Schönheitsoperationen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch niemals geflogen und hatte das auch nicht vor. Ich war sehr esoterisch drauf – zu dieser Zeit – und dachte Sätze wie „Der Mensch hat keine Flügel, also soll er auch nicht fliegen“. Meine Welt war ohne Flügel in Ordnung. Dann erhielt ich einen Anruf. Aus Köln-Hürth. Von der Hans-Meiser-Produktionsfirma. „Ihr Flieger ist gebucht, melden Sie sich am Lufthansa-Schalter um 14.00 Uhr in Tegel“ – „Aber ich fliege nicht!“ – rief ich entsetzt – „Ich kann nicht fliegen!“ – „Jeder kann fliegen! Also, es ist alles gebucht, seien Sie pünktlich, Sie werden dann in Köln von einem Fahrer abgeholt“. Sprach es und legte auf.

Ich legte auch auf und ging zu „Karstadt“ und kaufte einen Wintermantel. Und dachte übers Fliegen und Schönheits-OPs nach. Um es kurz zu machen: Ich flog. Und ich trank ein gefühltes Fläschchen Valium, so dass ich beinahe vom Sitz fiel und mir die Spucke aus dem Mund lief – im Flieger. Der Stewart sprach mich an: „Geht’s Ihnen gut?“ „Ja, mir geht’s gut, bin nur bissel gedopt. Sagen Sie, warum sehe ich immer dieselbe Wolke? Stehen wir in der Luft?“ „Haha, Sie sind gut. Wir fliegen in 10.000 Meter Höhe mit 750 Stundenkilometern!“ „Aha“. Ich griff zu meinem Fläschchen und nahm noch einen Schluck.

In Köln wankte ich durch den Flughafen und sah jemanden, der ein Schild mit meinem Namen trug. „Sind Sie Frau Gläser?“ – „Ja“. „Geht’s Ihnen nicht gut?“ „Doch. Bestens. Ich lebe noch!“ – Unverständnis und eine Kopfbewegung in Marschrichtung zum Auto, das uns dann in die Studios nach Hürth fuhr.

In der Garderobe erst einmal stundenlanges Sitzen, dazwischen Schminken, ich erkannte mich kaum wieder, und Begutachtung der anderen Gäste. Die waren in „Opfer“ und „Experten“ unterteilt. Dazu kam das damalige „Gesicht 95 oder 96“. Ich weiß gar nicht mehr, was das für ein Jahr war. Jedenfalls war das „Gesicht“ der Star. Sie hatte Beine, die ungefähr in Höhe meines Nabels endeten, und war sehr gut drauf. Noch lagen Schönheitsoperationen für sie in weiter Ferne. Hofiert und angebetet wurde sie von allen Redaktionsjünglingen, die ihr auf Schritt und Tritt hinterher sabberten.

Plötzlich kam Michael Jackson in die Garderobe. Alles erstarrte. Kurz. Denn sogleich begriff man, wir sind hier in einer Freakshow. Es geht um Schönheitsoperationen. Da war also einer, der schon einige OPs hinter sich hatte, um als M-J-Double zu arbeiten. Dann eine Frau, die in ihrem früheren Leben die Nofretete war und so viele Operationen hinter sich hatte, um dieser Inkarnation zu gleichen, dass fürderhin keiner in Deutschland mehr sein Messer an sie legen wollte. Sie berichtete in der Sendung, dass sie demnächst nach Brasilien ginge, dort blühe das Schönheitsoperationswesen und dort fände sie jemanden, der ihre Selbstwerdung hienieden vollendet.

Eine kleine ältere Frau, wie sich später herausstellte, war sie über siebzig, hatte ihre Operation filmen lassen, in der ihr tatsächlich das gesamte Gesicht abgelöst wurde, straffgezogen und wieder neu angenäht. Nichts für weinerliche Gemüter wie mich. Und dann –  der Superstar. Ein Arzt, der Schönheitsoperationen anbot und natürlich ins Werk setzte, auch die der älteren Dame, und durch die Sendung führte. Gemeinsam mit Hans Meiser. Es war eine gigantische Werbeshow für diesen Chirurgen. Bei insgesamt sechs Sendungen zu unterschiedlichen Themen chirurgischer Verschönerung bzw. Veränderung.

Ich begriff sofort, dass ich als die kritische Expertin vorgesehen war. Sprach wie im Wahn ein paar Sätze. Alles schnell, schnell. Konnte mich später an nichts mehr erinnern. Der Schönheitschirurg gab mir hinterher seine Karte. Das „Gesicht 95“ flog mit mir zurück nach Berlin. Wir betranken uns mit Minisektflaschen, sie erzählte mir von ihren weitreichenden Modelplänen. So vergaß ich mein Valiumfläschchen und landete glücklich. Ganz große Vorsätze: Niemals mehr fliege ich! Niemals mehr geh ich in eine Talkshow! Beides hab ich nicht eingehalten.

