Einmal Westen ohne Wiederkehr. Teil Zwei. Familie Gläser wird integriert.

Wie ging es weiter? Mit der „Integration“ von Familie Gläser in die Bundesrepublik Deutschland bzw. in das alliierte Westberlin? Das war so:

Klaus Renft fuhr uns nach Marienfelde, in die damalige Aufnahmestelle für Übersiedler in Berlin-Tempelhof. Dort waren fast nur Ostdeutsche und sehr sehr viele Polen. Polen, die ihr „Deutsch-Sein“ nachweisen konnten. Als wir ankamen, Peter und ich, zwei kleine Kinder, Ben und Moritz, und ein jugendlicher Robert, hielt man uns vermutlich an der Pforte für Polen. Wir müssen etwas bunter gewirkt haben. Die Wächter am Eingang des „Auffanglagers“ sprachen uns in gebrochenem Deutsch an. „Sie verstehen deutsche Sprache?“ – „Ja, wir verstehen. – „Gut. Haben Ausweis?“ – „Nicht mehr. Wir sind aus Leipzig!“ – „Ach so, wir dachten aus Polen!“ – Ok, das verstand ich erst einmal nicht. Doch sollte ich es später verstehen, dann, als wir „eingegliedert“ wurden. In ein Studentenheimartiges Zimmer – zu fünft mit Doppelstockbetten – um uns herum wurde polnisch gesprochen. „Miiichai!“ – ertönte es aus dem Nebenzimmer. Robert – schon damals unser Parodist – hatte das ganz schnell drauf: „Miiichai“ – mit einem ch wie in ach. Er rief es ständig inbrünstig überall herum, so dass ich ihn schon mäßigen musste. Michail wurde oft gerufen. Und überhaupt – diese Polen. Überall waren sie. Überall waren sie die Ersten. Und erstmalig bekam ich ein Gefühl dafür, eine Deutsche zu sein.

Wir hatten es ja in der DDR nicht so mit dem Deutschsein, auch wenn das heute viele denken. Das Wort Deutschland wurde gemieden wie die Pest. Wir hatten es zwar im DDR-Namen und auch im SED-Namen, aber ansonsten kam es nicht vor. Nur als Sigmund Jähn ins Weltall geschossen wurde, las ich erstmalig wieder in den DDR-Zeitungen: „Der erste Deutsche im All“. Aha, sind wir also doch Deutsche. Wir lachten damals darüber. Ansonsten machten wir uns darüber nicht soo viel Gedanken. Wir waren DDR-Bürger, wenn auch nicht gern. Plötzlich sollten wir also anerkannt „Deutsche“ werden. Dafür mussten wir diverse Stationen durchlaufen – in diesem „Lager“. Ich zähle sie auf, den „Laufzettel“ hab ich heute noch:

Ärztlicher Dienst

Sichtungsstelle

Weisungsstelle

Bundesaufnahmestelle Berlin (Annahme des Antrages, Vorprüfung, Ausgabe des Aufnahmescheins)

Landeseinwohneramt Berlin – Meldestelle

Bundesanstalt für Arbeit

Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin

Zentrale Beratungsstelle für Aussiedler und Zuwanderer

Sonderbetreuung und Beratung für ehemalische politische Häftlinge

BVG-Freifahrtausweise

Taschengeld

Bekleidungsbeihilfe

Friedlandhilfe

Alliierte: Franzosen. Briten. Amerikaner.

Bundesverfassungsschutz

Diverse Beratungsangebote der Kirchen, Arbeiterwohlfahrt, Landesausgleichsamt Berlin etc.

Ohne einen Stempel von all diesen Stationen konnte man die Aufnahmestelle nicht verlassen. Es war ein „Run“ auf diese Institutionen, bei dem die Polen irgendwie schneller waren. Einer der Gründe für beginnende Feindseligkeiten der Ostdeutschen gegenüber den Polendeutschen, die allerdings kein Deutsch sprachen und das einfach ignorierten. Die meisten Beamten machten gegen Mittag Schluss. Dann musste man auf den nächsten Tag warten und die Nachmittage irgendwie rumbringen. Ich entschloss mich, jeden Tag um halb vier aufzustehen, nahm mir ein Buch und stellte mich gegen 4.00 Uhr an. Ich war nicht allein, aber es klappte, so dass wir nach ca. zehn Tagen „raus“ waren.

Zwei lustige Erlebnisse: Bei den Amerikanern hatten wir es mit einer älteren Dame mit polnischem Namen und breiten amerikanischem Akzent zu tun. Sie fragte meine Musikermann Peter, neben seltsamen Fragen über die Truppenstärken an der Grenze während seines damals bereits zwanzig Jahre zurückliegenden „Dienstes“ bei der Nationalen Volksarmee der DDR, folgendes: „Und Sie sind also Musiker! Spielen Sie Reggae?“ Peter verstand sie nicht. Und guckte dumm. Sie fragte etwas lauter: „Und, spielen Sie Reggae??!! (Ich flüsterte ihm zu: Ob Du Reggae spielst, sag einfach ja! Du hast doch da so einen „Katzenjammerreggae“!) – Peter aber sagte: „Nein, ich spiele keinen Reggae.“ – Die strenge Amerikanerin antwortete zufrieden: „Very good, Reggae kann ich nämlich nicht leiden!“ Sprach‘s und entließ uns wieder nach draußen.

Die zweite amüsante Begebenheit trug sich bei der Übergabe unseres sogenannten Aufnahmescheines der Bundesaufnahmestelle Berlin zu. Die Beamtin erklärte uns, dass wir diesen Schein nicht verlieren dürfen. Es sei wie eine neue Geburtsurkunde – für die ganze Familie. – Kleiner Einschub: Ich kann mich nicht erinnern, den jemals wieder gebraucht zu haben. – Aufgezählt im ominösen Aufnahmeschein waren also: Gläser, Peter, geboren in Leipzig. Gläser, Elisabeth, geboren in Leipzig, Leipzig, Robert, geboren in Leipzig, Gläser, Benjamin, geboren in Leipzig und Gläser, Moritz, geboren in Leipzig. Sie schaute noch einmal irritiert auf die Urkunde und fragte plötzlich: „Haben Sie ein Kind, das mit Nachnamen Leipzig heißt? Da steht „Leipzig, Robert“, geboren in Leipzig?“ – „Das haben Sie geschrieben, sagte ich, „war wohl bisschen viel Leipzig auf einmal…“. Wir lachten und sie änderte die Urkunde. So wurde aus „Robert Leipzig“ wieder ein „Robert Gläser“. Und wir konnten das Aufnahmelager verlassen. Ausgestattet mit etwas Geld und einer Art Zuweisung für eine Pension in Berlin-Charlottenburg. (Das ist aber eine neue Geschichte).

P.S. Ich hab noch etwas vergessen. Robert hatte, ehe wir nach Westberlin ausreisten, nagelneue Schuhe im „Exquisit“ gekauft, also in einem der DDR-Läden, in denen alles fünfmal teurer, als in normalen Läden war. Diese Schuhe – sein ganzer Stolz damals – hatte er in dem engen Doppelstockbett-Zimmer in Marienfelde in eine Plastiktüte gesteckt und an die Tür gestellt. Die Tüte hab ich aus Versehen mit den anderen Abfalltüten in den Müll gegeben. Robert rannte dem davonfahrenden Stadtreinigungsauto noch rufend und gestikulierend hinterher. Vergebens. Und er war versucht zu glauben, so wunderschöne Schuhe niemals mehr im weiteren Leben zu besitzen. – Den versehentlichen Wegwurf hat er mir mindestens ein Jahr nicht verziehen.

