Nach einem größeren Husten…

Was ich nicht mehr mache: Zug fahren. Das Haus des Rundfunks in Berlin aufsuchen. Rauchen. Joggen. Warenhäuser durchstreifen. Salate essen. Fingernägel kauen oder lackieren. Ins Kino gehen. In Ausstellungen gehen. In Konzerte gehen. Ins Theater gehen. Öffentlich-Rechtliches Fernsehen schauen. – Gehen? Draußen? Bin ich von dieser Welt? – Also gehen schon, deshalb das, was ich immer noch mache: Kopfkino hoch zehn. Schminken, auch wenn ich den Müll rausbringe. Eine Maske ist eine Maske ist eine Maske ist eine Unterwerfung. Übers Gewicht nachdenken. Ernährungspläne studieren und aufs Tapet heben, aber nicht durchhalten. Zu viel Sekt trinken. Online-Kaufen. Telefonieren, Nachrichten tippen und lesen. YouTube-Videos schauen. Alternativ Netflix oder amazon prime. Texte im Kopf wälzen. Tagebuch schreiben. Kriminalromane kiloweise lesen. Bisweilen sogenannte gute Literatur versuchen. Mich fürchten. Jeden Tag ein Sportprogramm absolvieren – wollen. Fürchten und Barmen. Mir zu große Sachen kaufen. Um mich besser zu fühlen. Klappt nicht. Mich mit meinen alten Schulfreundinnen treffen. Meine Kinder über alles lieben. Gut für die Seele. Das Vergangene ist nicht nur ein Gespenst. Das Vergangene ist Trost. Mich besser fühlen. Dramakönigin – DIE Aufgabe für den harten Winter.

Endstation 30. November – mein letztes Rätsel auf rbbKultur.

Traurige Zeiten. Draußen ist es düster und kalt. – Ok, heute scheint die Sonne. Auch ein Zeichen. Es ist still. Coronastill. Sogar am vermeintlich helllichten Tag. Ich werde noch fünf Rätsel schreiben, dann verabschiede ich mich vom Rundfunk Berlin Brandenburg. Von meinem langjährigen Haussender rbbKultur, wie er sich seit vergangenem Jahr nennt. Ein Sender, in dem es Entwicklungen gibt, denen ich nicht mehr einfach zuschauen kann. Deshalb ziehe ich eher die Reißleine, als gedacht und geplant. Am 30. November läuft mein letztes Rätsel. Und ich werde frei sein. Befreit von Menschen, mit denen ich nicht mehr arbeiten kann und will, befreit von Unterwerfung, befreit für Neues.

Ich bin traurig und glücklich zugleich – es waren immerhin 17 Jahre. Seltsamerweise auf den Tag genau. Nicht, dass ich so etwas in meinem – nunmehr schon ziemlich langen Leben – nicht schon einmal erlebt hätte. Immer ist da diese Träne im Knopfloch. Zu neuesten Vorschlägen der rbbKultur-Leitung, mein Rätsel als amputierte Version zu senden, sage ich NEIN.

Und ja – es amüsiert mich mehr, als es mich verzweifeln lässt. – Ich schau nach vorn. Wie ich es immer getan habe. Ich kann schreiben. Ich weiß, dass ich das gut kann. Dieses Bewusstsein gibt mir die Kraft, eine andere Zukunft anzusteuern, in diesen traurigen und dunklen Zeiten. In diesen ganz und gar un-rosigen Zeiten. Das Tal wird durchschritten. Jedes Ende ist ein Anfang. Halleluja!

Manfred Krug und eine Jugend in der DDR

Unser Manfred Krug. Der Schauspieler und Sänger, der sowohl in der DDR, als auch später im „Westen“ berühmt war und geliebt wurde. Am 21. Oktober 2016 ist er viel zu früh gestorben und mich würde interessieren, ob er heute, in diesen wahnsinnigen Zeiten, ein serviler „Staatskünstler“ wäre, oder ob er den Mut hätte, eine eigene Meinung zu haben.