Foto: Ich 1995 – ein Bewerbungsfoto, mit dem ich nie einen Job bekommen habe 🙂

Zum heutigen Karfreitag – Aufstieg auf den Kalvarienberg Graz oder – Warum ich den Katholizismus liebe

Ganz oben hängt er. Ganz in Gold. Hängt am Kreuz. Vorher trug er das Kreuz. Es war seine Passion. Sein Leiden. Keine Leidenschaft. Oder doch? Ich steige mit meiner Freundin Frieda auf den Kalvarienberg in Graz. Gehe mit ihr den steinigen Passionsweg. Ich leide mehr an geschwollenen Füßen, denn an den Leiden des Herrn. Fotografiere all die Skulpturen, all die Kunstwerke, die der Glauben über die Jahrhunderte hervorgebracht hat. All diese katholische Herrlichkeit, die Österreich mir jedes Jahr zu Füßen legt. Diese Pracht und diese bunte Sinnlichkeit faszinieren mich immer aufs Neue.

Ich denke an Dali, der Stunden vor seinem Tod noch zum Katholizismus übertrat und ich weiß, warum. Man weiß ja nie… Selbst Darwin schrieb: „… dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist.“ Und dann weiter: „Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Ja, an allem ist zu zweifeln. Auch das. Auf beiden Seiten. Nicht mehr zweifeln muss ich an meiner Leidenschaft für Jesus. Als Kind wurde ich mit Jesusbildern und -erzählungen gefüttert. Es gab da eine Konkurrenz zwischen meiner katholischen Oma und meinem evangelischen Onkel Karl. Immer, wenn ich mit meiner Oma Onkel Karl besuchen musste, zog er mich sofort in sein Arbeitszimmer, um mir von IHM zu erzählen. Und nicht nur das! Er zeigte ihn mir. In schrecklichen schwarz-weißen Bildern. Ich hab mich nie wohl gefühlt – in protestantischen Kirchen. Sie erregten ein Grauen in mir. Denn sie waren düster, karg und vor allem streng. Besonders gern zeigte mir Onkel Karl Johannes den Täufer, wie er in seinem Blute – nur noch als Kopf – in einer Schüssel schwamm. Und er schaute mich irgendwie triumphierend an und ich dachte: Warum? Warum, Onkel Karl, zeigst Du mir das?

Er hatte dann meist ein Einsehen und tröstete mich mit bunten Bildchen aus der evangelischen Christenlehre. Ja, diesen Kinderjesus war ich bereit zu lieben. Er lief übers Wasser, hatte goldene Haare und einen großartigen Heiligenschein. Er strich den Menschen über ihre gebeugten Häupter, machte sie gesund und fütterte sie mit seinen unendlichen Vorräten. Und versprach ihnen eine Welt in Frieden und Glück. Dann, wenn er wiederkomme. Dass er zwischenzeitlich ans Kreuz geschlagen ward, auferstanden und gen Himmel zum Vater gefahren, wusste ich natürlich.

Und so endeten meine Besuche im Erzgebirge immer damit, dass ich mit vollem Kopf und Herzen und mit dem Zug nach Hause fuhr zu meinen Eltern, die eine andere Zukunft für mich vorgesehen hatten. Ich hatte Onkel Karl ja gefragt, bevor ich nach Hause fuhr: Kommt Jesus auch zu mir, dann, wenn er wiederkommt? Ja, er kommt auch zu Dir! – wusste Onkel Karl und schaute mir tief in die Augen. Auch meine Oma bestätigte das. Ich sah meinen hübschen Jesus vor mir, mit langen blonden Haaren und einem weißen Wallegewand. Ich sah ihn, wie er plötzlich in Lauchhammer – in der sozialistischen Braunkohle- und Schwermaschinenbaustadt der Niederlausitz, in der wir damals wohnten – auf unserem Spielplatz im Sandkasten steht und zu mir sagt: Hier bin ich! Dazu Musik! Eine sphärische Musik. Glück pur! Ich vergaß Mutter und Vater, die am Bahnhof standen, um mich aus diesem Traum abzuholen.

Abends erzählte ich meinem Vater, dem atheistischen Professor in spe, von meinem Jesus. Dass er dereinst kommen werde. Zu uns allen. Und dass das doch wunderbar sei. Quatsch, sagte mein Vater, alles Quatsch! Er zog ein Buch aus dem Arbeitszimmerschrank, in dem Menschenaffen waren. Und begann, meine Welt zu zerstören. Lange Zeit konnte ich ihm das nicht verzeihen.