Als wir staatenlos waren und von Ost nach West wechselten – im Gepäck drei Kinder und drei Koffer und sonst nichts.

Nein, ich freu mich nicht! Ich möchte nicht schon wieder Geburtstag haben. Zumal mal wieder einen mit der Null. Es zählt sich so über die Jahre dahin. Früher, ja früher, da war das noch was. Wie ersehnte ich den 10. herbei. Endlich zwei Zahlen! Wie fieberte ich dem 14. entgegen. Endlich ein Personalausweis, mit dem ich in Erwachsenenfilme gehen konnte, mit meinem Freund! Wir küssten uns zwar nur und es wäre egal gewesen, was da vorn auf der Leinwand läuft. Aber so ein Personalausweis in der DDR, das war etwas vollkommen anderes als heute! Es war der AUSWEIS.

Wir vergötterten dieses blaue Ding und verglichen die Fotos und die Geburtsstädte. Ich hatte Leipzig. Nicht so toll. Meine Mutter hatte ja Rio de Janeiro. Mein Vater Lichtenstein. Dem ich gern ein „ie“ verpasst hätte, denn ohne das „ie“ war es leider nur ein Kaff in Sachsen.

Der Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik. Man musste ihn ständig bei sich tragen. So stand es drin. Und wehe, wenn man kontrolliert wurde, und das geschah in jungen Jahren oft, und man hatte ihn nicht dabei! Der Blaue war ein kleines Büchlein mit vielen Seiten, falls man mal ins Ausland wollte. Für die Stempel. Manche hatten sogar welche drin. Möglich waren nur Ungarn, Sowjetunion (auf Einladung und mit Visum), Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien. Unsere sozialistischen Bruderländer. In den Achtzigern hatten manche einen Stempel aus der Bundesrepublik Deutschland. Besuche bei großen Familienfeiern oder aber privilegierte Künstlerreisen waren vermehrt möglich.

Natürlich nicht für mich. Außer Polen und Tschechei nichts gewesen. Ich wollte ihn los sein, den Blauen. Und ich wurde ihn los. Und tauschte ihn gegen Staatenlosigkeit. Entlassen aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Für 48 Stunden. Mein Mann Peter und ich kämpften uns mit drei Kindern und drei Koffern durch die engen Kontrollgänge des „Tränenpalastes“ in der Friedrichsstraße in Berlin. Meine Freundin Anne brachte uns nach Berlin – mit dem Lada. Sie rief noch: „In 25 Jahren werde ich 60 – dann komm ich Euch besuchen!“ Dann bogen wir um eine Ecke. Die Grenzer schauten finster und kontrollierten unsere Koffer. Wir hatten nichts. Nicht einmal eine Mark. Weder Ost- noch West-Mark. Eine Westberlinerin stand hinter uns und fragte: „Ausgereist? Wo wollt Ihr hin?“ – „Bahnhof Zoo“ – sagte ich mutig.

Und war dann sehr entmutigt, als ich nach Passieren der Grenzkontrollen auf der Westseite des Bahnhofs Friedrichstraße stand. Wir alle, wir fünf, schauten dumm aus der Wäsche: Das sieht doch aus, wie im Osten! – Dreckig, Soldaten mit Hunden und – allerdings besser gekleidete S-Bahnfahrende. Ein Intershop. Intershop? Ich verstand das nicht. Die freundliche junge Frau – sehr dünn, so wollte ich auch werden – mit lässig ollen Jeans und einer ebensolchen Lederjacke – erklärte uns: „Das ist auch Osten. Aber hier dürfen nur Westberliner oder solche wie Ihr hin.“ Sie duzte uns gleich, das fand ich auch unendlich cool. Wie ich später feststellen musste und irgendwann auch hasste, duzten sich zu dieser Zeit alle in Westberlin. Ob jung, ob alt, egal, wir sind alle eine Familie in der „Stadt der Seligen.“

Jetzt aber verstand ich erst einmal nichts mehr. Wusste aber, dass am Bahnhof Zoo Klaus Jentzsch wartet. (DDR-Menschen auch als Klaus Renft bekannt.) Er wollte uns abholen. Aber wir mussten erst einmal in die S-Bahn steigen und gen Zoologischer Garten fahren. Klaus stand am Bahnsteig. Begeistert über unser Kommen. Und hatte auch gleich einen Journalisten im Schlepptau. Der sollte mich und die kleinen Kinder und die Koffer in die Wohnung von Klaus bringen, der damals beim KaDeWe um die Ecke wohnte. Peter, Robert und Klaus wollten über den Breitscheidplatz laufen. Zwischenstation Europacenter. Das mit dem Mercedesstern. Der Bahnhof Zoo war damals noch so, wie zu Zeiten von Christiane F. und ihren „Kindern vom Bahnhof Zoo“. In den Ecken saßen betrunkene Schnorrer mit Bierbüchsen, vor dem Bahnhof lagen tatsächlich Heroinspritzen. Ich war ein bisschen entsetzt. Den Westen hatte ich mir schöner vorgestellt. Robert brachte später die Nachricht des Tages. „Mutter stell‘ Dir vor, wir sind durch ein Kaufhaus (Europacenter) gelaufen, da fließt ein Fluss!!“ – Für den Fluss konnte man dann schon mal ein paar Tage staatenlos dem Ungewissen entgegenlaufen.

Es war ein 23. März – kurz vor Ostern.

Wir hatten kein Geld, keine Wohnung, keine Ahnung, was werden sollte. Aber wir hatten uns. Und wir hatten Freunde. Nach drei Tagen meldeten wir uns in der Aufnahmestelle Marienfelde in Berlin-Tempelhof. Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein neuer Ausweis – „vorläufiger, behelfsmäßiger“, wir waren jetzt Westberliner im Alliiertenstatus – war auch dabei. Ich war jung und wusste nicht, was noch alles kommt. Manchmal denke ich – Gottseidank! (Fortsetzung folgt)

Foto: Der von den DDR-Behörden ausgestellte Ausweis für die Ausreise für unseren ältesten Sohn Robert Gläser.

Der Scheiterhaufen der Kosmetik hält warm – in diesen kalten Tagen

Warum nicht mal wieder über Mode, Schönheit und so schreiben. Das lest Ihr doch immer wieder gern, liebe Leute, und nehmt gleichzeitig wohlwollend zur Kenntnis, dass ich die Abnahmemethode, die hält, was sie verspricht, immer noch nicht gefunden habe. Dass ich nicht weiß, wie man oder besser Frau das Alter aufhält oder dass ich mittlerweile froh und glücklich bin, wenn im Supermarkt ein junger Mann vor mir in die Knie geht, um etwas aufzuheben, das ich fallen ließ. Einen Euro oder so. Nicht mit Absicht natürlich. Doch noch gebe ich nicht auf. Und vor Kurzem musste es deshalb die – Nivea sein. Nivea Body Gel Q10 Anti-Cellulite. Ich hatte sie eher aus Versehen gekauft und sie entpuppte sich als Kämpferin gegen die allgegenwärtige Cellulite, gern auch Cellulitis genannt, wie Gastritis oder Hepatitis. Eine Krankheit, die entzündet. Cellulitis. Neuerdings im Zeichen des Body-Shaming Cellulite genannt, ohne diese -itis, die eine normal funktionierende Haut zur Krankheit erklärt. Dieses itis-Wort, dieses magisch-finstere Wort für alle weiblichen Wesen menschlicher Natur, die die „unschönen Dellen und Wellen – vorzugsweise an den Oberschenkeln – nicht schätzen und demzufolge bekämpfen. Leider vergebens und mit den unglaublichsten Mitteln. Cremes und Pülverchen, Ultra-Schall, Qual-Exerzitien im Fitnesscenter, Massagen und immer wieder ganz viel Wärme. Sogar in elektrisierende Anzüge schlüpft Frau. Und das Ergebnis. Bitte melden, sofort, die Damen, die mit einem der aufgezählten oder einem noch geheimen Mittel diese Haut, die wildgewordene Orangenhaut, die sich an Orangen und an uns breitmacht, wieder glättet wie einen Kinderpopo!