Damals – vor vier Jahren – schrieb ich darüber, was er uns in unserer Jugend bedeutete. In Bezug auf seine Musik. Aber das war nicht alles. Er war auch ein wunderbarer Schauspieler, der in so vielen Filmen spielte, dass man sie gar nicht aufzählen kann. Er erinnerte mich seltsamerweise immer an meinen Vater, ich weiß nicht, warum. Ein bisschen das Aussehen, die Körpersprache, aber auch der Widerstandsgeist. – Hier jedenfalls das, was ich schrieb, als er starb, im Oktober 2016:

„Das war nur ein Moment“. Eine LP von „Amiga“, wie das Anfang der Siebziger hieß. Und dann „Ein Hauch von Frühling“, auch so eine LP, auch von Amiga, dem einzigen Popmusiklabel der DDR. Und beide besungen von unserem Schauspieler-Superhelden Manfred Krug. Er war männlich und er war schlagfertig und ein wunderbarer, einfühlsamer Sänger dazu. Diese beiden Langspielplatten ganz lange und immer wieder laufen lassen und auf dem Teppich liegen, träumen und mit den Beinen strampeln. Jugend konnte auch in der DDR wundervoll sein. Danke, Manfred Krug!

Mein Vater

Er wäre heute 90 Jahre alt geworden. Ich hätte ihm das zugetraut, hatte er doch beispielsweise mit Mitte vierzig außer einer Plombe – wie das damals hieß – noch vollständig erhaltene Zähne ohne Fehl und Tadel.

Er war gesund, intelligent und karrierebewusst. So war er einer der jüngsten Professoren der DDR – mit 36 Jahren wurde er ordentlicher Professor an der damaligen Technischen Hochschule Magdeburg, heute Universität Magdeburg. Immerhin nicht in einem Geschwätzfach, sondern in einem Fach, das heute zu MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gehört. Er beschäftigte sich schon früh mit Kybernetik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sein Wunsch war, im Alter ein großes Buch über die Geschichte der Technik zu schreiben. Auch war er – wie ich – philosophisch interessiert, also kein Fachidiot.

Er entstammte einer Arbeiterfamilie, wie man so gern in der DDR schrieb, wenn es um einen gehätschelten Funktionär ging. Einer Arbeiterfamilie anzugehören, war sozialistischer Adel. Ich vermute, heute ist das nicht mehr so, aber das ist ein andres Kapitel. Mein Vater entstammte also einer Arbeiterfamilie, wobei man munkelt, dass sein Vater – den ich nicht mehr kennengelernt habe – schon an einem Schreibtisch saß. War er ein Funktionär der Arbeiterpartei, der mein Vater mit 16 Jahren beitrat? Der Kommunistischen Partei Deutschlands, die dann mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Osten bzw. der Sowjetisch Besetzten Zone fusionierte? Das kann ich leider nicht mehr eruieren. Egal: Sein Vater und auch mein Vater waren Mitglied der Partei, die immer recht hatte, im späteren Experimentiergebiet der Sozialisten, das sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Und mein Vater machte alles richtig. So heißt das heute, wenn man „oben“ landet, ohne vorher gewusst zu haben, dass man „alles richtig“ macht.

Kleine Episode am Rande: Mein Vater war wohl zeitlebens darüber glücklich, eine so schöne Frau erobert zu haben. Meine Mutter. Deren Eltern eher bürgerlich-konservativ orientiert waren. Als meine Oma, die Mutter meiner Mutter, erstmalig zur Vorstellung in der anderen Familie, der meines Vaters antrat (die Kinder „mussten“ heiraten, denn meine Mutter war schwanger), ging sie in der engen Wohnung der Eltern meines Vaters noch einmal aufs Klo, um sich frisch zu machen. Für den großen Auftritt. Ein Bad gab es nicht, es war also ungewohnt eng dort. Die Legende geht so, dass meine Oma mit Hut und Handtasche, wie sie nun einmal immer offiziell auftrat, in die Arbeiterwohnküche schritt, aber ihren Rock aus Versehen mit dem Schlüpfer verbandelt hatte, so dass die Beine frei waren. Meine Mutter eilte wie der Blitz herbei und riss den Rock aus dem Schlüpfer. Die verblüffte Familie meines Vaters schaute diskret und verzog keine Miene. Immerhin.