Gott sei Dank – wir werden irgendwann erwachsen und können selbst entscheiden. Vielleicht hätte mein Vater alt genug werden müssen, um vielleicht wie Dali… wer weiß! – Ich laufe den Grazer Kalvarienberg hinauf. Oben steht das Kreuz. ER hängt am Kreuz. Das machen nur die Katholiken. Ihren Jesus derartig üppig zu vergolden. Onkel Karl hätte die Augen niedergeschlagen und irgendwas in seinen Bart gemurmelt – von Verschwendung oder so. Vor dem Goldjesus stehen drei Gestalten: Eine schaut heuchlerisch. Es ist seltsamerweise der Johannes. Eine schaut desinteressiert. Das ist Maria, die Gottesmutter. Eine – die in der Mitte – weint aufrichtig und bitterlich: Maria Magdalena. Die Tochter aus gutem Hause. Keine Brave. Keine, die tat, was man von ihr verlangte. Andere Gedanken haben, kann verrückt sein. Verrückt machen. Sündig. Sündig und besessen. So hieß es, sie sei eine Sünderin. Eine Verrückte. Bis Jesus kam und die Verrückte wieder in die Mitte verrückte. Und so folgte sie ihm bis in den Tod. Und wird die erste sein, die ihn sieht an diesem Sonntagmorgen der Auferstehung. Noch weint sie. Sie weint die einzig wahren Tränen in dieser Goldjesus-Szenerie. Und weiß noch nicht, dass alles gut wird. Das hilft sogar mir, den Glauben nicht zu verlieren. Danke Graz, danke Frieda, danke Kalvarienberg. Das ist der Zauber des Katholizismus. Er ist sinnlich und deshalb liebe ich ihn. (Ja, Frieda, ich kenne auch die Schattenseiten).

Foto: Kalvarienberg Graz – ganz oben – eigenes Foto.

Mein Beitrag zur ARD- und -Netflix-Serie „Lauchhammer – Tod in der Lausitz“: Wir Lauchhammer-Kinder der DDR