Die Nivea machte es ganz ordentlich. Beinahe erstaunlich. Und ich abonnierte sie bei Amazon. Monatlich. Bereits im 2. Monat sah sich Amazon nicht in der Lage, die Wundercreme zu beschaffen. Nicht lieferbar. Man bemühe sich und ich könne in der Zwischenzeit doch mal was anderes probieren. Zum Beispiel das „Kräuterhof Anti-Cellulite Gel – Zur Verbesserung der Hautkontur“. Es gab gleich zwei ziemlich vertrauenerweckende Plastikbüchsen für einen – nun ja – erschwinglichen Preis. Büchsen, wie Pferdesalben, aber links eben kein Pferd, sondern eine kopflose Lady im weißen Kleid, die ihre Beine samt einem Oberschenkel zeigte. Ich griff zu. Am nächsten Tag – ich bin prime-Kundin – erreichte mich das Gel mit dem Powerwirkstoff und einem „angenehmen Wärme-Effekt“ sowie erfrischendem Duft.

Ich dachte so, erstmal duschen, dann cremen. Und das tat ich. Ja. Die roch gut, diese Kräutercreme. Doch wie soll sie die „hässlichen Dellen und Wellen“ beseitigen und – ich spoilere keck – das tat sie auch nicht. Täte sie es, wäre auch dieses Angebot bei Amazon im nächsten Monat perdu.

Aber, und jetzt das Grand Malheur: Sie feuerte nach so ca. fünf Minuten los. Ich hatte im Bad bereits leichte Atembeschwerden, überlegte, ob das jetzt der Herzinfarkt ist, den meine Panikattacken seit Jahren herbeisehnen. Und die Pferdetinktur – oder was das auch immer war – feuerte weiter. Es nahm mir den Atem. Ich wankte ins Wohnzimmer und setzte mich auf einen Sessel, um mir mit einer romantischen Netflix-Serie die Zeit etwas abzukühlen. Es feuerte weiter und erfasste Bauch, Po und vor allem die Oberschenkel, hinten, auf denen ich ja nun saß. Ich dachte, lass es brennen, während das glückliche amerikanische Kleinstadtpaar sich im Bett wälzte. Lass es brennen, es ist ja für einen guten Zweck. Die Arme begannen ebenfalls. Die Hände gar samt Handinnenflächen. Ich googelte, ob schonmal jemand beim Cellulite Bekämpfen mit Kräutercreme das Zeitliche gesegnet habe. Google war ratlos. Ich auch. Das musst Du dann halt durchstehen, überstehen, Kopfstehen, nahestehen, verstehen, ach, ich dachte gar an stand with Ukraine, wie pietätlos! Was sind schon Dellen und Wellen, ach was sind sie schon! Was ist ein Scheiterhaufen der Schönheit gegen eine Jeanne d`Arc, die es wenigstens für eine gute Sache nicht überstand!

Aber ich. Ich überstand mal wieder. Kühlte nach ca. einer halben Stunde ab. Nur die Hände konnten lange nichts ergreifen. So ergreifend war das. Weniger ergreifend – das Ergebnis. Wie kann ich als gestandene Frau auch immer wieder glauben wollen, dass irgendeine Mischung die perfekte ist. Wie konnte ich!

Eins steht fest: Ich werde es wieder tun. So ein heißes Ding ist doch auch was Wunderbares, oder?

„So einen finden wir nie wieder!“ – zum Tod des Leipziger Ausnahme-Schlagzeugers und Perkussionisten Wolfram Dix

Wieder ist einer der ganz besonderen Menschen und Musiker von uns gegangen.

Wolfram lernte ich kennen, als Peter Cäsar Gläser die Band „Karussell“ 1983 verließ, um eine eigene Band aufzubauen. Er konzipierte mit dem umtriebigen – leider früh verstorbenen – Bassisten Bernd Herchenbach ein Projekt, das sich innerhalb kürzester Zeit zur Idee einer Superband mauserte. Peter Cäsar Gläser und Paul Dinter als Sänger und Gitarristen. Bernd Herchenbach, der so „funky ami-mäßig“ Bass spielte. Dazu der Avantgarde-Pianist Erwin Stache und – ER. Der beste Schlagzeuger, den ich bis dato erlebt hatte. Wolfram Dix.

Er trommelte so perfekt, wie er unnahbar war. Meist verstand ich nicht, was er wollte. Er warf mir höhnische Blicke zu. Und trug dazu bei, dass ich Jazz bis zum heutigen Tag einfach nicht lieben kann. Stache und Dix. Jazz-Avantgarde-Musiker. Ich wusste schnell, sie passten nicht zum bodenständigen Rock. Ich hatte Albträume von Wolfram und dem Elite-Spirit, den er in die Band brachte. Wie überhaupt die Band ein Albtraum wurde. Und selbstverständlich zusammenbrach.

Wenn Stars – gewissermaßen von oben – ein Projekt von Dauer zelebrieren sollen, bedarf es der zwei großen D: Demut und Disziplin. Beides war im Konstrukt, das sich aus der heutigen Perspektive Cäsars Rockband I nannte, nicht vorhanden. Da war keiner demütig. Am ehesten die Rocker: Peter und Paul. „Die sind alle so gut!“. Diszipliniert war auch keiner. Sie tranken alle zu viel und machten sich lustig über den Namensgeber der Band, auch auf der Bühne – sie bekämpften ihn an allen Fronten.

Es gibt zwei Aufnahmen, die beim damaligen Rundfunk der DDR in Berlin entstanden, an die ich mich erinnern kann: „Steig ein“ und „Im Bauch des Riesen“. Das Schlagzeug von Wolfram Dix: Einfach göttlich! Ich war bei den Aufnahmen dabei. So viel Streit und Profilneurosen hatte ich vordem nicht erlebt. Der Bandleader und die Produzentin waren entnervt und ziemlich bald wusste Peter, dass das nicht so weitergehen konnte. Seine Supermusiker wussten es noch ein bisschen schneller. Das Star-Projekt ging in die Knie.

Und wir gingen auf die Suche nach neuen Solisten, insbesondere nach einem Schlagzeuger, der wenigstens annähernd der Klasse eines Wolfram Dix entsprechen könnte. Und haben keinen gefunden. Uns gefiel keiner mehr. „So einen finden wir nie wieder!“, meinte Peter. Einen zweiten Wolfram Dix mussten wir uns aus dem Kopf schlagen. Er konnte nicht unser Maßstab sein.

Eines Tages schneite Peter eine Band ins Haus, vollständig und mit Anlage, was damals nicht unwichtig war. Wir haben die Band und deren Schulden übernommen. Und das Projekt Cäsars Rockband II war geboren. Die weitere Geschichte ist bekannt.

Wolfram Dix ging seinen Weg. Peter Cäsar Gläser ging einen anderen. Beide wurden älter und milder. Ich las in den autobiografischen Aufzeichnungen von Wolfram, dass er einiges bereute, was die beschriebene Bandgeschichte, insbesondere das „Betragen“ auf der Bühne, betrifft.

