Schöner Frieden in der DDR

Ich war ein Kind der Fünfziger und Sechziger Jahre. In der DDR. Also ein Nachkriegskind. Und so war der Frieden bei uns – neben dem Kommunismus, später „nur noch“ Sozialismus – das höchste Gut. Alles war mit Frieden verbunden. Wir sangen im Kindergarten und in der Schule  „Kleine Weiße Friedenstaube“, wir vergötterten all die Friedenskämpfer, zu denen – angefangen bei Karl Marx und Friedrich Engels und selbstverständlich Wladimir Iljitsch Lenin – Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, anfangs auch noch Mao Tse-tung, Nikita Chruschtschow sowie alle Parteivorsitzenden und Präsidenten aller anderen sozialistischen Länder, die kommunistischen Widerstandskämpfer der Nazizeit und natürlich alle Parteimitglieder unserer Sozialistischen Einheitspartei gehörten. Auch wir Kinder waren Friedenskämpfer, wie unsere Eltern und Lehrer. Wir waren der Friedensstaat schlechthin. Wir Kinder malten Friedenstauben, schnitten sie aus und klebten sie massenhaft auf Wandzeitungen. Wie auf diesem Bild aus dem Fotoband „Olle DDR – Eine Welt von gestern“. Der beste Foto-Essay-Band über die DDR bis heute, der zu Beginn der Neunziger im Henschel Verlag erschien. Auf dem Foto von Volker Döring sehen wir einen Jungen, der vor einem Waschbecken steht. Als Handtuchmöglichkeit hängt daneben eine Rolle Klopapier. Ich denke, dass das kein Klo, sondern eher ein Klassen- oder anderer Aufenthaltsraum war. Denn die Toiletten in Schulen waren unbeschreiblich verkommen und noch weniger fotogen, als alles andere, mit dem wir so lebten. Sehr erheitert hat mich das kleine Plakat über dem Waschbecken: „Frieden ist schön“. Heute komisch und irgendwie unbeholfen. Damals normal. Wir lebten mit der Dauerbeschwörung des Friedens zu jeder Zeit und an jedem Ort. Und wenn es über einem Waschbecken war. Man kann sich vorstellen, wie es an Häuserwänden und -mauern aussah. So viel Frieden – als Aufforderung – war nie wieder. Und wir Kinder lernten täglich: Die DDR ist der Hort des Friedens. Natürlich immer bedroht von den „Bonner Ultras“, den Kriegstreibern, vorzugsweise aus dem abgeteilten Feindesstaat BRD. Unsere Nationale Volksarmee beschützte uns vor ihnen. Darauf war Verlass. Und als wir 1961 eine Mauer bauten, um vor „denen“ beschützt zu sein und unseren – selbstverständlich friedlichen – Sozialismus aufbauen zu können, fanden wir Kinder das vollkommen in Ordnung. Wir waren die „Junge Garde“ des Staates und nannten uns „Pioniere“. Und wenn die Jungs später zur Armee eingezogen wurden, standen sie selbstverständlich auf Friedenswacht. Die Fünfziger- und die Sechziger-Jahre waren für uns eine Zeit der Hoffnung. Nicht nur auf den Frieden. Denn den hatten wir ja schon. Er musste nur täglich „beschützt“ werden. Unsere Hoffnung, an die wir glaubten, war der Kommunismus. Wir hatten vage Vorstellungen. Es sollte ein Paradies werden. Ich stellte mir vor, dass man in einen Laden geht und sich nimmt, was man so haben möchte. Später hieß es dann, etwas beschwichtigend, was man braucht. Denn Geld sollte es nicht mehr geben. Alle Menschen wären glücklich. Und in unseren Darstellungen beschäftigten sie sich entweder mit unseren Fahnensymbolen „Hammer, Zirkel, Ährenkranz“ oder sie tanzten glücklich im Sonnenschein. Ich stellte sie mir als lichtvolle Gestalten vor, Fähnchen schwenkend, wie am 1. Mai. Alle würden eine schöne Wohnung mit Heizung und warmem Wasser haben und vielleicht – irgendwann – ein Auto. Und im Sommer fährt die ganze Familie ans Meer. Viel mehr Phantasie hatte ich nicht. Eine Vorstellung vom vollkommenen Glück zu haben, fällt mir noch heute schwer. Auf jeden Fall hätte ich richtige Handtücher neben unseren Schul-Waschbecken gewollt. Das Glück ohne Ende gab’s am Ende dann nicht. Wie bei allen sozialistischen Experimenten.

