Ich schmachte blonde Gräfinnen an.

Da ich – bis auf die frühe Jugendzeit – eher rund, denn superschlank, und leider auch ziemlich klein war, lief ich beizeiten unzufrieden durch mein Leben. Selbstverständlich hat mir so etwas meine Mutter eingeredet, in dem sie immer sagte: „Wir sind eben der italienische Typ!“ Der italienische Typ. Nun ja, nicht schlecht. Gina Lollobrigida oder Sophia Loren, die Busen-Taillen-Frauen meiner Kindheit. Heiß begehrt in den Kinos. Voller Blut und Temperament. Ich war es zufrieden. Aber nur für kurze Zeit.

Später kamen dann diese Riesenmodels, diese (meist) blonden Unnahbaren. Es gibt sie. Diese unauffällig perfekten Frauen, die meine Lebenswege ab und an kreuzen. Sie sind groß. Sie sind mühelos schlank. Sie sind niemals schlecht frisiert oder ausgebildet und haben perfekte Haut, Zähne und Hände. Mit großen polierten, aber keineswegs von einem Nagelstudio behandelten Fingernägeln. Niemals abgekaut bis aufs Blut. Niemals. Sie tragen Kleidung im Zustande des selbstverständlichen Understatements – teuer und elegant. Sie schminken sich dezent oder gar nicht. Sie tragen blonde Hochschlagfrisuren oder Zöpfe. Sie sagen nur coole Sätze.

Ich stelle sie mir vor, wie sie am Morgen aufstehen. Sie sind nicht zerknittert im Gesicht, scheinen immer frisch, wie aus dem Ei gepellt, selbst dann, wenn sie noch im Bett liegen. Sie absolvieren unauffällig ein Mysterium von Morgentoilette, das sie noch schöner, wohlriechender und unnahbarer macht. Sie sitzen filmreif allein am Tisch, ihr Appetit ist dauergezügelt. Sie nehmen Toast mit englischer Bitter-Marmelade, den sie anbeißen, aber nicht aufessen, einen Orangensaft und einen Kaffee zu sich. Wie die Schwester (von Klaus Mann) in dem Film „Mephisto“ von István Szabó. Die Tochter Erika von Thomas Mann, die Klaus Maria Brandauer aka Gustav Gründgens später heiratet. Nicht zum Vergnügen, wie es scheint. Das holt er sich woanders. So hoffen hämisch wir Frauen, die hoffnungslos sind – ob dieser blond-kühlen Grandezza. Nach dem – nur aus Vernunftgründen – genippten Frühstücksminimum reiten die großen blonden Frauen mit festentschlossenem Blick im Frühnebel auf einem Schimmel davon und kontrollieren ihre Anwesen. Wie sie alles kontrollieren. Was ihnen selbstverständlich immer gelingt. Es scheint kein Teufel in ihnen zu wohnen, der täglich all dieses wohlgeordnete und moderate Tun torpediert.

Es scheint kein Teufel in ihnen zu wohnen. Ich nenne diese Frauen: Die Gräfinnen.

In meinem langen Leben begegnete ich einigen Gräfinnen. Und fühlte mich jedes Mal scheußlich. Minderwertig. Hoffnungslos abgehängt. Ich kann in ihrer Anwesenheit nicht lachen und nichts Großartiges von mir geben. Im Gegenteil. Ich stehe da, sage nichts, nehme mir die nächste Diät vor und denke an einen Therapeuten, der mir Nägelkauen, Selbstzweifel und Panikattacken austreibt. Der mir blondes Selbstbewusstsein einimpft, wie eine Corona-Spritze. Der mir vermittelt, dass ich nicht vom anderen Stern bin, immer dann, wenn ich einer Gräfin begegne. Der mir wenigstens eine innere Reitpeitsche einzureden vermag. Doch wo gibt es so einen Therapeuten? Nirgends, nie. Ich werde in diesem Leben die vom anderen Stern bleiben. Vom Chaos-Stern. „“Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.” – Danke Friedrich Nietzsche für diesen Trost. Aber auch der schafft nicht, mir meine Unterlegenheit auszureden. Niemand kann mir das ausreden. Es ist so, war immer so und wird immer so sein. Meine tiefe Bewunderung für ein Gräfinnen-Dasein lass ich mir nicht nehmen. Diese Bewunderung ist genauso da, wie der Abstand, den ich halte. Ich habe Angst, in der Gräfinnen Gegenwart etwas falsch zu machen. Zu viel zu essen, dummes Zeug zu reden, falsch angezogen zu sein, zu dick, zu müde, zu arm und nicht mit der Pferdezucht vertraut.