Ich weiß nicht, ob mein Vater ein guter Vater war. Doch ich will es gern glauben. Auf jeden Fall habe Ich ihn mehr geliebt, als meine Mutter. Obwohl er mich fast täglich kritisierte. Was mich vermutlich zu Höchstleistungen anspornte. Ich sollte auch Professorin werden und war auf dem besten Weg dahin, als ich während meines Philosophiestudiums plötzlich den Glauben an die sozialistische Idee verlor – oder hatte ich erstmalig selbständig gedacht? Und das war gar nicht gut, in den Augen meiner Eltern. Als ich zwangsweise exmatrikuliert wurde an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig, versuchte mein Vater, das zu verhindern, indem er beim Rektor vorsprach, ohne dass ich das wusste. Ich erfuhr es erst später. Er hielt, nachdem ich mit meiner Mutter heillos verstritten war, heimlich den Kontakt zu mir. Und als er mit 46 Jahren starb, durch einen Autounfall – brach für mich eine Welt zusammen. Mindestens ein Jahr lang litt ich unter ständigen Heulanfällen und ich wollte es einfach nicht akzeptieren, dass er nicht mehr da war.

Heute bin ich viel älter, als er war, als er starb. Ich denke darüber nach, wie ich ihn wohl heute fände, wie ich ihn als Person einordnen würde. Ob ich ihn immer noch für so superschlau halten würde, wie damals. Wie gern führte ich noch einmal ein Gespräch mit ihm. Ein Gespräch auf Augenhöhe mit meinem heutigen Verstand und der langen Lebenserfahrung. Ich bin jetzt zwanzig Jahre älter als er. Schon seltsam.

Foto: Passbild meines Vaters – kurz vor seinem Tod.

Meiner Großmutter Eleonore Jaeger – genannt Laurie – zum 125. Geburtstag

Meine Oma. Sie war die gute Oma. Die Oma Jaeger. Ich hatte auch die böse Oma. Oma Pfeifer. Die gute Oma war die Mutter meiner Mutter. In den ersten Lebensjahren meine tägliche Begleiterin. Von ihr lernte ich das Sprechen. Von ihr lernte ich, was im Leben wichtig ist. Noch heute fällt mir bei fast jedem Ereignis ein Spruch meiner Oma ein. Noch heute träume ich von ihr.

Oma Jaeger war aus Böhmen. Aus dem Wald. Ihr Vater war Analphabet und Köhler. Ihre Mutter bekam Kinder. Es waren 17. Denn in Böhmen war man katholisch. Verhütung gab es nicht. Meine Oma sowie ihre ältere Schwester Emilie und ein Bruder wurden erwachsen. Die anderen 14 Kinder starben. In verschiedenen Lebensaltern. Der älteste der gestorbenen Geschwister wurde 12. Die Mutter war immer schwanger und starb mit Mitte vierzig. Meine Oma musste – ehe sie morgens zur Schule ging – zeitig aufstehen und klöppeln. Das Geld, das der Vater verdiente, reichte nicht. Sie wollte Lehrerin werden. Doch das ging nicht. Obwohl sie in der Dorfschule nur Einsen hatte und die Lehrerin sie bei ihrem Vorhaben unterstützte. Der Vater entschied, dass sie mit vierzehn die Schule beenden und arbeiten müsse.

Sie lernte den Beruf einer Schneiderin und brachte es bis in die Stadt Wien, wo sie sehr lange Hausangestellte bei „Herrn Hahn“ war. Herr Hahn – eine feste Größe in ihrem und in meinem Kinderkopf. Herr Hahn sagte nur wichtige Dinge und war entweder der Guru oder der Geliebte meiner Oma. Das lässt sich heute nicht mehr feststellen. Herr Hahn lehrte sie offenbar alles, was ein Mädel aus dem Hinterwald von ihren Eltern nicht beigebracht bekommen hatte: Etikette, Beredsamkeit, Ehre, Moral für den Großstadtgebrauch. Und natürlich alles, was ein Wiener Haushalt der Mittelschicht so erforderte. Herr Hahn war einiges älter als meine Oma. Und als er starb, erbte sie sein Vermögen. Er hatte keine Verwandten oder bedachte diese nicht. Auch das verliert sich im Dunkel der Geschichte.

Wo meine Oma ihren Hallodri-Ehemann kennenlernte, weiß ich nicht. Er war ein „Geschiedener“ – damals etwas anrüchig. Und hatte – neben der geschiedenen Ehefrau, eine Tochter. Er war kein Österreicher. Und stammte aus dem Harz, aus Osterwieck in Sachsen-Anhalt, dem Bundesland, in dem ich heute wohne. Meine Oma war mittlerweile ein „spätes Mädchen“, ein ziemlich spätes Mädchen. Und er fünf Jahre jünger.