Wolframs und Peters Wege trafen sich musikalisch nicht mehr. Aber die Geburtsstadt Leipzig hatten sie gemeinsam. Und leider auch den Krebs. Mit dem sie 2008 zur gleichen Zeit kämpften. Peter las mir damals – sichtlich gerührt – eine E-Mail vor, in der Wolfram ihm Mut machte und von seiner eigenen Krankheit berichtete. Wolfram überstand den Krebs mit einer neuartigen Operation, die sogar in einem Film dokumentiert wurde.

In den letzten Jahren traf ich Wolfram einmal auf einer großen Geburtstagsparty und wir haben uns ganz entspannt und sogar lachend unterhalten. Wir waren auf Facebook befreundet und schrieben uns ab und an. Die wilden Jahre waren vergangen und vergeben.

Heute Nacht ist Wolfram Dix im Alter von 65 Jahren gestorben. Er hatte noch so viel vor.

Niemals Fahrstuhl fahren – wir blackouten uns – mit einem Prosit auf die Klimaerwärmung!

„Ich hab gerade von Marc Elsberg „Blackout“ gelesen. Da geht es darum, dass in ganz Europa und später auch noch in den USA der Strom ausfällt. Und zwar nicht nur für ein paar Stunden, sondern für eine unabsehbare Zeit. Man kann nicht mehr die Toilette spülen, denn es gibt kein Wasser. Man kann nicht mehr tanken, denn die Tanksäulen funktionieren nur mit Strom. Die Supermärkte schließen, weil es keinen Nachschub gibt, Licht und Kassen nicht funktionieren, die Banken schließen, weil sie kein Bargeld mehr haben. Die Krankenhäuser schließen, weil die Notstromaggregate zu Ende gehen. Die Kühe sterben, weil sie nur elektrisch gemolken werden können. Die Menschen werden in Notunterkünften untergebracht. Es gibt zentrale Essensverteilung, die aber auch nicht funktioniert. – Anarchie. Schwarzmarkt. Raub und Mord. Kommunikation funktioniert natürlich auch nicht mehr. Überleben eben. – Da hab ich mir überlegt, ob ich mir mal einen vierzehn Tage-Überlebensvorrat zulege. Und wo gibt es ein Notstromaggregat? – Ich muss sagen, das war kein unwahrscheinliches Szenario…“ – Achtung: Das schrieb ich am 9. September 2012 auf Facebook.

Und erntete wohl eher ein Lächeln. Elisabeth mal wieder! Hysterische Elisabeth. Ängstliche Elisabeth. Die, die immer Stress machen muss. Ja, machte ich. Ich kaufte damals ein Reservoir an Lebensmitteln, Kerzen und Wasserbottichen. So fünf Liter-Plastik-Gebinde bei REWE, die es noch reichlich gab. Sie wurden im Keller gebunkert, den es heute nicht mehr gibt. Komischerweise habe ich nicht – so wie heute – wahrhaftig daran gedacht, ein Notstromaggregat zu kaufen Und mit den Jahren vergaß ich beinahe, dass ich mir nach der Lektüre von Elsbergs – immerhin – Bestseller nur zu gut vorstellen konnte, wie unsere Zivilisation zusammenbricht. Dass ich mir Gedanken machte, wie tauglich ich in einer rauhen, unzivilisierten Gesellschaft sein würde. Wie ich reagierte, wenn es einen Bürgerkrieg gäbe. Sollte ich mir Waffen zulegen? Oder Bücher lesen, wie man sich selbstversorgt?

Meine Umgebung befand, dass das alles nicht wichtig wäre, für diesen Fall hat die Regierung bestimmt schon an alles gedacht. Es gäbe in Berlin-Charlottenburg alte Brunnen auf manchen Straßen. Und es gibt ein Technisches Hilfswerk, es gäbe Polizei und Feuerwehr und viele andere Helfer. Die wurden dann 2015 gebraucht, als die Göttliche Kaiserin geruhte, die Grenzen grenzenlos zu machen. Zumindest hier bei uns im gelobten Land, in dem wir gut und gerne lebten. Ein anderer Sturm kam über uns und wir hatten genug zu tun, diesen zu bewältigen.

Ich dachte nicht mehr oft an einen Blackout, nur ab und an nagte das Thema an mir. Zum Beispiel als unser damaliger Innenminister – na, wie hieß der? — er hieß Thomas de Maizière – bei einer Pressekonferenz plötzlich zu Vorräten riet. Er wollte den Bestseller-Titel zitieren, doch fiel ihm dieser nicht ein. Er hatte ihn nicht gelesen. Die Redenschreiber fabrizierten ihm den Bestseller ins Manuskript. Und er musste mal schnell „nach hinten“ den Titel erfragen. „Blackout“, Herr Innenminister, Frau Innenministerin heute! Blackout, das weiß nunmehr jeder. Das Internet ist voller Ratschläge. Die Online-Händler haben (noch) gefüllte Lager mit allem, was das stromlose Herz begehrt. Die Preise steigen und steigen. Wer jetzt noch nichts hat, sollte sich sputen. Denn: Blackout ist in aller Munde. Gern verwechselt mit einem „einfachen“ Stromausfall. Ja, ich habe mich, ohnehin seit zehn Jahren angefixt, schlau gemacht. Ein Blackout ist ein Stromausfall, der ganz Europa erfassen würde. Und nicht nur ein paar Stunden, nicht nur einen Tag, sondern viele Tage, im schlimmsten Fall sogar Wochen. Im allerschlimmsten Monate. Das Ende der Zivilisation, wie wir sie seit fast achtzig Jahren kennen.

Wir kennen keine Hungersnöte, keinen Wassermangel. Wir wissen nicht oder nicht mehr, wie es ist, im Winter in unbeheizten Wohnungen zu bibbern. Wir wissen nicht, was Hunger und Durst über einen längeren Zeitraum wirklich bedeuten. Werden die Menschen sich gegenseitig helfen? Werden sie sich bekriegen bis auf das letzte Brot oder den letzten Tropfen Wasser? Schaut man in die Geschichte, gibt es Beispiele für alles. Für beispiellose Solidarität und Hilfe. Aber auch für die wilden ungezügelten grausamen Seiten des Menschen, der zum Tier werden kann, wenn er überleben will.

Meiner Enkelin Anna habe ich eingeschärft, keinen Fahrstuhl mehr zu betreten. Für Berlin hat man ausgerechnet, dass es fünf Tage dauern würde, alle „Steckengebliebenen“ zu befreien. Wieviele das überleben, fällt nicht schwer auszurechnen. Vor ein paar Tagen fragte ich Anna, ob sie sich an mein „Gebot der Stunde“ hält. Sie antwortete mir mit dem Charme der Jugend: „Ja, Oma, ich steige in keinen Fahrstuhl mehr. Nur zu Hause!“ (Sie wohnt in einem Fahrstuhlhaus im 5. Stock) – Nun ja, kann ich verstehen. Wer steigt schon gern täglich in den fünften Stock. Ich würde vielleicht auch denken: Dieses eine Mal wird es klappen. Geht ja schnell! – Genauso schnell kann es gehen, dass der Strom ausfällt. Das wird nicht angekündigt, sagen die Blackout-Experten. Sohn Ben wiederum meint, ich sei eine unverbesserliche Misanthropin, die auf die Kapitalisten reinfällt, welche das Gerücht streuen, um, ja um auch daran zu verdienen! Nun ja, das Sozialisten-Leben ist leicht. Säuberlich eingeteilt in Gut und Böse. Ich höre mir alle Für und Wider an und bereite mich vor. Schließlich haben wir schon immer Versicherungen, die wir selten oder nie brauchen. Und das ist gut so. Ein Notstromaggregat ist eine Versicherung. Essensvorräte sind eine Versicherung. Wasserflaschen auch. Taschenlampe und Kerzen. So viel Platz muss sein. Dass die Zeiten nicht rosig sind, hat ja – vielleicht außer denen, die nur ÖRR schauen – jeder begriffen. Und selbst dort im Regierungsbeklatsch- und -begleitmedium: Das ZDF sendete kürzlich einen längeren Blackout-Beitrag, so hörte ich. Denn, was das ZDF mir zu sagen hat, weiß ich längst.