Insbesondere hanseatische Gräfinnen haben das Zeug, mir den Rest zu geben. Sie schmelzen mein Wertgefühl innerhalb von fünf Minuten zu einem Kügelchen, das ich dann suchen muss, atemlos und schwitzend in meinen staubigen Ecken.

Thomas Mann schmachtete blonde Kellner an. Ich bin auf seinen Spuren. Ich schmachte blonde Gräfinnen an.
Das Tollste ist: Sie wissen es nicht. Sie sind so selbstverständlich Gräfin, wie ich keine bin. Und finden mich ganz normal.

Und wenn sie das hier hören oder lesen, fangen sie an, mir ihre Probleme zu schildern. Die glaube ich selbstverständlich niemals.

Die Küche als Kulturindikator

Irgendwann in meinem früheren Leben habe ich ein Interview mit einem amerikanischen Professor gemacht. Er sagte, dass er schon überall war, auf jedem Kontinent, in jeder größeren Stadt, die man so kennt. Er habe festgestellt, dass er immer bei den Leuten, die er dort kannte, in der Küche gesessen und sich sehr wohl gefühlt habe. In der Küche quatschen und sonst nicht viel mehr, in den USA, in Australien, in Berlin und sonst irgendwo. In der Küche quatschen, etwas Schönes essen und trinken. Das wäre überall wundervoll. Er kenne die Länder und Städte im Grunde nur durch die Küche seiner Freunde. Denn er habe kein Bedürfnis gehabt, rauszugehen und Besichtigungen zu absolvieren. Schon damals dachte ich: Du bist genauso wie ich! Aber ich sagte es nicht. Schon damals dachte ich an Küchen, in denen ich glücklich war. Kindheitsküchen. Großmutterküchen. Schon damals dachte ich an Küchen, die immer den Teil einer Party meiner Jugend und auch später ausmachten. Küchen, in denen sich alle drängten und wie die Sardinen miteinander parlierten oder sich anderweitig näher kamen. Küchen haben eine Anziehung, die noch eines anderen Beitrages bedarf. Nur so viel: Küchen sind Kultur. Küchen sind wundervoll, sind ernüchternd, sind eklig. Alles. Können höchstes Glück und vollkommene Ordnung symbolisieren und – auch verkommen und verdreckt sein. Aber von diesen unküchenhaften Küchen rede ich jetzt nicht. Ich huldige der großartigen Küche, die es in allen Ländern gibt. Küchen. Sie sind die Tränke, die alchemistische Verquickung. Sie sind der Ausgangspunkt – in das Leben – da draußen. Sofern man es will. Wir können dort auch ein Leben lang verharren. Und ich verurteile das nicht. Im Gegenteil. Oder gehen.

Meine unmöglichen Geschenke.