Nachtrag: Das Foto von Volker Döring ist von 1986 (!!) – Bildunterschrift: 10. Oberschule „Hermann Matern“ Berlin-Prenzlauer Berg. Tja, da hat sich wohl bis zum Ende der DDR nicht sehr viel geändert.

Quelle: „Olle DDR – Eine Welt von gestern“ – Christoph Dieckmann (Autor), Friedrich Schorlemmer (Nachwort), Volker Döring (Fotograf), Joachim Donath (Fotograf), Rolf Zöllner (Fotograf) – mit freundlicher Genehmigung des Fotografen Volker Döring. Danke!

Ich bin ein Buddha.

Ich sitze. Und wo ich sitze, sitze ich. Ich steh nicht so schnell wieder auf. Der sitzende Zustand ist der meine. Sitzen und nachdenken. Sitzen und schreiben. Sitzen und sich unterhalten. Sitzen und lesen. Sitzen und essen.

Im Sitzen kann man fast alles machen. Hab ich zu viel getrunken, schlafe ich auch im Sitzen, mit dem Kopf auf der Tastatur. (Ist schon lange nicht mehr vorgekommen, denn ich trinke ja (fast) keinen Alkohol (mehr)). Als ich in die 1. Klasse kam, hatte ich sofort zwei Lieblingsfächer, die das noch lange bleiben sollten. Sport und Zeichnen, wie Kunsterziehung damals hieß.

Sport also: Ich habe unter dem Beifall der Mitschüler 50 Liegestütze gemacht, wenn es sein musste, auch noch mit jemandem auf dem Rücken. Ich kletterte wie ein kleiner Affe kratzige Seile nach oben und ich rannte – meinen Mitschülern davon – bis ich in eine Spezial-Sportklasse delegiert wurde. Damals empfand ich große Befriedigung bei anstrengendem „Kreistraining“ an jedem Nachmittag und die Wochenenden gehörten diversen Wettkämpfen. Ich schaffte es unter die ersten Zehn (Mädchen) im Ranking, das damals noch nicht so hieß, der 12jährigen 60-Meter-Sprinterinnen und stand damit sogar im damaligen „Sport-Echo“ der DDR.

Unglücklich verliebt war ich auch. In Peter. Der das nicht einmal registrierte, in jedem Diktat eine Fünf schrieb, aber der Allerschnellste war, schneller als ich. Wir haben nie ein Wort miteinander gesprochen, obwohl wir in die gleiche Klasse gingen. Leider wuchs ich nicht mehr weiter, bei 1.60 war Schluss, so dass irgendwann langbeinige Gazellen mühelos an mir vorüberzogen.

Ich sattelte auf 800 Meter um, später auf 3000. Jeden Abend nach dem Training schlich ich müde nach Hause und ging gleich ins Bett. Gottseidank machte ich die Schule irgendwie mit links. Trotzdem fragte meine Mutter eines Tages, ob das jetzt immer so weiter gehen wird. Ich dachte schon lange: Da gibt es doch noch was Anderes? Zum Beispiel – diese interessanten Jungen. Sie waren nicht unter den Sportlern, die richtig interessanten und irgendwie bösen Buben waren woanders. Im Park oder auf Kinderspielplätzen an der Tischtennisplatte oder auf den zentralen Plätzen der Stadt. – Kurzum, ich wollte nicht mehr so hart trainieren, gab noch ein kurzes Gastspiel in einem Ruderclub, um meine Sportlaufbahn dann mit 14 Jahren zu beenden.