Nun harren wir der Dinge, die da kommen oder – wenn wir sehr viel Glück haben – nicht kommen. Selbst ein Ideologe, wie der Herr Habeck, hofft auf die Klimaerwärmung, die er doch sonst so erbittert bekämpft: Angst vor einem Grad mehr in 2050. Aber keine Angst vor zwanzig Grad mehr im Winter 2022. Ach, Robert, Dein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.

Ich wünsche uns , dass wir den Winter ohne schlimme Blessuren überleben. Meine Enkelin Anna interessierte sich in erster Linie dafür: Wie trifft sich die Familie beim Blackout? Das fand ich rührend. Ein Prosit also – auf die Klimaerwärmung!

Foto: Ein paar Vorräte

Kalte Winter – Kohlen und Kartoffeln – und die gute alte Stromsperre – Leben in einem untergegangenen Land

Sie klammerte sich an mich. Zitternd betraten wir das düstere Zimmer. Aus unseren Mündern kam weißer Nebel. Hinten in der Ecke brannte ein gedämpftes Licht. Vorn stand ein weißer Schrank. Rechts zwei Betten, bedeckt mit Kopfkissen und Federbett. Eiskalt. Die galt es zu erwärmen. Jeden Abend. Deshalb schlief sie mit in meinem Bett. Ich war die Große, sie die kleine Schwester. Wir lagen unter dem dicken Federbett – mit angezogenen Beinen. Ganz langsam, Stück für Stück, streckten wir sie in die Waagerechte. Wir umarmten uns wie zwei Ertrinkende. Wir froren, bis irgendwann das Federbett seine Wärme entfaltete. Ich erzählte Gruselgeschichten. Sie lauschte begierig. Sie war sieben Jahre jünger, da konnte ich noch brillieren. Meist schliefen wir schnell ein. Auf uns wartete ein kalter Morgen. In dieser Wohnung in Leipzig war alles kalt. Grundsätzlich heizten wir – im Besitz von fünf Zimmern mit Parkett und Stuck, Küche, Bad, sehr großem Flur und Gästetoilette – ein Zimmer. Mit einem Kachelofen, für den mein Vater die Kohlen aus dem Keller holte. In der Küche heizte nur meine Oma, wenn sie da war. Es stand dort ein altmodischer Mehrzweckherd. Ein Küchenofen, mit dem man Heizen, Kochen und Wasser erwärmen konnte. Mit Holz und Kohle. Einen elektrischen Boiler gab es nicht. Wasser musste auf dem Herd oder mit einem Tauchsieder erhitzt werden. Gebadet wurde einmal in der Woche. Wir hatten immerhin ein Bad, eiskalt, mit Badeofen.

Wir bestellten jedes Jahr beim Kohlenhändler unsere Kohlen oder Briketts, die in den Keller getragen wurden, je nach Laune der Kohlenmänner und dem zu erwartendem Trinkgeld, oder eben nicht, dann mussten wir sie selbst reintragen. Manche Familien stapelten die Briketts ordentlich auf, unsere Eltern nicht, die hatten dafür keine Zeit und uns muteten sie das Gottseidank nicht zu.

Wir bestellten jedes Jahr beim Gemüsehändler Kartoffeln – die wurden ebenfalls „eingekellert“. Das taten alle in der DDR, zumindest die in den Städten. Kohlen und Kartoffeln überdauerten den Winter im Keller. Beides ging gen Frühjahr zur Neige, die Kartoffeln „keimten“ in Weißlila.

Der Keller war ein wichtiger Raum in den kalten Wintern. Kohlen und Kartoffeln. Außerdem Regale mit eingekochtem Obst und Gemüse. Der Keller diente den Nicht-Kühlschrankbesitzern als Kühlmöglichkeit, wobei im Winter auch vieles auf den kalten Fensterbrettern oder in unbeheizten Zimmern aufbewahrt wurde.

Wir Kinder liebten den Winter, fuhren Schlitten, bewarfen uns mit Schneebällen und schlitterten über jede gefrorene Pfütze. Wir trugen selbstgestrickte kratzige Pullover und Trainingshosen und -jacken. Wir trugen Leibchen, an denen Strümpfe befestigt waren. Strumpfhosen gab es noch nicht. Viele hatten Skischuhe an. Glücklich, wer einen warmen Anorak besaß. Schals und Mützen wurden gestrickt. Und natürlich Handschuhe. Ich hatte bis zur Schulzeit noch einen Muff, in dem ich die Hände vor der Kälte verstecken konnte.

Höhepunkt der kalten dunklen Zeit war das hellerleuchtete Weihnachtsfest mit Gänsebraten und Geschenken. Puppen, Puppenhäuser und Eisenbahnen, wenn man Glück hatte und Eltern, die über etwas mehr Geld verfügten. Von Kindern, deren Familien sehr wenig hatten, hörte ich auch, dass es keine Geschenke gab, dass das gute Essen Weihnachten genug sein musste. Ab den Sechzigern gab es zunehmend Fernseher. Wir hatten ab 1961 einen. Wir liebten den neuen Kinoblick aus den Wohnungen. Meister Nadelöhr, Zeichentrickfilme, Professor Flimmrich und in der Woche am Nachmittag das Testprogramm. Das waren unsere Handys, während Tanten und Großmütter noch Mensch-ärgere-Dich-nicht, Dame, Mühle, Halma und Karten spielten. Mein Vater spielte einmal in der Woche mit wechelnden Partnern Schach im Arbeitszimmer.

Nach Weihnachten und einem meist mit viel Alkohol und Papphütchen gefeierten Silvester kamen noch die bitterkalten Monate Januar und Februar. Oft war es nicht möglich, Schulen ausreichend zu heizen. Ich kann mich an ein Jahr erinnern, in dem wir mehrere Wochen schulfrei hatten. Wir holten uns morgens in der Schule die Hausaufgaben ab und gingen wieder nach Hause. Wir Kinder freuten uns darüber, die Eltern nicht. Vielleicht hatten wir deshalb immer im Februar – dem Wintermonat, der einfach zu viel war – drei Wochen Winterferien.

Im Frühling freuten wir uns auf die Sonne und darauf, dass das Frieren ein Ende hatte, dass es morgens zeitig hell wurde und wir demnächst in die Badeanstalt gehen konnten. Das war unser sommerlicher Hauptaufenthaltsort. Unsere Sommer waren heiß und sonnig. In meiner Erinnerung immer. Höhepunkt: Zwei Monate Sommerferien im Juli und August. Wir vergaßen das Frieren und die Dunkelheit. Mit meiner Schwester hüpfte ich abends fröhlich und leicht bekleidet ins Bett. Die Federbetten wurden eingemottet.

Last but not least. Stromsperren waren an der Tagesordnung. Dafür hatten wir Kerzen und Taschenlampen. Wir fanden es so spannend, wie Herr Habeck es vermutlich in seinen Kinderbüchern beschreibt. Wer Gas hatte, konnte zumindest Kochen. So eine Stromsperre dauerte bisweilen Tage. Wir Kinder fanden es lustig und gespenstisch. Die Eltern nicht.