Wenn die österreichische Freundin einen runden Geburtstag hat, muss es was Besonderes sein. Meine Fleurop-Rosen über die Grenze waren der Reinfall nach dem Reinfall. Denn neben Rosen sollte es noch etwas Besonderes sein. Ich wollte nach den Sternen greifen. Meine Freundin ist auch – Astrologin. Was Astrologisches! Amulett. Buch. Horoskop. Ich exerzierte im Kopf alle Sternbilder durch: Ich kann ihr keinen Widder schenken. Keinen Stier und keinen Zwilling. Einen Krebs würde sie nicht wollen, ein Löwe hielte sich schlecht im bürgerlichen Haus. Ein Schütze? Mhm, klingt nach Schützenfest. Wein, Weib, Gesang. Wir haben Corona! Außerdem ist die Zeit der Schützen im reiferen Alter vorbei, die nimmt man ja nur an die Hand, wenn es brennen soll. Ein Aquarius! Der wäre zu hippieesk, eher was für mich. Mir fiel ein, dass die Freundin einst zu mir sagte: „Wie kann man nur sein Ladengeschäft „Scorpio“ nennen! Wir schlenderten bei einem ihrer Besuche in Berlin durch meine Straße, die als die Second-Hand-Straße in Charlottenburg gilt. Wie kann man nur! Wie kann man nur – einen Skorpion schenken? Dachte ich und kaufte einen Skorpion. Tot natürlich. Aufgespießt. Hinter dickem Glas. Goldumrahmt. Leider kam er nicht. Versteckte sich. Grub sich ein. Im Dickicht von DHL. Und ich harrte der Dinge, die kommen oder eben nicht. Er brauchte ja nichts zu essen. Er war tot. Selbst lebende Skorpione halten das aus. Manchmal ein ganzes Jahr. Angepasst. Ist auch so ein Aufgespießter, egal, ob der Postbote das Paket mit dem Scorpio-Bösen im Postwagen herumwirft. Mein Geschenk-Skorpion kam nicht und schlich mir als das Arge ins Hirn. Wie Macbeth fasste ich mir wartend an die Stirn und stöhnte: „O, full von diesen Dingern is my mind, dear husband!“- Und dem Mann in meinem Haus gruselte es gar sehr. „Menschliche Urangst“, raunte ich, so ein Stechdingens – „im Rahmen immerhin. Nicht im Kopf ist der, der ist gebannt. Aufgespießt und tot wie nur irgendwas.“ – „Könnte er wieder lebendig werden, fragte bang der Hausmensch.“ – „Klar!“ – lachte ich – „der könnte geradewegs aus Plutos Schatten-Hades herbeieilen, sich aufrichten und…“ – Nein, rufe ich! Er kann das nicht mehr und Zähne zeigen auch nicht. Wenn, dann zeigte er etwas – anderes. Wie einst Johnny Depp der Avon-Beraterin seine scharfen Hände zeigen musste, die er nicht verstand. Hände können Waffen sein. Ja, ok, lebte er auf, hätte er scharfe Hände, und auch seinen – nun ja, nennen wir ihn – Macbeth-Dolch! Hoch aufgerichtet, haha! Und lebte er, dann stäche er – zu. Er kann halt nicht anders. Es ist seine Natur! – Nun – unser Rahmenskorpion kam eines Tages, weit nach dem Geburtstag meiner astrologischen Freundin, hier in Magdeburg an. Ich packte ihn aus. Mir gruselte. Er sah aus, als wäre er gekommen, um sich zu rächen. Rechts unten, unter der Scheibe natürlich, war ein kleines Kästchen, als brauchte er noch Nahrung, der Skorpion. Dem Hausmenschen gruselte noch mehr. Und dann – rümpfte er die Nase. Der einstmals Wehrhafte stank in seiner Spießigkeit. Damit meine ich den Skorpion. Ich weiß nicht, was das für ein Geruch war. Verwesung? Nein, so ein stolzer Skorpion am Spieß kann nicht verwesen! Unter Glas! Meinen Hausmenschen packte die Angst. Sein Geruchssinn verfeinerte sich in Parfümeur-Höhen. Vielleicht ist das Ding irgendwie – nachtaktiv? Vielleicht befreit er sich aus seinem Gefängnis! – „Es ist hartes Glas mit Goldrand“ – meinte ich. „Der kann sich nicht befreien. Wir müssen ihn irgendwie „ausriechen““. – Sein seltsamer Odem breitete sich auf unseren 90 Quadratmetern bis in den kleinsten Winkel aus. Der Hausmensch traute sich nicht mehr, der Postfrau zu öffnen, die ihn seit wir hier wohnen, zum Weiter-Verteil-Postillon des Hauses ernannt hat. Nachtaktiv. Das ist einer, der sich häutet, die Schachtel durchbricht und über den Küchenboden tappt. Zuckend und verführerisch, falls wir seine Weibchen wären. Aber das sind wir nicht. Also was tun? So einen können wir doch nicht über die Grenze nach Österreich schicken und auch nicht – bringen! Vielleicht müssten wir das ominöse Paket unterwegs noch öffnen, weil dieser Geruch auch andere verstört, als trügen wir eine Leiche mit uns herum. Was ja nicht ganz unrichtig wäre. Nur unerschrockene Novemberkinder böten so einem Skorpion die Stirn! Sind wir leider nicht. Nachdem uns das „Ding“ beiden gleichzeitig nachts im Traum erschien, entschlossen wir uns zum Mord. Zum Mord an einer Leiche. Zum vorläufigen Begräbnis. Und beförderten den Unliebsamen in die Mülltonne. Wie kann man sein Ladengeschäft „Scorpio“ nennen! Wie kann man der Freundin einen Scorpio schenken – wollen! Man kann nicht. Jedenfalls ich nicht! So welkten die Fleurop-Rosen in barocker Art. So starben sie zweimal – meine unmöglichen Geschenke. Die Blumen und mein – Scorpio mit den Scherenhänden.

„Der Blumenwert wurde eingehalten“

Die österreichische Freundin hat ein Jubiläum. Die deutsche Freundin will es mit Blumen sagen. Will sagen, dass sie glücklich ist, sie zu kennen, mit ihr befreundet zu sein. Mit ihr all die guten und die schlechten Tage zu teilen und zu besprechen, mit ihr Projekte auszudenken und zu realisieren.

In anderen Jahren wäre sie persönlich hingeflogen. Es sollte nicht sein. Nicht im Corona-Jahr 2021.