In der DDR stand im Klassenbuch, was die Eltern für Berufe haben. Bei mir lange Zeit Diplom-Ingenieur – mein Vater. Diplom-Journalist – meine Mutter. Wir wurden ständig nach den Berufen unserer Eltern gefragt. Warum das so wichtig war? Gut war es, zur herrschenden Arbeiterklasse zu gehören. Wir waren ein Arbeiter- und Bauernstaat. Wir hatten eine Diktatur des Proletariats. Aber das lernte ich erst später. Meine Eltern nannten sich Kommunisten. Ein gewaltiges Wort. Der Kommunist war der neue Mensch, den wir bewunderten. Er begegnete uns auf Plakaten und im Lesebuch. Meist war es ein Arbeiter mit kräftigen Armen und einem Hammer in der Hand. Oder er drehte an großen Rädern herum. Dazu eine Frau, die auch irgendetwas in der Hand hatte. War es eine Sense? Ich glaub, das sollte die Bäuerin sein. Der Kommunist war in erster Linie männlich, wie unsere Regierung. Die bestand auch nur aus Männern. Wilhelm Pieck, der Präsident. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende und gleichzeitig der 1. Sekretär der Partei. Die Partei. Es gab für uns nur die eine. Dass noch ein paar andere da waren, dass die später dann Blockflöten genannt wurden, wusste ich als Erstklässlerin nicht. Kommunisten waren alle, die gut waren. Alle, die arbeiteten und für unser Wohl sorgten. Alle, die für den Frieden kämpften und uns gegen die „Bonner Ultras“ verteidigten. Ich stellte mir die Kommunisten als überirdische Wesen vor. Natürlich gut und freundlich. Alles teilend. Und immer einen exzellenten Rat auf den Lippen. Selbstverständlich wollten wir alle Friedenskämpfer sein und Kommunisten werden. Und so sagte ich – auf Nachfrage meiner ersten Lehrerin, Frau Leipold – dass meine Mutter Diplom-Kommunist wäre. Die Lehrerin konnte sich das Lachen kaum verbeißen, aber nickte mild. Ich verstand nicht, was es da zu lachen gibt. Schließlich war meine Mutti doch die Beste! Die Allerbeste, wie sie täglich nach der Arbeit berichtete. Sie war Betriebszeitungsredakteur im VEB Schwermaschinenbau Lauchhammer. Ein riesiges Werk, das heute – ich hab es nachgeprüft – dem Erdboden gleichgemacht ist. Der zweite große Betrieb – in dem die meisten Eltern arbeiteten – war die Großkokerei – frisch gebaut in Lauchhammer. Wir Lauchhammer-Kinder lernten früh, dass die Arbeiter und Forscher und Friedenskämpfer der Großkokerei eine Großtat vollbracht hatten. Sie ertüftelten, wie man aus Braunkohle Koks herstellen kann. Was vordem nur aus Steinkohle ging, die wir in der DDR nicht hatten. Koks brauchte die Republik, um besser zu werden und irgendwann die „Bonner Ultras“ wirtschaftlich einzuholen. Die Herstellung von Braunkohle zu Koks führte dazu, dass Lauchhammer das gefühlt dreckigste Nest der Republik war. Wehte der Wind aus Richtung Großkokerei, lag er einen halben Zentimeter dick auf den Fensterbrettern. Was die Hausfrauen oder die werktätigen Frauen zu besonderen Saubermachorgien anspornte. Wir Kinder trugen gern helle Kleidung und sehr gern weiße Kniestrümpfe. Zumindest am Sonntag. Und natürlich gab es einen Wettbewerb. Wer hat die saubersten Fenster zum Beispiel. Das war ein Thema in der Neustadt, die extra für die Kokerei-Arbeiter gebaut wurde, in der wir unsere erste Wohnung bezogen. Vier Zimmer, Küche, Bad. Bad mit Wanne und Toilette. Ofenheizung und kein warmes Wasser. Dahinter ein Spielplatz für die vielen Kinder, von dem ich heute noch träume (auch der ist mittlerweile plattgewalzt). Wir zogen etwas später ein, als die anderen. Ich war vier Jahre alt und fühlte mich schrecklich. Lauter neue Kinder. Meine ersten Bekanntschaften hießen Ines und Lutz. Über uns wohnte Marlit. Gegenüber eine Familie, deren Vater immer Akkordeon spielte und dazu einer Schiffermütze trug. Und ein gestreiftes Nicki, wie ein T-Shirt damals hieß. Wir feierten viele Hausgemeinschaftsfeste. Und zogen an Sylvester durchs Haus. Voran der Schifferklaviermann- und -vater. Abends riefen die Eltern oder Großeltern uns aus den Fenstern nach oben. Abendbrot! Am liebsten aß ich bei Gündels mit. Die hatten eine Küche, die der unseren in nichts ähnelte. Fett und irgendwie sehr deutsch. Anders als die meiner Oma, die böhmisch kochte oder die meines Vaters, der sich an den ersten „ausländischen“ Gerichten mit viel Paprika und Knoblauch versuchte. Bei Gündels gabs Bouletten, Mischgemüse und Kartoffeln. Oder Schmalzstullen. Während es bei uns die Scheußlichkeit von Nudeln mit einer Art Kümmel-Bolognese ohne Tomaten gab. Ich wollte bei Gündels sein. Weil dort nicht so viel über den Frieden, den Kommunismus und die Arbeit gesprochen wurde. Dort tuschelte man über die Nachbarn und dazu sang der Schifferklaviermann Seemannslieder. Zum zweiten Mal wünschte ich mir, zu jemand anderem zu gehören. Zu denen. Nicht zu meinen jungen aufstrebenden Eltern, die keine Zeit für mich hatten. Mussten sie auch nicht. Ich war in der Schule ein Selbstläufer und brav wie ein Musterkind. Dafür durfte ich zum Geburtstag zwanzig Kinder einladen. Das durfte sonst niemand. Alle wollten meine Mutter zur Mutter haben, weil sie so schön war. Tja, irgendwie will jedes Kind immer das Andere. Ich wollte die Tochter des Schifferklaviermannes sein und bei Gündels fettes Zeug essen und interessanten Klatsch und Tratsch hören. Ich fand meine Familie nicht normal. Und wollte einfach nur normal sein. Ein Wunsch, den ich noch oft haben sollte. Ok, ich hatte auch eine Freundin, deren Vater Steuerberater war. Das fand ich exotisch. Ich stellte mir vor, dass der neben dem Fahrer eines Autos sitzt und ihn beim Fahren berät. Was für ein Beruf! Was war dagegen schon Dipl.-Ingenieur oder Dipl.-Journalist. Ja, meine Mutter war Dipl.- Journalist und –Kommunist. Eine weibliche Form hatten wir nur bei Berufen, die von Männern nicht ausgeübt wurden, wie Kindergärtnerin oder Krankenschwester. – Irgendwann zogen wir weiter. Damit meine ich unsere Familie. Ich hatte zwischenzeitlich noch eine kleine Schwester bekommen. Und als ich die dritte Klasse in Lauchhammer beendete, war unser Ziel mal wieder – Leipzig. Mein Vater hatte ein neues Arbeitsangebot.

Foto: Meine Mutter und mein Vater in den Fünfzigern in Lauchhammer-Neustadt.