Mitte der Sechziger Jahren zog meine Familie nach Magdeburg. Mein Vater bekam eine Berufung zum Professor an der damaligen Technischen Hochschule. Wir wohnten plötzlich in einer winzigen Neubauwohnung. Mit Fahrstuhl und Müllschlucker, der nach kurzer Zeit für immer kaputt war. Erstbezug. Vier Personen in zweieinhalb Zimmern. Und es war herrlich. Hauptattraktion: Warmes Wasser „aus der Wand“. Ich konnte es kaum fassen, dass wir baden und duschen konnten, so oft wir wollten. Dass man abwaschen konnte, ohne Wasser mit dem Tauchsieder zu erwärmen. Dass eine Heizung lief, die meine Mutter dazu trieb, im Bikini durch die Wohnung zu laufen. Die Heizungen waren noch so konstruiert, dass man sie nur an- oder ausschalten konnte. Die einzige Regelmöglichkeit war, das Fenster zu öffnen. Im bitterkalten Winter. Und das taten wir zeitweise. So eine Wohnung kostete ca. 65 Mark. Den Begriff „warm“ für Miete gab es nicht. 65 Mark plus Stromkosten, die ebenso billig waren. Es war warm. In den Neubauten. Die Altbauten blieben kalt und verfielen. Die Trabantenstädte mit immergleichen „Platten“ breiteten sich in allen größeren Städten aus. Die DDR-Parteiführung hatte sich vorgenommen, das Wohnungsproblem bis 1990 zu lösen. Ab 1974 gings dann bergab. Die DDR verstaatlichte alles. Auch die Klein- und Mittelbetriebe, die es bis 1972 noch gab. Das war meiner Meinung nach einer der größten Fehler. Hinzu kam die weltwirtschaftliche Ölkrise.

Wie haben wir als Teenager diese Zeiten überstanden? Gut. Wir waren jung und verliebt. Es war eine aufregende Zeit – der Hormone und des damit verbundenen Wirrwarrs. Alles andere nahmen wir hin, wie es eben war. Wir kannten nichts anderes und arrangierten uns mit dem Mangel. Sehnsüchtig schauten wir westliche Werbung. Wer Jeans und Rollkragenpullover von „Drüben“ hatte, war der King oder die Queen.

Als wir erwachsen waren, hatten wir meist schon Kinder und geschiedene Ehen. Wohnten in selbst renovierten und sanierten Altbau-Wohnungen mit Gasheizungen, falls wir viel Energie oder das Glück hatten, Material für den Selbsteinbau irgendwo her zu organisieren oder zu tauschen. Der Run auf die Neubauwohnungen hielt bis zum Ende der DDR an. Die Westdeutschen, die dann zu uns – damals schon in Berlin – kamen, wunderten sich mir gegenüber oft, dass in den „Platten“ Arbeiter und Professoren einträchtig nebeneinander wohnten. Wir zuckten mit den Schultern. Wir waren ein Arbeiter- und Bauernstaat und die „Intelligenz“ war – bis auf wenige Ausnahmen – unser Freund. Und Schnaps gabs immer reichlich.

Vorläufiger Schlusssatz: Uns gelernte DDR-Menschen erschreckt so leicht nichts. Auch wenn wir uns an den westlichen Wohlstand gewöhnt haben und eine Generation herangewachsen ist, die das alles nicht mehr kennt. Viele haben, wie ich, das Land DDR vor dem Mauerfall verlassen oder sich ein anderes Leben auf der Straße erkämpft. Das, was jetzt kommt, haben wohl die meisten nach 1989 nicht für möglich gehalten. Deshalb berichte ich. Denn „ich komme aus der Zukunft“ (Michael Klonovsky).

Foto: Ich im erzgebirgischen Winter mit einem Muff.

Karl May und der unsterbliche Winnetou

Heute entdeckte ich auf der Website „Achse des Guten“ den Beitrag von Hubertus Knabe über Karl May und die DDR. Karl May, einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller, einer der meist übersetzten weltweit. Man schätzte in 2012 seine Auflage auf 200 Millionen, davon 100 Millionen in Deutschland.

Die Spatzen pfeifen es längst von den Dächern: Die ARD spielt ab sofort keine Winnetou-Filme mehr, was – so wird gemunkelt – auch daran liegt, dass sie die Lizenzen auslaufen ließ (Geldsparen für die „Denver-Clan“-Feten im oberen Segment?). Neuester Aufreger: Der ansonsten harmlose Familienverlag Ravensburger verlegte vier Titel zum Winnetou-Film „Der junge Häuptling“, zog diese jedoch nach Kritik von Seiten der shitstürmenden Cancel Culture zurück. Mit einer beinahe rührenden Ergebenheitsadresse. Jetzt geht ein Aufschrei – nicht nur durch die Medien, sondern durchs Land.

Mir fiel ein, dass ich im Juli vor zehn Jahren einen kleinen Text – in der Ich-Form – über den sächsischen Schriftsteller mit Hochstapel-Appeal schrieb. Ich veröffentliche den Text noch einmal, weil er passt. Die letzten Sätze fügte ich heute – nach neuer „Schieflage“ – hinzu.

Karl May

Meine Himmelfahrt kam spät. Irgendwie war auch sie – nur zweiter Klasse. Dennoch habe ich es geschafft: Aus Schund und Schande – hinein ins hehre Reich der – Edelfedern. Da wollte ich sehr gern hin. Nur was ist der Preis? Germanisten zerbrechen sich die Köpfe über mich. Und die Jungen von heute? Sie kennen mich nicht mehr. Die haben Harry oder begehren magische Ringe. Die stechen sich nicht mutwillig in den Finger! Weder in den Ring- noch sonst in einen. So ein Blutstropfen könnte ja wehtun. Die wissen nicht, wie es ist, als fünftes von vierzehn Kindern geboren zu werden. Die wissen nicht, wie es ist, wenn die Geschwister sterben, wenn ein Kind nicht einmal die Chance hat, erwachsen zu werden. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man per Geburt zu einem Platz im Souterrain verurteilt ist. Wenn man sich aus den Blättern der Melde eine Suppe kochen muss. Sich herauswinden. Mit Kraft und Erfindungsgabe. Die meine war so ausgeprägt, dass selbst Oberedelfeder Thomas Mann grummelte: „Ein gar nicht uninteressanter Scharlatan!“ Der sogar mit dem Guttenberg was gemeinsam hatte. Nämlich den Doktortitel – den falschen. Ich hatte mehr Phantasie. Er konnte es sich leisten, mit Sack und Pack und Frau und Kindern nach Amerika zu fliehen. Ich konnte das nur in Gedanken. Und ich tat es so gut, dass meine Phantasiereisen mir den ersehnten Reichtum brachten. Natürlich schrieb ich nicht einfach ins Blaue hinein. Ich studierte Landkarten und Lexika. Ein bisschen exportierte ich auch. Mich selbst. Selbstverständlich in Gedanken. Und auch dieses germanische Ritual. Das mit den Blutsbrüdern. Und eine Begrüßungsformel. Kein Deutscher verkaufte so viele Bücher wie ich. Das Kriegsbeil ist begraben. – Ach! Immer noch nicht! Die „Guten“ von heute, die das Gute der Welt gepachtet haben, befinden meine Guten als nicht gut genug. Nun denn.