Nun – es gibt Helfer. Gibt Dienstleister. Fleurop. Nicht nur in Deutschland. Auch in Österreich.
„Fleurop-Interflora liefert atemberaubend schöne Blumensträuße in Österreich & in weitere 150 Länder weltweit – am selben Tag!“

Gut, der Montag, 24. Mai, wurde es nicht. Feiertag. Dafür Dienstag. Ich wählte die „Romantic Roses“. Die gefielen mir, weil es Rosen mit zarten Gräsern, die nach unten verlaufen, sein sollten. Wählte die „Mittlere Version – 85.- Euro“, dazu eine Rosen-Karte und eine Vermittlungsgebühr. Knapp 100 Euro. Ich freute mich, weil meine Freundin sich ganz sicher auch freuen würde. Dachte ich.

Ja, es gab den Hinweis, dass es kleine Abweichungen geben könne – vom Abbild auf der Website.

Aber nicht diese! Es kam ein Rosenstrauß, der mitnichten in zarte Gräser gehüllt war. Sondern ganz unromantisch in dicke grüne aufrechtstehende Blätter verpackt, wie ein in Kohl gewickelter Strauß. Wie der Standardstrauß einer Billig-Blumen-Kette. Hätte das 30 Euro gekostet, ich hätte es verschmerzt. Aber nicht für knapp 100 Euro. Ich beschwerte mich. Schickte ein Foto und bekam dann diese Antwort:

„Sehr geehrte Frau Koeppe-Gläser,

vielen Dank für das Foto!

Bitte beachten Sie, dass die Produktabbildungen nur Musterbilder sind – da jeder Strauß vom Floristen vor Ort individuell und frisch gebunden wird, kann es zu leichten Abweichungen bei der Ausführung und dem saisonalen Beiwerk kommen.

Es ist zu sehen, dass die Farben der Rosen eingehalten wurden und es nur beim Beiwerk zu Abweichungen gekommen ist.

Der Blumenwert wurde eingehalten.

Aufgrund der leichten Abweichungen kann hier leider kein Austausch stattfinden.
Wir bitten um Ihr Verständnis!“

Nein, liebes Fleurop-Team, Ihr mit den „atemberaubend schönen Blumensträußen“, dafür habe ich kein Verständnis.

Meine Antwort:
„Ich halte das nicht für „leichte Abweichungen“, sondern der Charakter des Straußes, seine Intention, wurde vollständig verändert. Ich bleibe dabei, dass das Betrug am Kunden ist, und werde das auch entsprechend publizieren. Nicht für diesen Preis! Schämen Sie sich für diese schlechte Dienstleistung für sogenanntes gutes Geld.“

Darauf – keine Antwort!

Fleurop… – niemals mehr.

Die Freuden des Alters – und die Leiden auch…

Ich habe noch Pockennarben. Weiß eigentlich jeder, der das liest, was das ist? Pocken gibt’s ja schon lange nicht mehr und als ich mich der schmerzhaften Prozedur einer Pockenimpfung unterziehen musste, bekam diese Krankheit keiner mehr, den ich kannte. Heute sind sie ausgemerzt, heißt es. Diese Pocken. Ich habe zwei dicke fette weißliche Narben am Oberarm. Kann mich aber erinnern, dass vorzugsweise Fleischfachverkäuferinnen in der DDR, die immer in weißen Kitteln mit freien Oberarmen bedienten, die immer sehr dick waren, in der Regel vier dieser Narben aufwiesen. Sie sind in meiner Erinnerung mit der Fleischfachverkäuferin zu einem Emotionsknäuel verwachsen. Diese vier Pockennarben am Arm der… – nun ich sag es nicht noch einmal – diese sehr begehrten Damen verkauften uns DDR-Kindern, die für ihre Eltern anstanden, und auch vielen Frauen, sogar Männern, die ebenfalls die Schlange bevölkerten, die zum Sozialismus gehörte, wie der Topf auf den Deckel, die heiß begehrte Fleischware. Heiß begehrt waren Rouladen, Kochschinken, roher Schinken, und ungewöhnlichere Fleischsorten, neben dem normalen Schweinefleisch, das gab es immer oder meist.

Was ich damit sagen will: Ich bin alt.

Wer hat heute noch Pockennarben? Heute hat man eine BioNTech-Impfung oder eine von Moderna, AstraZeneca oder Johnson & Johnson. Ich werde keine von denen in mich hineinlassen. Obwohl ich keine Impfgegnerin bin. Aber nicht noch einmal lasse ich es zu, dass man mir zwangsweise etwas in den Körper spritzt, von dem ich nicht weiß, was es bewirkt. Letztes Jahr redete mir meine Hausärztin mal wieder eine Tetanus-Impfung ein. Ich habe „Ja“ gesagt. Die ist bewährt. Da weiß ich, was ich habe oder bekomme oder eben nicht bekomme.

Aber das ist heute nicht mein Thema. Mein Thema ist: Ich bin schon alt.