Seitdem meide ich Sport in allen Varianten. Ich weiß nicht, wie man Sport mögen kann. Es ist so anstrengend! Ist der Mensch nicht sein Leben lang damit beschäftigt, sich das Leben leichter zu machen? All diese Erfindungen – Heizung, Waschmaschine, Auto, auch Fahrrad – machen das Leben leichter. Warum soll ich in ein Fitnesscenter gehen und mich quälen? Diese Gedanken quälen mich gerade. Denn noch – bin ich ein Buddha.  Denken ist niemals anstrengend.

Mauervorsprünge oder was ich einmal werden wollte.

Schauspielerin werden. Das wollte ich. Als ich acht Jahre alt war. Und Mitglied einer Laienspielgruppe. Mit der ich „Kreismeister“ wurde. Genau genommen wurde unsere Laienspielgruppe Kreismeister im Kreis Senftenberg beim Wettbewerb der Laienspielgruppen. Senftenberg war die nahe Kreisstadt und Cottbus die etwas entferntere Bezirksstadt.

Beide liegen heute im Land Brandenburg – in der Niederlausitz. Wir spielten ein Vögel-Stück. Ich war die Frau Spatz und schimpfte sehr viel mit meinem Spatzen-Mann. Mehr weiß ich nicht mehr, nur, dass wir Spatzenkostüme hatten und Kulissen, die wir selbst aus Pappe bauten.

Es kam die Bezirksmeisterschaft, bei der wir mit unserem Spatzenvögel-Stück weit hinten landeten. Ich war außer mir. Und erzählte – wieder zu Hause in Lauchhammer – meiner Mutter empört von den Machenschaften der Jury, die uns nicht zum Meister gekürt hatte. Meine Mutter meinte, dass vielleicht doch die Anderen…. irgendwie besser…gewesen sein könnten. „Aber die haben nicht so einen Mauervorsprung wie wir!“ entgegnete ich. Vorüber meine Eltern noch jahrelang lachten. Dieser Papp-Mauervorsprung, den wir tagelang bemalt und zusammengebaut hatten, war unser ganzer Stolz.

Nach der Cottbuser Niederlage probten wir kein neues Stück, ich vermute, die Laienspielgruppe ging wegen Mangels an Erfolg ein. Ich auch – in meinen schauspielerischen Bestrebungen. Ich bekam ein Gefühl dafür, wie sehr man sich blamieren kann. Dies frisch erblühte Schamgefühl verengte mir den Mund – so dass ich kaum noch ein Gedicht vor der Klasse deklamieren konnte. Schauspielkarriere ad acta gelegt. Ich wollte Kriminalist werden.

Die Lehrer fragten im Jahresabstand nach unseren Berufswünschen. Sie wurden notiert. Warum auch immer. Und mussten laut geäußert werden. Ich sagte ab sofort: Ich will Kriminalist werden. Wir wurden als Mädchen damals noch Lehrer, Koch oder – Verkäuferin. Diese durfte weiblich sein, weil es kaum Männer gab, die den Verkäufer-Berufswunsch hegten. Einige Jahre sagte ich also stets: Ich möchte Kriminalist werden. Worauf ein Großteil der Klasse – von Jahr zu Jahr mehr – laut lachte. So dass ich mich – nachdem ich meinen Chemielehrer verehrte – auf „Ich möchte Chemiker“ werden verlegte.

Der Chemielehrer war streng. Besonders, wenn ich lackierte Fingernägel hatte, die ich der Klasse zeigen musste, um deren gemeinschaftliche Missbilligung zu empfangen. „Was sagt denn Deine Mutter dazu?“ – fragte der Chemielehrer. „Meine Mutter meint, davon bekommt man keinen schlechteren Charakter!“ – antwortete ich frei phantasierend. Ich dachte, das könnte sie gesagt haben, trug sie doch stets lackierte Fingernägel. Worauf er den Kopf wiegte und meinte: „Ja, da könnte Deine Mutter recht haben.“ Er ließ mich ab sofort in Ruhe. Und ich behielt auch meine Eins in Chemie. In der neunten Klasse wechselte ich an die Erweiterte Oberschule (Gymnasium). Der neue Klassenlehrer war der neue Chemielehrer. Ein netter Kerl, aber Chemie hat er mir gründlich verleidet.