Lesen Sie auch Hubertus Knabe „Winnetou oder die stille Wiederkehr der DDR“, www.achgut.com, 28.8.2022

Ich Elisabeth Koeppe – Eine vom rbb

Bei den Öffentlich-Rechtlichen muss sich etwas ändern! Wird es aber nicht, weil eine Krähe der anderen nicht die Augen aushackt. Es sei denn, ein entscheidender Dominostein stürzt und reißt alle mit sich. Das wird – noch – nicht passieren. Es hängen zu viel und hängt zu viel dran. Schon allein, dass der ÖRR die kostenlose Achteinhalb-Milliarden-Pressestelle der GrünRoten ist, wird alle im Moment mächtigen Politiker auf den Plan rufen. Das muss erhalten werden! Nur ein bisschen reformieren. Ansonsten ist doch alles prima. Ein paar Köpfe werden rollen, nicht die entscheidenden. 

Ich erwarte nichts. Es gibt zu viele, die sich in diesem System öffentlich-rechtlicher Rundfunk eingerichtet haben. Ich weiß, wovon ich rede. Weil ich auch gern eine Sicherheit in diesem System gehabt hätte. Es ist kommod und nervenschonend. Eine feste Stelle im ÖRR ergattern, ist, wie ein Beamtenverhältnis anzutreten oder aber ein Hauptgewinn im Lotto. Ein Hauptgewinn, der monatlich, aber verlässlich, ausgezahlt wird. Egal, was man tut. Auch, wenn man gar nichts tut. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein Klassensystem. Menschen erster und Menschen zweiter Klasse. Die Festen und die Freien. Die Festen sind die „Beamten“. Die Freien wiederum teilen sich in die gut Verdienenden, Moderatoren beispielsweise, in die große Masse, die tagtäglich ackernd ums Überleben kämpft, und – in die „Hungrigen“. Sie stehen zu Tausenden vor den „Anstalten“ (des öffentlichen Rechts) und verlangen Einlass. Dafür sind sie bereit, alles zu tun. Bis zum Umfallen arbeiten und alles nachplappern, was der woke Irrsinn gerate gebietet. Heutzutage auch noch Gendern bis zur Lächerlichkeit. Meist oder letztlich glauben sie es wirklich, was sie da reden und schreiben. Das Ziel: Verlässlicher Einlass und später – Festanstellung. 

Wenn man nicht gerade mit jemandem aus dem System verwandt oder verschwägert ist, ist der Weg lang und beschwerlich. Einige schaffen es, es sterben ja auch ab und an welche in den oberen Rängen bzw. sie gehen in Rente. Es werden also (zunehmend weniger) Plätze frei – für Günstlinge und Angepasste, für außerordentlich Begabte ganz ganz selten auch. Die Freien sind die Verschiebemasse, mit der man (fast) alles machen kann. Es gibt mutige Freie, begabte Freie, fleißige Freie, auffällige und unauffällige. Viele scheiden wieder aus, weil die Aussichten mies sind und flüchten sich auf Pressestellen oder in Partei-, NGO- und Verwaltungsapparate. Einige wenige gehen den Weg in die wahre Selbständigkeit. 

Woher ich das alles weiß? Ich war eine Freie. Von Oktober 1998 bis Dezember 2020. Ich habe alles erlebt. Die (Selbst)Ausbeutung. Das Netzwerken. Das Rausgeschmissenwerden bei dem einen Sender. Das wieder Neuanfangen bei einem anderen Sender. Arbeiten bis zum Umfallen für anfangs wenig, später etwas mehr Geld. Niemals so viel, wie ich wirklich verdient hätte. Ich habe geschwiegen. Ich habe gelogen. Ich habe ab und an gesagt, was ich denke. Ab und an. Ende 2020 habe ich die Reißleine gezogen, als man mir ein Angebot machte, das ich ablehnen konnte. 

Ich habe all meine Kenntnisse und Erkenntnisse zunächst beim ORB (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg) in Potsdam, später beim rbb in Berlin gesammelt. Ich befand mich im Auge des Taifuns. Der hieß erst Rosenbauer. Dann Reim. Später Schlesinger. An Rosenbauer kann ich mich kaum erinnern. Reim hatte auch ihre Günstlinge und machte sich noch rechtzeitig aus dem Staub. Schlesinger fiel mir dadurch auf, dass sie einen Rattenschwanz aus dem NDR, aus dem sie kam, hinter sich herzog. Die NDR-„Beamten“ bewarben sich bei uns und wurden eingestellt. Die Vorgänger mussten gehen oder gingen von selbst – falls der Ruhestand nah war. Schlesinger war eben – eine Intendantin. Das machen die auch beim Theater oder in der Oper so, dass die neuen Intendanten – sie haben den gleichen Namen – ihre Vertrauten mitbringen und die anderen gehen müssen.

Eine kleine Arbeitsameise, die ich war – ich schrieb täglich ein Zweiminuten-Rätsel und in der Woche ca. zehn bis fünfzehn Programmtrailer, organisierte noch alles drumherum: Preise für die Rätsel, die Moderationsanweisungen und die Produktion von alledem – bekam nichts davon mit, was Schlesinger und Co. so trieben in ihrem Elfenbeinturm. Es war das „Hochhaus“. Wir Rundfunkleute saßen im Rundfunkhaus, auch an der Masurenallee. 

Zu Belegschaftsversammlungen waren Freie nicht zugelassen. Ich habe mir im Laufe der Zeit abgewöhnt, irgendwelche Versammlungen oder Meetings, wie sie später hießen, zu besuchen, zu denen auch die Freien kommen durften. Ich wusste sehr schnell, dass ich an diesem System nichts ändern werde. Ich gehörte nicht zu den Mutigen. Zu den Kämpfern. Denn die gibt es unter den Freien. Ich hätte mich „einklagen“ können, eine Möglichkeit, die solchen Freien, wie ich eine war, noch geblieben wäre, wenn auch da nicht der rbb mit seinen Anwälten schon alle Riegel vorgeschoben hätte, die nur möglich waren, um die Mutigen, die diesen Weg gingen, es gab auch diese, einzuschüchtern und sie – im wahrsten Sinne des Wortes – fertigzumachen.

Einmal habe ich mich auf eine feste Stelle beworben. Es gibt wenig Freie, die das gern und ausschließlich wären, immer hat man die ausgeschriebenen Stellen im Blick. Die Angst, eines Tages vor die Tür gesetzt zu werden, ist groß. Und in den letzten Jahren wurde sie immer größer. Ich bewarb mich auf die Stelle „Leiterin künstlerisches Wort“. Und wurde tatsächlich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ein Insider, damals bereits in Rente, sagte zu mir, als ich ihm von dem bevorstehenden Vorstellungsgespräch erzählte: „Da haben Sie keine Chance!“ – Ich: „Wieso nicht?“ – Er: „Sie haben doch keine Lobby!“ – Ja. Ich hatte keine Lobby. 

Die Angst, vor die Tür gesetzt zu werden. Bei mir war sie in den Nuller-Jahren so groß, dass ich ständig Panikattacken hatte und mich nur noch mit Beruhigungstabletten in der Arbeit hielt. Ich habe diese Zeit ohne jegliche Krankschreibung unter Aufbietung all meiner Kräfte überstanden. Ich ging jede Woche zu einem Psychotherapeuten. Das Ergebnis: Existenzangst. Pure Existenzangst. Freie sind nicht frei. Sie haben Existenzangst. Und das zurecht.

Dass ich es dann schaffte, noch weitere fünfzehn Jahre in diesem System als Freie zu bestehen, war kein Glück. Das war Arbeit. Sehr viel harte Arbeit.