Ich habe Pockennarben. Und früher hatte ich abstehende Ohren. Und immer habe ich die Eltern genervt, dass ich eine OP will. „ich will anliegende Ohren haben!“. Ich kann mich erinnern, dass ich mit vierzehn Jahren im Kino saß. Und weil die Friseuse – so hießen die damals und nicht Friseurin – mir die Haare zu kurz geschnitten hatte, konnte ich den Film nicht richtig verfolgen, da ich in erster Linie daran dachte, dass die Jungs hinter mir sehen könnten, was ich für abstehende Ohren habe. – Wie durch ein Wunder habe ich – ohne Operation – heutzutage so anliegende Ohren, dass man bei Frontalfotos denkt: Die hat überhaupt keine Ohren! – Auch irgendwie komisch. Wie sich die abstehenden Ohren meiner Kinder- und Jugendzeit „über Nacht“ in den gewünschten Zustand legten. Ich kann es nicht erklären, es ist sozusagen ein Gotteswerk. Meine Gebete wurden erhört.

Aber wir waren beim Alter. Woran merke ich, alt zu sein?

Ich bin nicht mehr eifersüchtig. Und ich weiß, dass es sich nicht lohnt, eifersüchtig zu sein. Kann mich aber gut erinnern, dass ich früher vor Eifersucht fast innerlich verbrannte. Dass ich zur Mörderin hätte werden können, wenn ich nicht doch eine gewisse moralische Erziehung genossen hätte. Als mein Mann Peter zum ersten Mal eine seiner Geliebten nach Hause brachte und in unserem Bett übernachten ließ, konnte ich mich nicht entscheiden, wem ich das Messer in die Brust stoßen sollte. Ihm oder Ihr. Also ließ ich es und bekam lieber Magen- oder wahlweise Unterleibsschmerzen. Die Unterleibsschmerzen haben sich erledigt, wie die Mordgelüste. Sie sind Knie-, Rücken-, Herz-, und Hallux-Schmerzen gewichen. Ich überlege, was ich lieber hätte. Heute entschiede ich mich für die Eifersucht, weil ich damit umgehen könnte. Aber ich kann nicht alles haben. Weisheit gegen Jugend funktioniert leider nicht.

Wann ich alt geworden bin? Als ich die ersten goldenen Ohrringe gekauft habe. Heute trage ich nur noch Gold oder tu zumindest so. Silber kommt mir nicht mehr in die Tüte. Ist arm, aber sexy, aber jung. Bin ich alles nicht mehr.
Alt ist auch gut. Es gibt keine Erwartungen. Es gibt nur noch Genuss. Essen ist der Sex des Alters – stimmt. Trinken auch. Leider gefährlich. Ich hatte eine Alkoholiker-Mutter. Also kämpfe ich mit Whiskey und Sekt. Jeden Tag aufs Neue. Und manchmal klappt das sogar.

Alt ist auch gut – es gibt zum Beispiel die Freude, am Morgen wieder heil zu erwachen und einigermaßen die ersten Schritte in den Tag zu bewältigen, die schmerzhaft sind, aber es lässt nach – im Laufe des Tages. Es gibt die Freude, so schlau zu sein und die noch größere Freude, dass die anderen es nicht merken. Ich kann mich sehr gut dumm stellen. Eine meiner Lieblingsübungen. Und die Jüngeren, einschließlich meiner allesamt sehr klugen Kinder und Kindeskinder denken – wie ich auch früher – sie seien doch viel viel viel klüger. Kenn ich. Hab‘ ich auch gedacht.

Alt hat noch viele gute Seiten. Weil ich nicht mehr auf Friedhöfe gehe. Sie sind mir zu nah.
Insgesamt ist alt sein natürlich ziemlich grauenhaft. Ich setze das fort, wenn ich noch ein wenig darüber nachgedacht habe.

Tüte des Alltags und der Lüfte

Seit zwei Jahren ärgere ich mich über eine weiße Plastiktüte, die sich in einem Baum verfangen hat, wenn ich aus dem Küchenfenster schaue. Sie schaukelt im Winter im Wind, weiß und allein. Im Sommer versteckt sie sich unter Blättern. Verlässlich da. Immer. Gestern machte ich ein schönes Abendrotfoto aus dem Küchenfenster heraus und dachte: Kannst Du blöde Tüte nicht einfach mal wegfliegen! – Vorhin schau ich so im Vorbeigehen vorn aus meinem Arbeitszimmer auf die Straße und – was sehe ich? Eine weiße Tüte hängt im Baum. Das wird doch nicht „meine“ Hinterhof-Tüte sein? Geh in die Küche und schau nach. Sie ist es. SIE IST ES. Denn sie ist nicht mehr da, wo sie seit zwei Jahren hingehörte. Flog über das große Haus und – bleibt dennoch bei mir. Vielleicht sollte ich der Tüte einen Namen geben. Ich nenne sie Angela. Angela die Himmlische.