Oma und Opa – damals ein verrücktes Liebespaar – beschlossen, mit Omas Erbe nach Brasilien auszuwandern. Gesagt, getan. Erste Station war Hamburg. Der Hafen Hamburg. Mit dem Postdampfer „Antonio“ wollten sie die Überfahrt ins Ungewisse wagen. Doch man wollte Oma nicht mitfahren lassen. Sie war nicht verheiratet. Und nur verheiratete Frauen durften an Bord. Doch war der Hafen auf die Situation meiner unverheirateten Großeltern in spe eingestellt. Es gab dort ein Standesamt, auf dem die beiden eine Turbo-Eheschließung absolvierten. Trauzeugen waren zwei Kellner aus dem Hafenrestaurant. Dann gings los – in Richtung Rio de Janeiro. Ich habe heute noch Postkarten vom Schiffsinneren und Speisekarten. Sie hatten die 3. Klasse/Kammern und Wohndeck. Dennoch – diese Speisekarten waren nicht schlecht. Da frag ich mich, was es in der 1. Klasse gab.

Ich will es nicht in die Länge ziehen. Sie sind angekommen. Und haben sich ein Leben und ein Geschäft in Rio de Janeiro aufgebaut. Meine Mutter ist dort geboren. Nur eine Anekdote, um das Wesen meiner Oma und das meines Opas zu illustrieren:

Kaum waren sie angekommen, ging mein Opa auf Zimmersuche. Am Abend kam er zurück in die Absteige, in der beide wohnten und rief: Ich habe ein wunderbares Zimmer für uns gemietet – mit Klavierbenutzung. 80 Dollar! – Ob für eine Woche oder pro Monat, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall – laut meiner Oma – zu viel. Sie fragte: Spielst Du Klavier? Er: Nein. – Sie fragte weiter: Spiele ich Klavier? Er: Nein. – Sie: Dann geh sofort dorthin zurück und mach den Mietvertrag wieder rückgängig. Das tat er dann auch.

Meine Oma war die, die alles zusammenhielt. Die Vernünftige. Er war impulsiv, aber nicht faul und auch nicht vollkommen unvernünftig. Er hatte später eine Buchhandlung. Sie eine Schneiderei.

Und er war eifersüchtig. Traf er sich abends mit Freunden zum „Trinken“, spannte er vor der Wohnungstür Bindfäden, die er beim Heimkommen kontrollierte.

Meine Oma wollte immer eine „feine Frau“ sein, sie hielt sich sehr gerade und trug immer Hut und Handtasche, wenn es wichtig war. Er starb mit 54 an Krebs und sie mit 70 an einer Lungenembolie.

Leider war ich war zu jung, um das zu erfahren, was ich heute fragen würde.

Foto: Meine Großeltern in Rio de Janeiro. Links die beiden sind es.

Meine Mutter war Diplom-Kommunist und ich liebte den Schifferklaviermann – Traumfamilien 2