Was also werden? Ich wusste es nicht mehr. Irgendwas mit – Schreiben? Ich unterließ es standhaft, Berufswünsche laut zu äußern. Und weil das so blieb, studierte ich nach dem Abitur – aus Verzweiflung und Ratlosigkeit – Philosophie. Hinter diesen Abschnitt meines Lebens setze ich einen winzig kleinen – Mauervorsprung.

Mein Aufstieg auf den Kalvarienberg Graz oder warum ich den Katholizismus liebe

Ganz oben hängt er. Ganz in Gold. Hängt am Kreuz. Vorher trug er das Kreuz. Es war seine Passion. Sein Leiden. Keine Leidenschaft. Oder doch? Ich steige mit meiner Freundin Frieda auf den Kalvarienberg in Graz. Gehe mit ihr den steinigen Passionsweg. Ich leide mehr an geschwollenen Füßen, denn an den Leiden des Herrn. Fotografiere all die Skulpturen, all die Kunstwerke, die der Glauben über die Jahrhunderte hervorgebracht hat. All diese katholische Herrlichkeit, die Österreich mir jedes Jahr zu Füßen legt. Diese Pracht und diese bunte Sinnlichkeit faszinieren mich immer aufs Neue.

Ich denke an Dali, der Stunden vor seinem Tod noch zum Katholizismus übertrat und ich weiß, warum. Man weiß ja nie… Selbst Darwin schrieb: „… dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist.“ Und dann weiter: „Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Ja, an allem ist zu zweifeln. Auch das. Auf beiden Seiten. Nicht mehr zweifeln muss ich an meiner Leidenschaft für Jesus. Als Kind wurde ich mit Jesusbildern und -erzählungen gefüttert. Es gab da eine Konkurrenz zwischen meiner katholischen Oma und meinem evangelischen Onkel Karl. Immer, wenn ich mit meiner Oma Onkel Karl besuchen musste, zog er mich sofort in sein Arbeitszimmer, um mir von IHM zu erzählen. Und nicht nur das! Er zeigte ihn mir. In schrecklichen schwarz-weißen Bildern. Ich hab mich nie wohl gefühlt – in protestantischen Kirchen. Sie erregten ein Grauen in mir. Denn sie waren düster, karg und vor allem streng. Besonders gern zeigte mir Onkel Karl Johannes den Täufer, wie er in seinem Blute – nur noch als Kopf – in einer Schüssel schwamm. Und er schaute mich irgendwie triumphierend an und ich dachte: Warum? Warum, Onkel Karl, zeigst Du mir das?

Er hatte dann meist ein Einsehen und tröstete mich mit bunten Bildchen aus der evangelischen Christenlehre. Ja, diesen Kinderjesus war ich bereit zu lieben. Er lief übers Wasser, hatte goldene Haare und einen großartigen Heiligenschein. Er strich den Menschen über ihre gebeugten Häupter, machte sie gesund und fütterte sie mit seinen unendlichen Vorräten. Und versprach ihnen eine Welt in Frieden und Glück. Dann, wenn er wiederkomme. Dass er zwischenzeitlich ans Kreuz geschlagen ward, auferstanden und gen Himmel zum Vater gefahren, wusste ich natürlich.

Und so endeten meine Besuche im Erzgebirge immer damit, dass ich mit vollem Kopf und Herzen und mit dem Zug nach Hause fuhr zu meinen Eltern, die eine andere Zukunft für mich vorgesehen hatten. Ich hatte Onkel Karl ja gefragt, bevor ich nach Hause fuhr: Kommt Jesus auch zu mir, dann, wenn er wiederkommt? Ja, er kommt auch zu Dir! – wusste Onkel Karl und schaute mir tief in die Augen. Auch meine Oma bestätigte das. Ich sah meinen hübschen Jesus vor mir, mit langen blonden Haaren und einem weißen Wallegewand. Ich sah ihn, wie er plötzlich in Lauchhammer – in der sozialistischen Braunkohle- und Schwermaschinenbaustadt der Niederlausitz, in der wir damals wohnten – auf unserem Spielplatz im Sandkasten steht und zu mir sagt: Hier bin ich! Dazu Musik! Eine sphärische Musik. Glück pur! Ich vergaß Mutter und Vater, die am Bahnhof standen, um mich aus diesem Traum abzuholen.