Foto: Gestern Abend beim Sonnenuntergang aus dem Küchenfenster fotografiert.

Schuhe. Schränke. Sinfonien.

Ich schreib so vor mich hin. Was mir durch den Kopf geht. Zum Beispiel meine neuen Schuhe von Giesswein. Ich schwöre, ich kenne diese Firma nicht persönlich, aber ich habe bisher schon fünf Paar Schuhe dort gekauft. Sie sind einfach Garanten meines beschwerdefreien Gehens. Ich bin nicht mehr im High-Heels-Alter. Da muss ich an das komische Bild denken, dass irgendjemand, möglicherweise mein Vater, von mir in Leipzig in der Wohnung meiner Großeltern aufnahm. Da hab ich noch nicht an beschwerdefreie Schuhe gedacht und stehe vor dem großen Bücherschrank, den meine Eltern von meinen Großeltern zur Hochzeit geschenkt bekamen. Eine Art Neoklassik oder was auch immer. Aber Holz. Heute besitzt meine Enkelin Anna den Schrank, den sie zunächst nicht haben wollte, sie war noch im IKEA-Wahn. Mittlerweile hat sie begriffen, dass alle jungen Leute identische Wohnungen haben, dank IKEA. Und plötzlich findet sie es gut, mal ein anderes Stück zu besitzen, das ihre Wohnung ein bisschen anders macht. Dazu hat sie sich einen hölzernen Tisch per ebay-Kleinanzeigen gekauft, den sie auf ihrem Rücken in der Berliner U-Bahn beförderte – von Wohnung zu Wohnung. Tja, nun zum Foto: Man kann auf diesem Foto sehen: Auch aus Menschen mit bescheuerter Pony-Frisur kann noch etwas werden. Ich meine mich. Das bin ich – auf diesem Foto. Alle, die mich kennen, können das kaum glauben. Interessant finde ich diesen – ich weiß nicht, ob man das damals sagte – Trainingsanzug. Er hat eine Reißverschlussbrusttasche und auch die Hose ist so voluminös, dass man meinen könnte, sie entstamme einem Science-Fiction-Film. Dazu nochmals Taschen. Das kann doch keiner in der damals so ärmlichen DDR genäht oder gekauft haben? Oder war es doch meine göttliche Großmutter, die Schneiderin, die mir dieses Teil verpasste, das mich wie eine Wrestling-Kämpferin aussehen lässt. Allerdings im falschen Film und Alter. Dazu dieser Pony. Ach, ich wiederhole mich. Was solls. Ich zeige es, das Foto. Es spielt keine Rolle mehr. Wir sind ja alle so Corona. Was spielt noch eine Rolle? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir eine Melodie in den Sinn. Mein Ohrwurm in diesen Tagen. Das neue Werk meines ältesten Sohnes Robert Gläser. Es hat wirklich einen tricky Text. Was im Englischen eher schwierig heißt. Schwierig ist der Text nicht, nur unterschiedlich interpretierbar. Jeder interpretiere für sich selbst. Ich finde, es ist ein Text für all jene, die nicht wissen, was sie tun sollen. Mach Dein Leben groß, so groß es eben geht! Sonst ist es eben keine Sinfonie, sondern eine kleine Melodie. Was auch nicht schlimm ist. Ich aber – so alt ich auch bin – will das Leben immer noch zu meiner Sinfonie machen – bis zum Finale. Meiner Lebenssinfonie. (Den Link zum Video finden Sie im Anhang)

(2) Robert Gläser – Lebenssinfonie (Offizielles Video) – YouTube

Das Erzgebirge blieb als ewige Sehnsucht zurück…

Februar 2021. Neben unserem großen C-Problem ist es auch noch klirre kalt. Das Land ist doppelt entsetzt. Wie kann es nur im Winter einen Winter geben! Sollte nicht ein ewiger Sommer werden?

Wenn es dann so kalt ist und noch dazu im Februar, denke ich an unsere DDR-Winterferien – immer im Februar. Drei lange Wochen, in denen die Eltern meist arbeiteten. Also wurden wir zu den Omas geschickt. Als ich noch klein war, bettelte ich immer, nur nicht zur bösen Oma fahren zu müssen. Denn ich hatte die böse Oma und die gute. Die gute war die, mit der ich stets die vielen Verwandten besuchte. Wenn ich begriffen habe, was Verwandte sind, dann durch sie. Tante Clara und Onkel Karl, Tante Manni und Onkel Franz, die im Lotto gewonnen hatten und selbst einen Lottoladen betrieben. Oha, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, meinte die Oma. Das Schlimmste, sie hatten meiner Mutter und ihrer Schwester nichts abgegeben! Das hat die Oma nicht verziehen, das fand sie schäbig. Die anderen Cousins und Cousinen erhielten alle einen Anteil am Lottoglück. Schade, dass ich nie mehr erfahren werde, warum die sich alle nicht wirklich grün waren.