In der DDR stand im Klassenbuch, was die Eltern für Berufe haben. Bei mir lange Zeit Diplom-Ingenieur – mein Vater. Diplom-Journalist – meine Mutter. Wir wurden ständig nach den Berufen unserer Eltern gefragt. Warum das so wichtig war? Gut war es, zur herrschenden Arbeiterklasse zu gehören. Wir waren ein Arbeiter- und Bauernstaat. Wir hatten eine Diktatur des Proletariats. Aber das lernte ich erst später. Meine Eltern nannten sich Kommunisten. Ein gewaltiges Wort. Der Kommunist war der neue Mensch, den wir bewunderten. Er begegnete uns auf Plakaten und im Lesebuch. Meist war es ein Arbeiter mit kräftigen Armen und einem Hammer in der Hand. Oder er drehte an großen Rädern herum. Dazu eine Frau, die auch irgendetwas in der Hand hatte. War es eine Sense? Ich glaub, das sollte die Bäuerin sein. Der Kommunist war in erster Linie männlich, wie unsere Regierung. Die bestand auch nur aus Männern. Wilhelm Pieck, der Präsident. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende und gleichzeitig der 1. Sekretär der Partei. Die Partei. Es gab für uns nur die eine. Dass noch ein paar andere da waren, dass die später dann Blockflöten genannt wurden, wusste ich als Erstklässlerin nicht. Kommunisten waren alle, die gut waren. Alle, die arbeiteten und für unser Wohl sorgten. Alle, die für den Frieden kämpften und uns gegen die „Bonner Ultras“ verteidigten. Ich stellte mir die Kommunisten als überirdische Wesen vor. Gut und freundlich. Alles teilend. Und immer einen exzellenten Rat auf den Lippen. Natürlich wollten wir alle Friedenskämpfer sein und Kommunisten werden. Und so sagte ich – auf Nachfrage meiner ersten Lehrerin, Frau Leipold – dass meine Mutter Diplom-Kommunist wäre. Die Lehrerin konnte sich das Lachen kaum verbeißen, aber nickte mild. Ich verstand nicht, was es da zu lachen gibt. Schließlich war meine Mutti doch die Beste. Die Allerbeste, wie sie täglich nach der Arbeit berichtete. Sie war Betriebszeitungsredakteur im VEB Schwermaschinenbau Lauchhammer. Ein riesiges Werk, das heute – ich hab es nachgeprüft – dem Erdboden gleichgemacht ist. Der zweite große Betrieb – in dem die meisten Eltern arbeiteten – war die Großkokerei. Wir Lauchhammer-Kinder lernten früh, dass die Arbeiter und Forscher und Friedenskämpfer der Großkokerei eine Großtat vollbracht hatten. Sie ertüftelten, wie man aus Braunkohle Koks herstellen kann. Was vordem nur aus Steinkohle ging, die wir in der DDR nicht hatten. Koks brauchte die Republik, um besser zu werden und irgendwann die „Bonner Ultras“ wirtschaftlich einzuholen. Die Herstellung von Braunkohle zu Koks führte dazu, dass Lauchhammer das gefühlt dreckigste Nest der Republik war. Wehte der Wind aus Richtung Großkokerei, lag er einen halben Zentimeter dick auf den Fensterbrettern. Was die Hausfrauen oder die werktätigen Frauen zu besonderen Saubermachorgien anspornte. Wir Kinder trugen immer helle Kleidung und sehr gern weiße Kniestrümpfe. Und natürlich – der Wettbewerb. Wer hat die saubersten Fenster, ein Thema in der Neustadt, die extra für die Kokerei-Arbeiter gebaut wurde, in der wir unsere erste Wohnung bezogen. Vier Zimmer, Küche, Bad. Bad mit Wanne und Toilette. Ofenheizung und kein warmes Wasser. Dahinter ein Spielplatz für die vielen Kinder, von dem ich heute noch träume (auch der ist mittlerweile plattgewalzt). Wir zogen etwas später ein, als die anderen. Ich war vier Jahre alt und fühlte mich schrecklich. Lauter neue Kinder. Meine ersten Bekanntschaften hießen Ines und Lutz. Über uns wohnte Marlit. Gegenüber eine Familie, deren Vater immer Akkordeon spielte und dazu einer Schiffermütze trug. Und ein gestreiftes Nicki, wie ein T-Shirt damals hieß. Wir feierten viele Hausgemeinschaftsfeste. Und zogen an Sylvester durchs Haus. Voran der Schifferklaviermann- und -vater. Abends riefen die Eltern oder Großeltern uns aus den Fenstern nach oben. Abendbrot! Am liebsten aß ich bei Gündels mit. Die hatten eine Küche, die der unseren in nichts ähnelte. Fett und irgendwie sehr deutsch. Anders als die meiner Oma, die böhmisch kochte oder die meines Vaters, der sich an den ersten „ausländischen“ Gerichten mit viel Paprika und Knoblauch versuchte. Bei Gündels gabs Bouletten, Mischgemüse und Kartoffeln. Oder Schmalzstullen. Während es bei uns die Scheußlichkeit von Nudeln mit einer Art Kümmel-Bolognese ohne Tomaten gab. Ich wollte bei Gündels sein. Weil dort nicht so viel über den Frieden, den Kommunismus und die Arbeit gesprochen wurde. Dort tuschelte man über die Nachbarn und dazu sang der Schifferklaviermann Seemannslieder. Zum zweiten Mal wünschte ich mir, zu jemand anderem zu gehören. Zu denen. Nicht zu meinen jungen aufstrebenden Eltern, die keine Zeit für mich hatten. Mussten sie auch nicht. Ich war in der Schule ein Selbstläufer und brav wie ein Musterkind. Dafür durfte ich zum Geburtstag zwanzig Kinder einladen. Das durfte sonst niemand. Alle wollten meine Mutter zur Mutter haben, weil sie so schön war. Tja, irgendwie will jedes Kind immer das Andere. Ich wollte die Tochter des Schifferklaviermannes sein und bei Gündels fettes Zeug essen und interessanten Klatsch und Tratsch hören. Ich fand meine Familie nicht normal. Und wollte einfach nur normal sein. Ein Wunsch, den ich noch oft haben sollte. Ok, ich hatte auch eine Freundin, deren Vater Steuerberater war. Das fand ich exotisch. Ich stellte mir vor, dass der neben dem Fahrer eines Autos sitzt und ihn beim Fahren berät. Was für ein Beruf! Was war dagegen schon Dipl.-Ingenieur oder Dipl.-Journalist. Ja, meine Mutter war Dipl.- Journalist und –Kommunist. Eine weibliche Form hatten wir nur bei Berufen, die von Männern nicht ausgeübt wurden, wie Kindergärtnerin oder Krankenschwester. – Irgendwann zogen wir weiter. Ich hatte zwischenzeitlich noch eine kleine Schwester bekommen. Und als ich die dritte Klasse in Lauchhammer beendete, war unser Ziel mal wieder – Leipzig. Mein Vater hatte ein neues Jobangebot.