Abends erzählte ich meinem Vater, dem atheistischen Professor in spe, von meinem Jesus. Dass er dereinst kommen werde. Zu uns allen. Und dass das doch wunderbar sei. Quatsch, sagte mein Vater, alles Quatsch! Er zog ein Buch aus dem Arbeitszimmerschrank, in dem Menschenaffen waren. Und begann, meine Welt zu zerstören. Lange Zeit konnte ich ihm das nicht verzeihen.

Gott sei Dank – wir werden irgendwann erwachsen und können selbst entscheiden. Vielleicht hätte mein Vater alt genug werden müssen, um vielleicht wie Dali… wer weiß! – Ich laufe den Grazer Kalvarienberg hinauf. Oben steht das Kreuz. ER hängt am Kreuz. Das machen nur die Katholiken. Ihren Jesus derartig üppig zu vergolden. Onkel Karl hätte die Augen niedergeschlagen und irgendwas in seinen Bart gemurmelt – von Verschwendung oder so. Vor dem Goldjesus stehen drei Gestalten: Eine schaut heuchlerisch. Es ist seltsamerweise der Johannes. Eine schaut desinteressiert. Das ist Maria, die Gottesmutter. Eine – die in der Mitte – weint aufrichtig und bitterlich: Maria Magdalena. Die Tochter aus gutem Hause. Keine Brave. Keine, die tat, was man von ihr verlangte. Andere Gedanken haben, kann verrückt sein. Verrückt machen. Sündig. Sündig und besessen. So hieß es, sie sei eine Sünderin. Eine Verrückte. Bis Jesus kam und die Verrückte wieder in die Mitte verrückte. Und so folgte sie ihm bis in den Tod. Und wird die erste sein, die ihn sieht an diesem Sonntagmorgen der Auferstehung. Noch weint sie. Sie weint die einzig wahren Tränen in dieser Goldjesus-Szenerie. Und weiß noch nicht, dass alles gut wird. Das hilft sogar mir, den Glauben nicht zu verlieren. Danke Graz, danke Frieda, danke Kalvarienberg. Das ist der Zauber des Katholizismus. Er ist sinnlich und deshalb liebe ich ihn. (Ja, Frieda, ich kenne auch die Schattenseiten)

Foto: Grazer Kalvarienberg – Quelle Wikipedia wolf32at – eigenes Werk.

Es wagte jemand, ohne Maulkorb einkaufen zu gehen.

Heute in der Kaufhalle. Hier in Magdeburg sagt man immer noch Kaufhalle, wie in der DDR. Es wagte jemand, ohne Maulkorb einkaufen zu gehen. Es regte sich natürlich auch jemand auf. Und dann setzten ein paar andere, die auch Maulkörbe trugen, zur Verteidigung des revolutionären Freigesichtes ein – mit Worten, die ich hier nicht wiederholen kann. Dieser Freigeist hier in der Stadt gefällt mir sehr gut. Nicht aggressiv, aber sehr bestimmt. Ich selbst war nur mit Tuch im Gesicht mal schnell hineingehuscht, wegen einer Flasche Wasser, als ich dieser Szene beiwohnen durfte. Dann fiel mir ein, dass ich auch schon ganz schön Corona bin:
Ich bin so – Corona. Erstens werde ich jeden Tag dicker. Zweitens habe ich absurde Geschäftsideen. Drittens geh ich fast nicht mehr einkaufen, weil ich Maulkörbe schon immer verabscheut habe. Viertens höre ich sentimentale oder aber aggressive Musik. Fünftens denke ich an „mein Schaukelpferd zurück“ – war ein Karat-Zitat, wer es nicht weiß, ist eine Band aus der DDR, die es heute noch gibt – vielleicht ist das wacklige Schaukelpferd Symbol für ein verlässliches Auf- und Ab aus alten Tagen, das wir im Moment vermissen. Sechstens frage ich seit Tagen alle, die ich kenne, ob jemand jemanden kennt, oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der coronisiert ist. Coroni sollen die Obolusse (so verlangt es der Duden, ich hätte sie ja gern Oboli passend zu Coroni genannt) der Superreichen heißen, die bluten sollen für, ja wofür eigentlich… ich las das auf Twitter bei einer stark bewegten Linken. Linke sind immer wieder für ihre neuen alten Ideen gut. – Nun ja, last not least die glorreiche Sieben: Ich lese zum dritten Mal „Die Pest“ von Albert Camus. Dieses Mal unter vollkommen anderem Blickwinkel. Coronisiert gewissermaßen. Und selbstverständlich ganz und gar existentialistisch.