Da sind viele Geschichten, die für immer verschwunden sind. Tante Elli mit den sieben Kindern und diesem brummigen sympathischen Mann. Ich habe mich bei ihnen wohl gefühlt und auch wieder nicht. Weil es mir ein bisschen zu schmutzig war. Aber wenn es selbst gesammelte Pilze gab, war ich jedes Mal begeistert, obwohl sie nicht wirklich sauber geputzt waren, wie die Oma meinte. Bei ihr sahen die gebratenen Pilze weiß aus, bei Tante Elli waren sie eher schwarzgrau. Aber mit einer Scheibe Brot einfach wunderbar. Auf die eine Tante hatte die Oma Wut, wegen Lotto, die andere war in ihrer Haushaltsführung zu schlampig. Eine weitere Tante war geizig. Sehr, sehr geizig. Die nächste scheinheilig. Sehr, sehr scheinheilig. Aber wir besuchten sie. Jedes Wochenende. Der Reihe nach. Besonders Weihnachten und bis in den kalten Erzgebirgsfebruar hinein war das sehr anstrengend.

Ich musste bei jeder Tante deren Stollen-Kreation kosten und nach Möglichkeit auch aufessen. Butter triefende Scheiben, bei der fünften Tante drehte sich mir der Magen um. So kurz nach dem Krieg und mit noch nicht gefüllten Supermärkten, sondern einer Mangelwirtschaft – war so ein Stollen der Beweis von Großzügigkeit und Reichtum. Also viel Butter, viele Zutaten, sehr viele Kalorien. Ich war ein braves Mädchen und mümmelte es in mich hinein, während ich mich umschaute.

Da gab es die Hochzeitsbilder an den Wänden, die Deckchen, die weiße Tischdecke, das Vertiko. Die seltsam riechenden alten Damen – und Herren – und die Nippes überall. Die Kissen, bestickt und das gute Sofa, auf dem nie jemand saß. Die gute Stube. Die Küchen mit Kochmaschinen und Ausguss und die Gespräche. Über die Nachbarn, früher, den Krieg, die Gefallenen, die Kinder, die in die neue Zeit starteten. In den winzigen Schlafzimmern mit Eisblumenfenstern die kaltwarmen Federbetten. Die Kissen mit Lochstickerei. Die Kachelöfen. Die knarrenden Dielen. Bohnerwachsgeruch. Dazu der geheimnisvolle große Kleiderschrank der Oma mit Hüten und Kleidern aus ihren „besten Zeiten“. Die passten ihr nicht mehr. Aber mir. Wenn ich sie mit Gürteln zusammenhielt.

Und über allem der heilige Schein des Erzgebirges.

Alles in allem war es eine schöne Kindheit in diesen stillen Wintern. Mit Schneedurchmarsch am Hauseingang, links und rechts größer als ich. Ohne Angst vor Spielunfällen. Vor denunziatorischen Nachbarn. Vor Lebensmittelunverträglichkeiten.

Ich wurde immer für die Tochter der Schwester meiner Mutter gehalten, weil ich ihr ähnlicher sah, als meiner Mutter. Und irgendwann fuhr ich dann wieder in die sozialistische Stadt. Das Erzgebirge blieb als ewige Sehnsucht zurück.

Foto: Meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern, die beim Lotto leer ausgingen…

„Es gibt Momente da stellen sich die Weichen und selten, und selten von allein…“

Tage gibts, da ist alles Scheiße. Da zweifelt man am eigenen Lebensentwurf. War das alles nichts? Habe ich überhaupt mal irgendetwas richtig gemacht? Gibt es eine Rettung – so in der Zukunft? Natürlich kennt das fast jeder. Ich ganz besonders, die Stimmen in mir murmeln den ganzen Tag auf und ab und auf und ab. Und sie sagen mir unentwegt, dass alles, was ich tue, nicht gut genug ist. So geht das schon mein Leben lang. Es hat sich nicht viel geändert. Nur dass ich mit diesen Stimmen ziemlich alt geworden bin und irgendwie alles – wie schon immer – weitergeht.