Foto: Feierbild in Lauchhammer – Sylvester, deshalb die seltsamen Hüte – „Hausgemeinschaft“ Werner-Seelenbinder-Str. 5 – meine Mutter ist die Zweite von links.

Aus meinem sporadischen Tagebuch – Eintrag vom 23. Juli 2018 – eine Woche vor meinem Umzug nach Magdeburg

Sitzen und schlängeln zwischen Kisten und Kasten. Überall Überflüssiges, von dem ich mich irgendwie nicht trennen kann. Ich hasse es, dass ich so aufheberisch bin. Ich entzerre große in einander gekettete Schnurkonvolute und weiß am Ende, da brauch ich nichts davon. Oder doch? Großer Topf – wegschmeißen? Hab ich den jemals benutzt? Oder vielleicht am Ende neu kaufen? Unmengen von Tellern, die keiner will. „Die waren mal teuer!“ Man, Umziehen ist echt kein Zuckerschlecken. Umziehen ist die Hölle. Ist ja nicht das erste Mal. Aber dieses Mal erscheint es mir wie die Strafe für meinen jahrelangen Kaufrausch. Da sind Klamotten dabei, die kenne ich gar nicht, die haben noch ein Preisschild. Da sind Akten von vor hundert Jahren. Die Rentenbescheide von Peter Gläser. Und die Arbeitsamtsunterlagen von kurz nach unserer Ausreise. Wie war ich dünn damals. Seh ich am Passbild von der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Und dazu hunderttausend Duschbäder, Mascara, Lippenstifte und so Zeug. Parfüme – gefühlt 80. Kann man das alles wegschmeißen? Werfe ich gerade fünfzehn Jahre Leben weg? Ja. Das tue ich.

Absprung macht jung!

Ich hasse Sport. Ich sagte es bereits in anderen Beiträgen. Aber es soll ja so gesund sein. Und wenn man alt wird, dann schaut man schon nach Gesundheitsthemen oder liest gar die Rentner-Bravo (Apotheken Umschau), nein die lese ich konsequent nicht. Aber ich hab ein Trampolin. Auf dem vollführe ich – wenn ich keine Ausrede habe – seltsame Übungen. Nur aushaltbar mit Netflix – zur Zeit sehe ich „Dark“, die erste deutsche Serie bei Netflix. Dazu vollführe ich Kniehebelauf und andere Verrenkungen, die mir noch aus meiner sportaktiven Zeit vor ca. 100 Jahren bekannt sind und ungefähr auch so aussehen. Außerdem tanze ich Twist und Cancan. Beim Cancan achte ich auf Exklusivität. Das heißt, keiner, außer mir, darf diesem Spektakel zuschauen. Nein, ich hab da keine Röcke, ich werfe nur Beine. Außerdem bewaffne ich mich mit Hanteln bzw. meinen neuen Brazils, die ich links und rechts schwenke. Es ist ein Bild für die Götter und das soll es auch sein. Denn es ist sinnfrei, wirkungslos und ätherisch. Zeus, wir wären liebliche Spielgefährten. Ich als Schwan und Du als Leda. Wir haben jetzt doch diese gendersanktionierte Geschlechterfreiheit. Ich als Sterbender, selbstverständlich, Schwan natürlich. Du als Unsterblicher. Trampolin ist prima. Wer wissen will, wie meines heißt, schicke mir umgehend eine Nachricht. Guten Abend, liebste Freunde ? Absprung macht jung!