Otto Mellies – in diesem Moment war er ein ganz normaler Mensch

Otto Mellies. Er war in meiner Kinderzeit DER Fernseh- und auch Filmschauspieler in der DDR. Auch ein begnadeter Theater-Tragöde. Besonders durch „Dr. Schlüter“, ein Fernsehfilm in mehreren Teilen. Wie er in seiner Biografie schreibt, wurde er von Taxifahrern mit „Bitte, Herr Doktor“ ins Taxi gebeten. Der Brinkmann-Effekt. Nur, dass Dr. Schlüter natürlich viel politischer war. Und so war Mellies auch das, was ich einen Staatsschauspieler nennen würde. Aber dennoch ein sehr guter Schauspieler. Ich habe – wie schon gesagt – seine Biografie gelesen, die ich sehr interessant fand. Sie weckte viele Kindheitserinnerungen. Andererseits blieb er auch ein bisschen im Nebulösen. Er gab nicht alles von sich preis, was ich ihm nicht übel nehme, es ist nicht jedermanns Sache, die großen Gefühle in die Welt zu schleudern, wenn sie nicht gespielt sind. Vor ein paar Jahren stand er vor meinem Studio im Rundfunkhaus in Berlin, da, wo ich meist arbeite. Er sollte etwas einsprechen. Und ich hatte so einen kleinen Stich in der Brust, weil er sich mir vorstellte, obwohl ich genau wusste, wer er ist. Das hat mich gerührt und auch ein wenig aufgewühlt. Weil er in diesem Moment ein ganz normaler Mensch war. Und ich hatte ihn sehr sehr gern und er hat mir ein Stück Kindheit und Jugend wieder gegeben. Er war im Alter meiner Eltern. Nun ist er von uns gegangen. Und ich bin traurig.

Die nach Schweiß riechende Frau Kornedt. Puh, wenn ich von der Schule nach Hause kam, roch die ganze Wohnung nach ihr.