Auf die Frage, wie ich zum Radio kam, kann ich eine kleine Geschichte erzählen, die gleichzeitig meine Theorie bestärkt, dass es ohnehin egal ist, was wir bewusst tun, um – wie es so schön heißt, vorwärts zu kommen. Wir können auch auf den „Zufall“ warten und diesen Zufall erkennen. Oder würdigen. Oder gar nichts tun. Es ist egal. So ein Zufall kommt in unser Leben. Und dieser Zufall trägt oft einen Namen. Meist den einer, nicht in unserem inner circle befindlichen Person. Es kann eine Person sein, die unser Leben umkrempelt, von der wir das nicht erwartet haben. Sie tritt in unser Leben. Und sie geht (oft) auch wieder. Sie stellt nur die Weichen. Das habe ich schon einige Male erlebt. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, nehme aber an, dass ich nicht die ganz große Ausnahme bin, sondern dass viele so etwas kennen. Es kommen plötzlich Menschen in unser Leben, die etwas für uns bewirken, das wir nicht für möglich gehalten haben.

Und es war ein Tag, an dem mein Leben, meine gescheiterten Lieben, meine noch mehr gescheiterten Arbeitsverhältnisse und überhaupt „alles“ mich der Verzweiflung anheimgegeben hatten. Mit einer Flasche Wodka lag ich auf meinem Bett und wollte mal wieder sterben. Eigentlich. Da rief eine entfernte Bekannte an, um sich zu erkundigen, ob ich wüsste, wo sich meine damals ziemlich beste Freundin Petra aufhielte. Ich wusste es natürlich nicht und sagte das auch. Fragte aber, was sie denn von Petra wolle. Die entfernte Bekannte teilte mir verschwörerisch mit, sie hätte Karten für „Die Stones“ für Petra, die sich diese doch so sehr gewünscht hätte. Aber sie könne Petra einfach nicht erreichen. Und die Zeit dränge. Übermorgen sei doch schon der Termin! „Willst Du vielleicht Stones-Karten?“ – Ich – abgetörnt durch mein 1990er Erlebnis mit den Stones im Olympia-Stadion in Berlin, bei dem ich Mick Jagger als kleines dürres Männchen weit weit vorn auf der Bühne herumspringen und so wirklich nur auf der Videoleinwand gesehen hatte – rief ins Telefon: „Gott bewahre! Ich will keine Stones! Ich will ein Praktikum oder so was ähnliches!“ – Die entfernte Bekannte sagte ungerührt: „Dann mach doch ein Praktikum bei uns!“ – Mir fiel ein, dass sie bei einem damals noch relativ unbekannten Radiosender arbeitete, der sich gerade erst gegründet hatte. „Meinst Du, das ginge, die würden mich nehmen?“ – Sie: „Warum nicht? Ich kümmere mich.“ Sagte es und legte auf. Ich vergaß das Gespräch schnell und widmete mich dem Weltschmerz und der Wodkaflasche. Ein paar Tage später klingelte wieder das Telefon. Sie gab mir einen Termin mit dem Radio-Senderchef. Ich fuhr hin. Schien alles richtig gemacht zu haben, bekam das Praktikum von einem Vierteljahr. Und – nach dem Vierteljahr – durfte ich als freie Mitarbeiterin dort weiterarbeiten. Es war der Beginn meiner Radio-Karriere, die 22 Jahre andauerte.

Was wäre heute mit mir, hätte ich die Stones-Karten gewollt. Ich wage es nicht zu denken… Oder spinne mir irgendwas zurecht. Wer weiß, vielleicht wäre ich jetzt Bundeskanzlerin… oder säße an der Kasse bei Lidl oder schriebe erfolglose Romane oder hätte einen reichen Mann geheiratet und züchtete Rosen. Tja, niemand weiß das so genau. Ich schon gar nicht.

(Überschrift nach einem Songtext von Hansi Biebl)

Foto: Anna – meine Enkelin – und ich – genau zu dieser Zeit.

Ich besitze die deutsche Tugend der heilsamen Ordnung nicht…

Alle Geschenke eingepackt. Knietief im Chaos. Überall Papier, Kartons, Tütchen, Cellophanhüllen, dazwischen ein Glas Erdbeerwein, Süßigkeiten, die ich nicht esse, der neue Laptop und zwei alte, Bürokram über Bürokram und Bücher und immer wieder Papier, ich sortiere, werfe weg und befinde mich im Arbeitszimmer, gleichzeitig Zimmer für alles, meine Mondlampe und ein Weihnachtsgesteck von Tante Anni leuchten und ich denke über das Leben nach. Weihnachten ist ein Geburtstermin. Denke nicht mehr über das Leben nach. Sondern über das Chaos. Kann aus Chaos selten Ordnung machen. Ein Defizit, das ich in diesem Leben nicht mehr ins Positive umkehren werde. Ich besitze die deutsche Tugend der heilsamen Ordnung nicht. Jedenfalls nicht jeden Tag. Meine österreichische Freundin, sehr ordentlich, um seelischen Beistand gebeten, meint lakonisch: Das ist nicht wichtig! – Ok, das ist nicht wichtig.