Homeoffice – Taumellolch – Coole Kaftane – Zustandsbericht nach vier Monaten Corona

Home-Office – die verschärfte Form. Seit dem 11. März. Es gefällt mir. Ich muss nicht mehr Zugfahren. Müsste ich nicht ab und an Dinge im Draußen erledigen, ich bliebe hier – in meinem Home mit angeschlossenem Office. For ever. Vielleicht bestellte ich im Supermarkt online. Als Ausgleich spränge ich auf dem Trampolin herum, turnte nach den Videos von Gabi Fastner oder rollte auf Geheiß von Liebscher-Bracht die Faszien. Früher in der DDR, als ich noch im Hotel arbeitete, war ein Office das, was außerhalb des Gastraumes lag. Kellner trafen sich im Office mit Köchen, aßen oder tranken schnell was, unterhielten sich über die Gäste oder setzten sich kurz hin. Der Duden bestätigt mir das Office im Gastgewerbe. Home-Office hätte früher Heimbüro geheißen. Aber jetzt: My home office is my castle. Der listige Online-Duden spielt mir das vermutlich nicht-englische Wort „Lolch“ ein. Als „selten verlangtes Wort“. Kann ich mir vorstellen. Ich kenne auch keinen Lolch. – Ich kenne nur LOL, was mich nervt, wenn jemand zu einem von mir geschriebenen Posting – in sozialen Netzwerken – mit LOL kommentiert. „Lach“ ist genauso doof. – Der Lolch also. Mal schauen. „Zu den Süßgräsern gehörendes Gras mit vielen Blüten und kleinen Ähren in zwei Zeilen“. Und dann bietet sich noch der Taumellolch an, auch ein Gras. Ok, ich schwanke zwischen den Stühlen meines Home-Office wie ein Taumellolch! Sieben Stühle. Hier in meinem Home-Office. Außer der Dame vom Finanzamt war in letzter Zeit niemand hier. Sie kam, um mich zu prüfen, natürlich. Wie wäre eigentlich eine Finanzamtsprüfung in Corona-Zeiten? Oder gibt’s keine mehr? Wegen Abstand und Masken. Masken überhaupt. Auch wenn ich reichlich Zunder von meinen Lesern bekam, ich bleibe dabei: Ich trage keine Maske. Ich gehe auch ohne Maske einkaufen. Wenn ich schonmal einkaufen gehe. Ich schau die anderen mit den Masken interessiert an. Sie sagen nichts. Ich auch nicht. Ich frage mich indessen, wieso ich mindestens fünf Kilo auf der Skala des Grauens nach oben gerutscht bin, obwohl ich nur noch die Hälfte einkaufe. Gut, ich habe auch gehamstert. Legte mir Keks- und Schokoladen-, aber auch Dauerwurst- und Whiskey-Vorräte zu. Mittlerweile alles vertilgt. Wird ja vielleicht doch schlecht. So wie ich hier so langsam vor mich hingammele. Ich ertappe mich dabei, dass ich mir zwei Tage lang die Haare nicht kämme. Wozu? Ist doch egal. Nicht egal: Mein neuer online bestellter „Cooler Kaftan“. Mein Hauskleid. Sehr verführerisch, um Kilos zu verstecken. Der freundliche Nachbar fragt, ob es für dieses Kleid keinen Gürtel gäbe. Ich: Warum? Er: Naja… ach, ein Kaftan, ja, das sieht man. Cool! – Mein cooler Kaftan in Schwarz natürlich – hat große rot-blaue Blumen – vorn und hinten. Ich vermute, er macht dick. Aber, wen interessierts? Ja, ich habe zugenommen. Meine Keto-Diät ist gescheitert. Das Ergebnis: Ich esse enthusiastisch alles, was da verboten war. Kohlehydrate. Dicke, fette Kohlehydrate. Ob ich den Tag, an dem ich einen Gürtel auf den Coolen Kaftan schlingen kann, noch erleben werde? Egal, Corona hat nicht nur mich dicker werden lassen, ich höre es allenthalben auch von anderen. Nun warten wir auf die zweite Welle. Herr Lauterbach von der SPD kann es gar nicht erwarten, während er seinen Stammplatz in den Talkshows behauptet. Ich singe „Das ist die perfekte Welle“, wasche und kämme mir die Haare, bestelle mir noch einen grünen Kaftan und bin froh, dass ich für morgen alles erledigt habe. Und ich trinke ein Colbitzer Bockbier – hier aus der Region – Taumellolch schwankend zwischen den sieben Stühlen meines Home-Office.