Ach, DDR. Ist ja neuerdings so ein Sehnsuchtsort.  Die Sozialisten, die Vergemeinschafter, scheinen auf dem Vormarsch zu sein. Doch waren wir so vorbildlich sozialistisch, wie es die Erzählung gern hätte? Wir – das waren die supersozialistischen Eltern, mit denen ich gestraft war. Wir, das waren die, die denen vorangingen, die sich heute immer noch – gemästet vom gern und glühend geschmähten Kapitalismus – darin gefallen, ihren Ast, auf dem sie es sich mittlerweile so gemütlich gemacht haben, abzusägen. Denn die Sozialisten/Kommunisten haben wohl kapiert, dass sie sich’s in ihm, dem Kapitalismus, gemütlich machen können. Seine Vorteile ausnutzen und gleichzeitig dieses Wirtschaftsmodell für die eigenen Fehler verantwortlich machen. Was kann es Schöneres geben! – Da fällt mir Frau Lösche ein, unsere super Haushaltshilfe, die alles konnte und alles richtete, die sogar Weihnachtsschmuck in der Wohnung anbrachte, ohne darum gebeten zu werden. Wir hatten immerhin in Lauchhammer – dieser proletarischen Braunkohle-Klein- und Industriestadt – eine Haushaltshilfe, damit die Mutter sich selbstverwirklichen konnte. So toll und omnipotent, wie sie sich gern darstellte, war sie dann auch nicht. Ich blende das immer aus, dass wir ständig Haushaltshilfen hatten. Die nach Schweiß riechende Frau Kornedt. Puh, wenn ich von der Schule nach Hause kam, roch die ganze Wohnung nach ihr. Da wüsste ich gern, wie die Eltern solche Leute kennengelernt haben. Sicher war das über irgendwelche Beziehungen. Und niemanden kann man mehr fragen. Schade, dass Tante E. auch langsam durchdreht und man ihr nicht glauben kann. Was man auch bei dieser Suche nach der richtigen Zeitung von den Weltfestspielen Anfang der Fünfziger sieht. Sie bildet sich ein, auf dem Titelblatt gewesen zu sein. Aber wenn man nachforscht, was ich ja getan habe, gibt es dieses Titelbild nicht. So kann man sich seine Vergangenheit zurechtlügen und glaubt am Ende selbst dran. Ich bin da sicher auch nicht frei davon. Und wer weiß, was von dem stimmt, was unsere Mutter so erzählt hat. Wenn ich angestrengt nachdenke, fällt mir nicht viel ein. Dass sie mal mit verpasstem Start Kreismeisterin im Schwimmen vom Kreis Aue war. Aue, eine Stadt in Sachsen, eine der Stationen auf dem langen Weg zur Oma. Von Lauchhammer nach Johanngeorgenstadt, meine beschwerliche Reise, als ich 8 bis 12 war. Bin ich da allein gefahren? Leider weiß ich es nicht mehr und kann keinen mehr fragen. Alle sind tot, die es wissen könnten. Alle sind tot. Auch meine Kinder und Enkel irgendwann. So ist das Leben, es ist eine grausame Angelegenheit oder der Tod ist gar nicht schlimm. Vielleicht ist er doch eine Offenbarung. Oder das Licht geht aus. Und alles ist vorbei. Man spürt nichts mehr, man merkt nichts mehr. Alles umsonst gewesen, all die Aufregung, all die Liebe, all das Sorgen, alles umsonst. 

Könnten Sie uns mit zwanzig Mark aushelfen?

Geld borgen. Das haben wir ja alle schon irgendwie mal gemacht. Und wenn es in jungen Jahren war, als wir noch nicht wussten, was das bedeutet. Meine Familie war für DDR-Verhältnisse wahrscheinlich – zumindest für die anderen – reich. Mein Vater war Professor, meine Mutter Journalistin bei der einzigen großen Zeitung unseres „Bezirkes“, wie die kleinen „Bundesländer“ in der DDR hießen. Eine Parallelstraße weiter wohnte eine der Familien, die mit dem Haushaltsgeld nicht klar kam. Es war nicht viel, das, was man als normale Arbeiterfamilie verdiente. Zumal, wenn man vier, fünf Kinder hatte, was in der DDR meiner Zeit nicht unnormal war. Zwanzig Mark Kindergeld. Das war es, was es an Unterstützung neben subventionierten Grundnahrungsmitteln und unvorstellbar niedrigen Mieten gab. Aber es reichte nicht. So gab es eine Familie, wie sie uns ausfindig gemacht hatten, weiß ich nicht, die jeden Monat die unglückliche Tochter zu uns schickten, um zwanzig Mark zu borgen. Sie stand regelmäßig vor unserer Tür und sagte immer den gleichen Satz: „Könnten Sie uns mit zwanzig Mark „aushelfen“?“ Natürlich konnten wir das. Und wir taten es. Und regelmäßig brachte das Mädchen die zwanzig Mark monatlich zurück. Mein Vater legte diese zwanzig Mark dann schon an der Eingangstür ab. Damit sie immer griffbereit waren. Ich sagte dann eines Tages: „Lieber Papa, wollen wir ihnen diese zwanzig Mark nicht einfach schenken? Dann muss dieses Mädchen sich nicht Monat für Monat vor uns erniedrigen.“ –  Er meinte: Ja, das könnten wir machen. Aber es würde bedeuten, dass sie die nächsten zwanzig Mark borgen will, glaub mir. Es ginge immer so weiter. – Also tauschten wir den Zwanzigmarkschein Monat für Monat. Sie kam, bettelte, wir gaben und empfingen. Ein Ende hatte das Ganze, als wir weggezogen sind. Komisch, dass ich diese Geschichte nie vergessen habe. Obwohl es sich Ende der Sechziger Jahre abspielte…