Ich erzähle das, weil es mich ärgert, dass jetzt der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Ganzes schlecht gemacht wird. Der ÖRR ist kein Gebilde. Der ÖRR ist nicht Schlesinger oder Buhrow. Der ÖRR – das sind Menschen. Zweierlei Menschen. Die Hälfte sind Verwaltungs- und Managerbeamte. Ein kleiner Teil der Festangestellten ist auch in den Redaktionen tätig. Da gibt es – wie überall Fleißige und (sehr) Faule – weil sie es können. Aber der größte Teil, der Teil, der das Programm macht, sind die Freien. Würden sie für schätzungsweise einen Monat alle, und ich meine ALLE, nicht mehr zur Verfügung stehen, wäre das gesamte Gebilde Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk lahmgelegt. Programmlich. Es würde zumindest nichts Neues entstehen und auch die Moderatoren wären alle weg. Denn auch sie sind allesamt Freie. Wie ich schon sagte: Es gibt solche und solche. Auch bei den Freien. Auch da ein Klassensystem. Man kann sich auch in dieser Sparte hochdienen. Allerdings immer mit der nagenden Angst, vom Sockel gestürzt zu werden. Eine Angst, die produktiv oder aber eben angepasst macht. In den letzten Jahren eher das Zweitere. Jeder muss seine Miete und seine Brötchen bezahlen. So ist das eben.

An dieser Stelle beende ich meine Plauderei „aus dem Nähkästchen“. Ich wollte nur das „System“ erklären. Gottseidank nunmehr aus der Außensicht mit Innenkenntnis. Wäre ich noch eine Freie, hätte ich das hier nicht geschrieben bzw. veröffentlicht. Die Frage, warum nicht, erübrigt sich. Lesen Sie noch einmal von vorn.

Geburtstage – Peter Cäsar Gläser zum 73.

Wenn er Geburtstag hatte, war immer irgendwie „die Luft raus“ so nach den „Feiertagen“ – deshalb hatten wir beschlossen, dass wir stets das Prinzip einhalten, niemanden am 7. Januar einzuladen. Wer dran denkt, kommt, wer nicht, eben nicht.

Einmal saßen wir mit all dem Essen und dem Wein da und es war schon um neun Uhr Abends. „Es hat wirklich keiner daran gedacht“, sagte er. Ja, und es klang traurig. – „Es wird schon noch irgend jemand kommen“ – antwortete ich, hatte aber auch langsam meine Zweifel. Kurz darauf ging die Tür auf, wir hatten ja immer eine offene Tür, und die ersten Gäste standen da. Ich weiß nicht mehr, wer das war, nur noch, dass es einer der größten Geburtstage wurde, die „uneingeladen“ passierten. Heute wäre er 73 geworden. 

Peter „Cäsar“ Gläser – 7.1.1949 – 23.10.2008. Es würde ihm gefallen, wenn heute viele an ihn denken. Denn ohne die „Vielen“ fühlte er sich nie richtig wohl…

Foto um 1984

Weihnachten in Familie

Den Weihnachtsmann hab ich nie gesehen. Ich hörte ihn immer nur klopfen. Vermutlich klopfte mein Vater heftig an die Küchentür, scharrte mit den Füßen und dann ging er. Der Weihnachtsmann. So sollte ich glauben. Ich aber machte mir Gedanken, wie er hineinkommen ist. Nur kurz. Denn jetzt kam die Bescherung! Für die wir unsere Sonntagssachen anzogen. Ja, in meiner Kindheit gab es diese besondere Kleidung, die den Sonntagen vorbehalten blieb.

Ich vertrieb mir den ellenlangen Heiligabend-Tag meist mit Fernsehen. Es gab – natürlich im DDR-Fernsehen – die extralange Sendung mit Meister Nadelöhr, dem Briefträger und dem Schneemann. Sie unterhielten sich meist über irgend etwas, was ich nicht so gern sah. Aber Filme! Es gab vorzugsweise Trickfilme. Am liebsten sah ich Zeichentrickfilme. Die waren am seltensten. Weniger gern Puppentrickfilme, die waren mir zu langsam. Noch weniger gern Scherenschnittfilme, die waren mir zu schwarz-weiß und oft auch irgendwie gruselig. Dennoch freute ich mich jedes Jahr auf diesen langen Nachmittag in der „Schneiderstube“. So viel Zeichentrick war sonst das ganze Jahr nicht.

Gegen 17.00 Uhr beendete meine Mutter diese Weihnachtsvorfreude mit dem Ruf: Bescherung! Dann legte sie noch schnell die Schallplatte mit dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach auf und wir durften „rein“ – ins „Arbeitszimmer“, dort fand die Bescherung statt, während meine Mutter das Weihnachtsoratorium enthusiastisch dirigierte.

Geschenke, an die ich mich erinnere, waren ein Puppenhaus mit Beleuchtung und Möbeln. Und natürlich Puppen. Ein Kaufmannsladen mit Kasse und kleinen Waschmittelpaketen. Immer wieder viele Kinderbücher und – zu dieser Zeit nicht so beliebt – Pullover, Hosen, Kleider oder Schals und Mützen. Das schönste Geschenk meiner Kinderzeit waren ungefähr fünfzehn (alte) Puppen, für die meine Großmutter neue Kleidung genäht hatte. Kleider, Röcke, Blusen, Mäntel, Mützchen und Unterwäsche. Sie saßen alle nebeneinander auf dem Schrank und warteten auf mich. Unvergesslich schön! – Später wollte ich selbst Kleider, Röcke, Mäntel, Mützen und Unterwäsche. Und Bücher, Bücher, Bücher.

Lesen war schon als Kind meine Lieblingsbeschäftigung und ist es bis heute geblieben. Was wir am Heiligabend gegessen haben, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall setzte sich mein Vater immer schnell in die Küche ab und saß vor dem Ofen und beobachtete die Gans und später die Pute mit „siebenerlei“ Fleisch, von dem zu Schwärmen meine Mutter nicht müde wurde. Sie war ja auch unser liebstes DDR-Propagandaopfer. Denn Puten sollten wir lieben, weil Gänse knapp waren, zu dieser Zeit. Die Pute also – gab es erst am nächsten Tag. Mir hat so eine DDR-Pute nie sonderlich geschmeckt. Und als ich erwachsen war, wechselte ich wieder zu Gans oder Ente.

Tradition war es bis zu Corona, dass sich die ganze Familie zu Weihnachten – entweder bei mir oder meiner Schwester – trifft. Oft kamen noch Freunde hinzu und Freunde der Kinder. So ist es schon passiert, dass wir um die fünfzig Weihnachtsfeierer waren. In diesem Jahr sind wir Corona-Menschen, die sich zur Heiligen Nacht an verschiedenen Orten versammeln. Ich bleibe, wo ich bin und hoffe auf andere Zeiten.

Zurück zu den Zeiten des ahnungslosen Glücks: Gestritten haben wir nie – obwohl wir eine sehr diskussionsfreudige Familie sind. Einmal – das war noch in Leipzig – brachte meine Mutter ihren neuen Mann mit. Peter und ich schauten in der Küche in die Röhre nach der Gans und sie fiel heraus – aus dem Ofen – auf den Teppich. Wir hatten ein paar Tage zuvor die komische Idee, in der Küche einen Teppich auszulegen. Den konnten wir nach diesem Fettsturz entsorgen. Der Neue war total verblüfft, dass wir alle nur lachten. In seiner Familie wäre so etwas der Beginn eines schrecklichen Abends gewesen, meinte er. Außer, dass ein Schwibbogen abbrannte, kann ich mich an nichts Schreckliches erinnern. Und denke gern an all die Weihnachtsfeste und besonders auch an die, die nicht mehr unter uns sind. Ich hoffe, dass spätestens 2022 wieder ein Fest meiner Familie wird. Wenn es – nach Datenlage – auch ein irrationaler Wunsch ist…