Die Dauerwelle meines Lebens

 Achtziger. Wer sich an die Achtziger erinnert, hat sie nicht erlebt. Ich las das in den Neunzigern auf großen weißen Fahnen, die für das Falco-Musical im Theater des Westens in Berlin warben. Ich dachte: Häh! Was muss ich jetzt dabei denken? Versteh ich nicht! Ich fuhr Tag für Tag dort vorbei und irgendwann machte es „Klick“: Ach, das war ein Jahrzehnt, in dem andere sich so zugedröhnt haben und das volle Leben lebten, während ich mit drei Kindern in einer Riesenwohnung in Leipzig saß und auf meinen Mann wartete, der mal kam und mal nicht. Er war kein treuer Mann. Damals hab ich mich verzehrt nach seiner Liebe und dachte, ich könne ohne ihn nicht sein. Wie dumm von mir. Aber nicht mehr zu ändern – all die durchwachten Nächte, all die sinnlos geleerten Rotweinflaschen. Und nicht nur die. Auch rumänischer Weinbrand und irgendein saurer osteuropäischer Sekt verbitterten mir die Tage des Verrats an unserer überirdisch großen Liebe. Du musst etwas tun! Du musst etwas tun. Ich schrieb Tagebücher, die heute verschollen sind. Legte mir Liebhaber zu und begann zu fotografieren. Töpfern wollte ich lernen. Ich studierte Psychologie und ging zu allen Performances, die die Leipziger Subkultur zu bieten hatte. Ins Kino und auch mal ins ungeliebte Theater, wenn Freunde von mir mitspielten. Freunde überhaupt. Ich hatte einen übergroßen Freundeskreis und er wurde immer unüberschaubarer. Wir hatten ein „offenes“ Haus. Heute würde ich sagen: Ich war eine Salondame. Nur dass der Salon eine düstere Wohnküche war und die Dame eine wild gewordene Hausfrau mit Halbbildung, aber ausbaufähig. Ich konnte über alles reden. Das fiel mir noch nie schwer. Und so redete ich über alles und mit allen, die da kamen. Und sie kamen reichlich. Zuerst wollten sie immer meinen Mann, den berühmten Rockstar, besuchen. Beim zweiten Mal schon – kamen sie zu mir. Und so scharte ich einen Kreis aus Künstlern und Intellektuellen um mich, den mein Mann in seinen späteren Memoiren die abendlichen Besucher „unserer Kulturküche“ nannte. Es verging kein Abend, an dem wir nicht mit Freunden ausgingen oder zusammensaßen. Dazwischen wuselten unsere drei Kinder und aus heutiger Sicht haben wir uns ganz sicher zu wenig um sie gekümmert. Auch das kann ich nicht mehr ändern, so traurig es mich manchmal macht. Dennoch: Es war eine wilde Zeit, wenn ich es mit meinem heutigen Leben vergleiche. Eine wilde Zeit, die ich als brav empfand, weil ich glaubte, dass die – dort drüben – noch viel wildere Zeiten erleben. Deshalb wollte ich dorthin. Und das setzte ich auch durch. Wir verließen dieses bunte Leben in der grauen DDR, um in das gelobte Land zu gelangen, in dem dann alles ganz anders wurde, als gedacht, erträumt, befürchtet. Das Ende der Achtziger war das Ende einer Ära. Für mich. Für uns. Für die ganze Welt. Ach so, die Dauerwelle? Die einzige Dauerwelle meines Lebens hatte ich natürlich in den Achtzigern.

Foto von Edith Tar: Ich – Leipzig 1984