Anna – die Einkaufslehrerin gibt Ihrer Großmutter gute Ratschläge

Immer wieder lehrreich: Der Enkelinnen-Großmutter-Disput.
Das Anna-Elisabeth-Universum: Wir machen einen Weihnachtseinkaufsbummel. Ich: Du hast doch immer so gute Ideen! Was könnte ich für eine Freundin kaufen, die so im – naja mittleren Alter – ist? Anna: Vielleicht eine Heizdecke? Und ein Paar schöne Hausschuhe? Oder was tolles Kosmetisches von Babor. Ich: Haha, da kommt Freude auf – bei der Heizdecke! Was ist denn Babor? Anna: Eine Heizdecke ist mega cool zum Entspannen oder wenn man krank ist. Warte, ich zeig Dir eine. Ich: Ich glaube, wenn du mir eine Heizdecke schenken würdest, würde ich schreien! Anna: Wieso? Ich: Ist doch was für Omas! Anna: Na, dann vielleicht eine Powerbank, damit sie unterwegs ihr Handy laden kann oder eine Bluetooth Box zum Musikhören. Oder eine Juwelkerze. Ich: Das ist mir alles zu riskant. Wat für ne Kerze?

Letzte email Peter Gläser an Elisabeth Koeppe-Gläser

18. April 2008

Liebe Elsch,

nochmals vielen Dank für euren Besuch in Leipzig. Ich habe mich wirklich riesig gefreut. Dass der Abend so turbulent zugehen würde, war mir völlig klar. Ein richtiger Gläserabend im klassischen Stil. Da kracht es halt immer wieder mal. Jeder gegen jeden, vor allem auf die Mutter. Wäre der Abend anders verlaufen, wäre ich wahrscheinlich enttäuscht gewesen. Ich hoffe, auf der Rückfahrt wurde es dann langsam stiller.

Stand der Dinge:

Ich fühle mich wie nach einem Atomkrieg. Völlig erledigt und schlapp. Die letzten Tage in der Klinik hatte ich mir noch ordentliche Verbrennungen am Hals zugezogen. Nun bin ich schon zwei Wochen entlassen. Der Blutspiegel spielt verrückt, zum Glück aber nicht so, dass ich wieder in die Klinik muss. Ich habe immer mal zu wenig weiße Blutkörperchen. Die sind aber für den Heilungsvorgang wichtig, weil sie die Antikörper bilden, die sich dann auf Entzündungen etc. stürzen. Aber die ersten Erfolge stellen sich ein… Also ist der Körper schon wieder in der Lage, sich selbst zu reparieren. Nur meine Schleimhautentzündung hält sich hartnäckig. Dass sich das hinziehen wird, wurde mir schon angekündigt, also auch grüner Bereich. So lange muss ich mich aber noch über die Magensonde ernähren, denn schlucken kann ich nicht. Inzwischen meldet sich schon ab und zu sogar meine Stimmhaftigkeit zurück. Die körperlichen Kräfte waren gleich Null. Die einfachsten Sachen sind wie Schwerstarbeit. Ich schaffe gerade mal ein bis zwei Hunderunden am Tag. Aber weil die Hundeviecher so dankbar sind, das macht’s am Ende wieder leichter. Also, die Lebensgeister heben schon ab und zu den Finger und ermutigen mich zu neuen Taten.

Was ist mit Moritz?

Also macht euch keine größeren Sorgen. Es ist wohl normal, dass man nach der Therapie so durchhängt. Aber es geht bergauf. (…) Seid alle ganz lieb gegrüßt (…)

Dein Peter.

Gestern vor elf Jahren hat er den „Kampf“ aufgegeben.

Peter Cäsar Gläser      7.1.1949 – 23.10.2008

Foto: Peter Cäsar Gläser ca. 1985